Politische Strategien nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit

Politische Strategien nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit

Organisatoren
Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa e.V. (KGKDS); Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V. (KGDP)
Ort
Herne
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.09.2011 - 18.09.2011
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Von
Marlene Klatt, GIZO Uni Gießen

In den letzten Jahren hat die Minderheitenfrage in den neuerstandenen Nationalstaaten Mittel- und Südosteuropas der Zwischenkriegszeit in zunehmendem Maße das Interesse der historischen Forschung gefunden. Sichtbar wurde vor allem, dass es bisher an vergleichenden Untersuchungen auf diesem wichtigen Themenfeld fehlt. Dieser Aufgabe stellte sich eine mit Referenten aus England, Österreich, der Schweiz, Polen, der Slowakei, Rumänien, Ungarn, Serbien und Deutschland besetzte Tagung, die vom 16. bis zum 18. September von der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa e.V. und der Kommission für die Geschichte der Deutschen in Polen e.V. in der Martin-Opitz-Bibliothek in Herne veranstaltet wurde. Sie stand unter dem Thema „Politische Strategien nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit“ und verfolgte dabei insbesondere die Tätigkeit von internationalen Einrichtungen, Minderheitenparteien und -verbänden. Dabei fanden die deutschen Minderheiten und deren Interaktionen in diesen Staaten besondere Berücksichtigung.

Bereits die Tatsache, dass beide Kommissionen gemeinsam tagten, stellt innerhalb der Historischen Kommissionen, die sich mit der Geschichte der Deutschen im östlichen Europa befassen, ein bemerkenswertes Novum dar.

Anlass für den Tagungsort war die Ehrung des langjährigen Leiters der Martin-Opitz-Bibliothek, Wolfgang Kessler, der in Kürze in den Ruhestand tritt. Als Mitglied beider Kommissionen ist er mit zahlreichen Arbeiten einschlägig ausgewiesen. Die Laudatio hielt HANS HECKER (Düsseldorf). Er würdigte Kessler als kritischen Wissenschaftler, der vielfältige methodische Ansätze verfolgt hat und dessen Verdienste um den Auf- und Ausbau der Martin-Opitz-Bibliothek nicht überschätzt werden können.

GERHARD SEEWANN (Pécs / Fünfkirchen) stellte in seinem Einführungsvortrag Leitfragen der Tagung vor. Im Mittelpunkt stand die Frage des Loyalitätsverhältnissses der jeweiligen Minderheit zu den Patronagestaaten, also den sich nach dem Ersten Weltkrieg in Europa nationalisierenden Staaten Ostmittel- und Südosteuropas. Es ging dabei vor allem um die Ermittlung der politischen Strategien der Minderheiten im Dreiecks- und Spannungsverhältnis zwischen Patronagestaat und Heimatstaat. Dabei sollte aufgezeigt werden, welche ethnopolitischen Konflikte zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft ausgetragen wurden, welche Akteure mit welchen Interessenlagen und Zielsetzungen in den jeweiligen Staaten agierten, welcher strategischen Mittel sie sich hierzu bedienten, wie sich das Verhältnis wechselseitig gestaltete und nicht zuletzt, welche Wirkungen es erzielte.

Die Referenten des ersten Blocks beschäftigten sich mit der internationalen Ebene und behandelten europäische Institutionen und Verbände, die sich als für den Minderheitenschutz verantwortlich sahen. FERENC EILER (Budapest) gab in seinem Vortrag Einblicke in die partielle Zusammenarbeit deutscher und ungarischer Minderheitenpolitiker am Europäischen Nationalitätenkongress, wobei er aufzeigte, dass dieser aufgrund unterschiedlicher grundsätzlicher Interessen enge Grenzen gesetzt waren. JOHN HIDEN (Glasgow) stellte den Verband der deutschen Minderheiten in Europa vor und zeichnete dessen Entwicklung von einer anfänglichen Interessenvertretung der deutschen Minderheiten in Europa zum politischen Werkzeug des nationalsozialistischen Staates nach, die vor allem über nationalsozialistische Minderheiten-Politiker transportiert wurde. STEFAN DYROFF (Bern) präsentierte sodann eine Auswertung des Umgangs einzelner nationaler Minderheiten mit der Möglichkeit der Völkerrechtsbeschwerde. Dabei machte er deutlich, dass die Minderheiten als aktiv Handelnde zum einen das Rechtsmittel der Beschwerde angesichts qualitativ abweichender Organisationsgrade sehr unterschiedlich nutzten und zum anderen vor dem Hintergrund möglicher negativer innenpolitischer Rückwirkungen sowohl innerhalb ihrer Minderheit als auch gegenüber dem Gaststaat durchaus kritisch abwägten.

Die folgenden ReferentInnen nahmen sodann mit den Beispielen des SHS-Staates, dem Vorläufer Jugoslawiens, und Ungarns die nationale Ebene in den Blick. MARTIN MOLL (Graz) stellte dar, wie die Nationalisten unter den Vertretern der deutschen Minderheit im SHS-Staat den Völkerbund für die Wahrnehmung ihrer Interessen instrumentalisierten, und wie sie zunehmend von außen beeinflusst die politischen Strategien deutscher Minderheitsorganisationen im SHS-Staat prägten. HANNA KORZIŃSKA-WITT (Halle) widmete sich einem kommunalen Fall und zeichnete an einem Beispiel von konfliktreichen Verhandlungen über Beteiligungen von Juden an politischen Ämtern im Stadtparlament Krakaus die Rahmenbedingungen und Strategien politischen Handelns in der Zusammenarbeit von Juden und Nichtjuden auf städtischer Ebene nach.

NORBERT SPANNENBERGER (Leipzig) gab in seinem Vortrag einen Einblick in die inneren politischen Auseinandersetzungen der Deutschen in Ungarn, wobei er darauf hinwies, dass bei der Betrachtung der jeweiligen Situation, insbesondere bei der nationalen Radikalisierung einzelner Gruppen, besonders auf die jeweiligen politischen Akteure der Minderheiten zu achten ist. ZORAN JANJETOVIĆs (Belgrad) Beitrag über die Politik der Deutschen Partei im SHS-Staat stellte eine Ergänzung zu Molls Vortrag dar und gab nähere Einblicke in die politischen Strategien innerhalb der heterogenen deutschen Minderheit, die gegenüber dem Gaststaat von kurzfristigen Erfolgen, aber noch mehr von politischen Rückschlägen gekennzeichnet waren. Mit dem Vortrag von NATALI STEGMANN (Regensburg) über den Bund der Kriegsverletzten in der Tschechoslowakei und dessen Rolle auf der CIAMAC, der Internationalen Konferenz der Kriegsverletzten und Hinterbliebenen, verließ die Tagung das territoriale Arbeitsgebiet der beiden Kommissionen. In der Agitation dieses Verbandes standen die Forderung nach Frieden und soziale Fragen im Vordergrund. Diese Gemeinsamkeit in der Zielsetzung führte zu geschlossenem Auftreten des Bundes der Kriegsverletzten mit tschechoslowakischen Organisationen gegenüber dem Staat. Nicht zu klären war dabei, inwieweit der Bund der Kriegsversehrten in die Politik der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei eingebunden war. Der nächste Vortrag von MICHAL SCHVARC (Bratislava) thematisierte die Strategie der Deutschen Partei in der Slowakei in der Phase von Oktober 1938 über den Wiener Schiedsspruch bis zur Gründung des slowakischen Staates im Frühjahr 1939. Dargelegt wurde, dass die Politik der Deutschen Partei gegenüber der slowakischen Führung sich zwischen Zusammenarbeit und Opposition bewegte und vom Erreichen von Zugeständnissen und von Rückschlägen gekennzeichnet war. OTTMAR TRAŞCÃ (Klausenburg) zeigte auf, in welchem politischen Spannungsfeld zwischen Gast- und Heimatstaat sich die deutsche Minderheit in Rumänien befand, die zur inneren Spaltung und sogar zum Eingreifen des NS-Staates von außen führte. Den letzten Vortrag der Tagung hielt INGO ESER (Köln). Am Beispiel des in der Minderheitenpolitik besonders sensiblen Bereichs des Schulwesens ging er den Möglichkeiten von bildungspolitischer Zusammenarbeit mit anderen Minderheiten in Polen nach. Hierbei trat zutage, dass Versuche zur Kooperation kurzfristig und nicht selten aufgrund negativer politischer Folgen ambivalent zu bewerten waren, zumal für das deutsche Schulwesen in Polen de facto eine enge Wechselwirkung mit der Situation des polnischen Schulwesens im Deutschen Reich bestand.

In der Schlussdiskussion wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass in jedem einzelnen Fall darauf zu achten sei, ob von einer Minderheit oder mehreren die Rede sein müsse, die abhängig von der politischen Struktur des Gaststaates und dessen Verhältnis zu der Minderheit unterschiedliche Ziele und damit gegebenenfalls verschiedene Strategien verfolgten. Der wachsende Einfluss des erstarkenden NS-Staates auf die deutschen Minderheiten müsse in jedem Fall beachtet werden. Hierzu sei jedoch eine breitere heterogene Quellenlage vonnöten. Deutlich wurde auch, dass Minderheiten-Konzeptionen oftmals kein Ergebnis des Ersten Weltkriegs waren, sondern bereits zuvor als politische Strategien entwickelt wurden. Nicht zuletzt ist als ein wesentliches Ergebnis dieser Tagung festzuhalten, dass die Frage der Behandlung von Minderheiten nach wie vor ein aktuelles Thema ist und dass das Verhältnis von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten eines ständigen politischen Aushandlungsprozesses bedarf.

Konferenzübersicht:

Hans Hecker (Düsseldorf): Laudatio auf Wolfgang Kessler

Gerhard Seewann (Pécs/Fünfkirchen): Mehrheits- und Minderheitsstrategien und die Frage der Loyalität

Moderation: Mathias Beer (Tübingen)

Ferenc Eiler (Budapest): Geheime Allianz - mit Vorbedingungen. Zusammenarbeit der deutschen und ungarischen Minderheitenpolitiker am Europäischen Nationalitätenkongress

John Hiden (Glasgow): Der Verband der deutschen Minderheiten in Europa, 1922-1936: Von der Verteidigung der deutschen Minderheiten zum Werkzeug des Nationalsozialismus

Stefan Dyroff (Bern): Völkerbundsbeschwerden als Politikmittel. Deutsche, ukrainische und ungarische Minderheiten in Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien im Vergleich

Martin Moll (Graz): When nationalists go international… Die versuchte Internationalisierung der Rechtsstreitigkeiten der deutschen Volksgruppe im und gegen den SHS-Staat (Jugoslawien) in den 1920er-Jahren

Moderation: Ingo Eser (Köln)

Hanna Kozińska-Witt (Halle): Lokale Arenen der Aushandlung und der Kompromissschließung? Juden und Nicht-Juden im Krakauer Stadtparlament

Norbert Spannenberger (Leipzig): Emanzipation durch Ethnizisierung der Politik? Die Deutschen in Ungarn 1918-1939

Moderation: Isabel Röskau-Rydel (Krakau/Kraków)

Zoran Janjetović (Beograd/Belgrad): Die Partei der Deutschen im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Strategie und Praxis

Natali Stegmann (Regensburg): Die Teilhabe des Bundes der Kriegsverletzten in der Tschechoslowakei an der CIAMAC (Conférence Internationale des Associations de Mutilés et Anciens Combattants)

Moderation: Harald Heppner (Graz)

Michal Schvarc (Pressburg/Bratislava): Zusammenarbeit oder Opposition? Politische Strategie der Deutschen Partei im autonomen Landesteil Slowakei (Oktober 1938 – März 1939)

Ottmar Traşcă (Cluj/Klausenburg): Doppelte Loyalität: Die deutsche Minderheit Rumäniens 1933-1940

Ingo Eser (Köln): Das deutsche Schulwesen in Polen: Ansätze, Chancen und Grenzen einer bildungspolitischen Zusammenarbeit mit anderen Minderheiten

Moderation: Mathias Beer (Tübingen), Stefan Dyroff (Bern)

Abschlussdiskussion


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Deutsch
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