Persoenliche Zeit - historische Zeit

Persoenliche Zeit - historische Zeit

Organisatoren
Jahrestagung 2003 des ungarischen Vereins für Sozialgeschichte (István-Hajnal-Kreis)
Ort
Koszeg, Ungarn
Land
Hungary
Vom - Bis
29.08.2003 - 30.08.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Juliane Brandt, Brandt

Zu dem Thema "Persönliche Zeit - historische Zeit" fand am 29. und 30. August in Koszeg die Jahrestagung 2003 des István-Hajnal-Kreises statt. In diesem Jahr wurde die Tagung vom Komitatsarchiv Vas ausgerichtet. Ein wichtiges Anliegen des 1986 gegründeten Vereins ist es, theoretische und methodische Fragen der Sozialgeschichte zu diskutieren und sich mit neuen Strömungen in der Sozialgeschichte und ihrem disziplinären Umfeld auseinanderzusetzen. Besonderes Augenmerk richtet der Verein darauf, den Austausch zu diesen Fragen zwischen Historikern an den Universitäten und den Forschungsinstituten der Akademie der Wissenschaft (AdW) bzw. Mitarbeitern der ungarischen Archive und Museen zu befördern. Neben systematisierenden Vorträgen und Diskussionen erhalten auch die Suche nach jeweils besonders geeigneten Quellen und die Frage der Aussagefähigkeit verschiedener Quellentypen bzw. lokaler Bestände breiten Raum. Seit der ersten Zwischenbilanz 1996 hatte sich der Verein auf seinen Tagungen u.a. mit der Mentalitätsgeschichte, der Mikrogeschichte, mit Feiertag und Erinnerung und mit der Geschlechtergeschichte befaßt. Unter der Überschrift "Persönliche Zeit - historische Zeit" sollten nun vermeintliche Selbstverständlichkeiten der Historiographie hinterfragt werden.

Die Anregung zur Beschäftigung mit diesem Thema entstammte durchaus verschiedenen Kontexten. Zum einen haben die "linguistische Wende", die Konzepte von Konstruktion und Dekonstruktion sowie aktuelle Diskurstheorien das Bewußtsein für den Konstruktcharakter jeglicher Geschichtsentwürfe geschärft. Nachbardisziplinen wie Ethnologie und Volkskunde haben zudem die lange Dauer und Wirkungsmächtigkeit nichtlinearer Zeitvorstellungen außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Altertumswissenschaften vor Augen geführt. (Konkreten Anlaß für die Themenwahl hatte u.a. eine 2000 in Budapest präsentierte große Ausstellung des Museums für Volkskunde "Idoképek - Images of Time" gegeben.) Weiter haben der Untergang des Kommunismus wie das Ausreifen der Möglichkeiten der Moderne die Diskussion über Periodisierung und Epochengrenzen angeregt. Daß zeitgeschichtliche Forschungen zu den sozialistischen Gesellschaften und den Diktaturen des 20. Jahrhunderts bereits seit geraumer Zeit durchgeführt werden, hat den Diskussionsbedarf auf diesem Gebiet eher vergrößert als abgebaut. Wiederauflebende, vergessen geglaubte Stereotype und Deutungsmuster lassen zudem nach dem Nebeneinander von Gegenwärtigem und Vergangenem, der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen fragen. Auf der Ebene der Erfahrung dieser als "Geschichte" konzipierten Vergangenheit durch das Individuum ist insbesondere die zeitgeschichtliche Forschung nicht nur mit der unterschiedlichen individuellen Ausfüllung jeweils gleicher Zeiträume in der Erinnerung konfrontiert, sondern auch mit der divergierenden Gliederung dieser individuellen Zeit der Zeitzeugen und den spezifischen Problemen der Quellenkritik der in den neuen Medien (Ton, Video) fixierten Dokumente.

Diese Fragen sollten in mehreren Sektionen diskutiert werden. Einleitend wurde der Frage der "Zeit in den Nachbardisziplinen" (1) nachgegangen. Es folgten Panels zu den "zeitlichen Dimensionen der Historiographie" (2), der "provozierenden Vergangenheit oder der Gegenwart in der Vergangenheit" (3), der "zeitlichen Binnenstruktur der Quellen und der Perspektive des Historikers" (4) sowie (5) der Frage der Epochenbildung in Makrogeschichte bzw. Erinnerung und Oral History. (Leider war es wegen der parallelen Durchführung der Panels nicht möglich, alle Beiträge zu Kenntnis zu nehmen. Ihrer nachträglichen Würdigung stand im Wege, daß nicht alle Referenten schriftliche Fassungen abgaben, und nicht immer in privaten Diskussionen ein Eindruck vom Anliegen des Referenten gewonnen werden konnte.)

Mit der Frage nach der "Zeiterfahrung des Menschen" in der Relation von biologischer, natürlicher und historischer Zeit eröffnete Ágnes Losonczi (Soziologisches Institut, AdW) die Plenarsitzung. Aus ihren Arbeitsfeldern, der Musiksoziologie, der Mobilitätsforschung und der Gesundheitssoziologie, stellte sie eine Reihe von Beispielen vor, die geeignet waren, Aspekte des Themas in ihrer sozialen Bedingtheit zu beleuchten. Insbesondere betrachtete sie die Beschleunigung technischer Prozesse und Alltagsvollzüge in der Moderne und die Verschiebung des Orientierungsbezugs von der Vergangenheit auf die Zukunft, wie er seit dem späten 19. Jahrhundert zu beobachten ist.

Zsolt K. Horváth (Paris/ Universität Pécs) untersuchte homogene, kontinuierliche bzw. lineare Zeitkonzepte bzw. neue Modelle, die diese in der aktuellen geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskussion ablösen. Er verfolgte, wie der Umgang mit der "Zeit" in der Geschichtswissenschaft vor allem seit dem 19. Jahrhundert problematisiert wurde, bis diese in der Historiographie und Soziologie schließlich selbst mit Blick auf die Lebenssequenz des Individuums als polymorpher Begriff betrachtet wurde. Horváth plädierte dafür, von Foucaults Konzept einer allgemeinen Geschichte - gegenüber einer globalen - auszugehen und "Raum" als den Raum der Erstreckung verschiedenen Geschehens zu betrachten. Dann könne "Zeit" ausgehend von der Parallelität "eigener Zeit"(en) der Individuen verstanden werden, was es ermögliche, auch die Aporien der zeitgenössischen Begriffsbildung von "Zeit" zu diskutieren.

Márton Szilágyi (ELTE Budapest/ Universität Wien) thematisierte Zeit als Problem in der Literaturwissenschaft. Er untersuchte, wie aus unterschiedlichen Ansätzen der Literaturbetrachtung spezifische Periodisierungen bzw. Epochenbestimmungen resultieren, und wie deren Grenzen einander vielfach widersprechen. Literaturgeschichtliche Darstellungen rekurrieren oft auf Epocheneinteilungen der Geschichte, ohne unbedingt den diesen zugrundeliegenden erkenntnistheoretischen Ansatz zu hinterfragen und in seiner Umsetzbarkeit auf den eigenen Gegenstand zu überprüfen. Ein besonders prägnantes Beispiel ist die Betrachtung von 1945 als Epochenwende, die in der ungarischen Literaturgeschichtsschreibung von der politischen Geschichte her weitgehend übernommen wurde, jedoch mit Blick auf eine Literaturgeschichte als Geschichte literarischer Konzepte mehr als fragwürdig ist. Entwicklungstheoreme in der Literaturwissenschaft, für die der Marxismus nur ein Beispiel ist, konnten solche Gleichsetzungen politischer, gesellschaftlicher und kultureller Epochengrenzen legitimieren. Innerhalb der Literaturwissenschaft wiederum ließ Szilágyi die Bestimmungen von Entwicklungsphasen und Zeitaltern Revue passieren und betrachtete die Konsequenzen, die sich aus der Akzentsetzung auf Literaturgeschichte als Geschichte gestalterischer Konzepte, oder aber als Geschichte von Rezeptionsprozessen, von Institutionen, oder als Geschichte des Umgangs mit Literatur ergeben.

Zoltán Fejos (Museum für Volkskunde Budapest) behandelte die ethnographische Gegenwart als Problem des Zeitkonzeptes. Die Ethnographie hatte ihren Gegenstand lange als in einer ewigen Gegenwart existierend betrachtet, ein Ansatz, der in den letzten Jahrzehnten jedoch allmählich aufgegeben wurde. Wesentliche Ursachen für die frühere Betrachtungsweise erblickte Fejos in der Konzentration auf Strukturen, die nicht tatsächlich als zeitlos betrachtet, jedoch außerhalb ihres zeitlichen Kontextes dargestellt wurden. Ähnliche Folgen hatte das besondere Interesse, mit dem die spezifische Zeitvorstellung der "anderen" im Unterschied zur "eigenen" betrachtet wurde.

Panel 2 widmete sich den zeitlichen Dimensionen der Geschichtsschreibung. Péter Szabó (Károli Univ. Budapest) zeigte u.a. anhand kunstgeschichtlicher Beispiele, in welcher Gliederung die volkserzieherische, moralisierende Literatur der Reformationszeit in Europa den menschlichen Lebenszyklus auffaßte. Normative Konzepte einer moralisch definierten Stufenfolge, die der Referent vorstellte, ignorierten gegebenenfalls die tatsächliche Dauer individuellen Lebens zugunsten einer noch ältere Zahlenspekulationen aufgreifenden Konzipierung: Erst ein im Extremfall hundertjähriger Zyklus durchlief alle argumentativ nötigen Stadien. Wie die Zeitgenossen in ihrer meist weitaus kürzer bemessenen Lebensdauer diese Stadien durchschreiten sollten, oder was der vorzeitige Abbruch bedeutete, blieb damit offen.
Dem Begriff der "Sattelzeit" als ideengeschichtlichem Problem und anthropologischem Konzept ging Károly Halmos (Eötvös Loránd University (ELTE) Budapest) nach. Ihn interessierte insbesondere die zeitgebundene Herkunft des Terminus, der dann, gelegentlich parallel geführt mit anderen Begriffen wie dem der Kulturschwelle, dessen Karriere als offensichtlich ausdrucksstarke Bezeichnung für die Umbruchphase zwischen ca. 1750 und 1900 begann.
Tibor Frank (ELTE Budapest, z.Z. Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin) analysierte die Auffassung von Zeit und Raum in der Kultur der USA. Detailliert führte er vor, wie aus spezifischen sozialen Erfahrungen - von der Eroberung des Westens über die Fabrikproduktion bis zur Strukturierung großstädtischen Alltags - sowie ideengeschichtlichen Traditionen, insbesondere den Weichenstellungen des Puritanismus, eine spezifische Weise der effizienzorientierten Nutzung von Zeit entstand. Parallel hierzu entstand ein Konzept von Zeit als schnell verrinnendem Gut, das Rechenschaft über ihre Nutzung heischt. Hervorzuheben ist, daß hier nicht auf ein allgemeines industriekapitalistisches Modell abgehoben, sondern stets auf die Unterschiede zwischen Europa und den USA verwiesen wurde.
Andere Themen des Panels waren das Zeitkonzept des indischen Weda (Csilla Szabó, Buddhistisches Haus Budapest), der Gebrauch von Präfigurationen in historiographischen Werken.( Péter Apor, Central European University (CEU) Budapest) und das Braudelsche Modell der "longue durée, für dessen historiographische Nutzbarkeit Gábor Czoch (Teleki-Institut und Redaktion "Korall") plädierte.

In der zeitgleich stattfindenden Sektion 3 wurden Phänomene der Verschränkung von Vergangenem und Gegenwärtigem untersucht. Ein erstes Fallbeispiel lieferte der Verlauf der gregorianischen Kalenderreform in der Zips, einem im 16. Jahrhundert durch konkurrierende konfessionelle und territorialherrschaftliche Zuständigkeiten gespaltenen Gebiet. Wie Marcell Sebok (CEU Budapest) belegte, ließen in diesen beiden "Koordinatensystemen" verankerte Ansprüche Entscheidungen über die Definition von Zeit von einer anfangs alltagspraktisch begriffenen zu einer machtpolitischen Frage werden. Diese wurde schließlich durch einen Dritten - die 1600 die meisten Kontrahenten hinwegraffende Pest - zugunsten der gregorianischen Partei und ihrer Definition entschieden.

Den "Zyklen des Vergessens" widmete sich Zoltán Tóth (Universität Miskolc) und untersuchte Historiographie selbst als einen Prozeß in der Zeit. In der europäischen Historiographie resultierten seit der französischen Revolution Einsichten in die Eigenart historischen Wissens immer wieder in neuen Fragestellungen, deren Bearbeitung in neue methodologische Konfrontationen eingebunden wurde. Die Konzentration auf diese neu formulierten Herausforderungen habe zum "Vergessen" jener Einsichten der Vorgänger zugunsten neuen "Wissens" wie zum "Wiederentdecken" von früher bereits einmal zugänglich gewordenen Einsichten geführt. Diese immer wieder neu anlaufende Entwicklung prägte in der Sicht des Referenten auch den Umgang der ungarischen Sozialhistoriker mit den europäischen Vorarbeiten zu ihren gegenwärtigen Fragestellungen - und mindestens ebenso den mit ihren ungarischen Vorläufern und Wegbereitern seit 1900.

Die Sozialdemokratie in Ungarn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stritt über angemessene Propagandamethoden der Arbeiterbewegung und den Umgang mit Tradition und Geschichte darin. Wie Boldizsár Vörös (Hist. Inst., AdW) vortrug, stand der Berufung auf Traditionen und auf Vermächtnisse möglicher "Vorkämpfer" ein "wissenschaftlicher" Ansatz gegenüber, nach dem sich sozialdemokratische Propaganda auf den "objektiven", weil wissenschaftlich fundierten Entwurf einer sozialistischen Zukunft zu beschränken habe. Mit dieser divergierenden Betonung von Zeitperspektiven verquickt war die Debatte darüber, ob es legitim sei, erfolgreiche propagandistische Formen anderer Institutionen wie der Kirche aufzugreifen, um eigene Anliegen in die Massen der potentiellen Anhänger zu tragen.

Weitere Vorträge im Panel behandelten divergierende Interpretationen und Wertungen von Schriftstellern (Orsolya Völgyesi, AdW), den Bezug von Tradition und Bestimmung der eigenen Epoche in historiographischen Werken zum ungarischen Judentum (Csaba Csóti, Komitatsarchiv Somogy), die Wirkung antijüdischer Überlieferungen in Wahlkämpfen um 1900 (Erno Cseko, Komitatsarchiv Gyor-Moson-Sopron) und den Wandel von Identitätskonzepten einer Mikroregion (Tibor László Buskó, ELTE Budapest).

Sektion 4 ging am zweiten Tag der Frage der Zeit in den Quellen und der Zeit des Historikers nach. Gabriella Erdélyi (Historisches Institut, AdW.) rekonstruierte, wie in Prozeßdokumenten aus dem 17. Jahrhundert Zeugen, Richter sowie der Notar Ereignisse zeitlich bestimmten. In diesen Rückblicken auf insgesamt mehrere Jahrzehnte umfassende Vorgänge nahm der Notar als derjenige, durch dessen Filterung die Stellungnahmen schließlich festgehalten wurden, eine besondere Stellung ein. Persönliche Zeit (Lebensalter, Wendepunkte des Lebenslaufs) bzw. lokale Referenzen (Wechsel des Grundherren) prägten in vielen vorgestellten Befunden die bäuerlichen Angaben. Lange historische Zeiträume innerhalb des lokalen Rahmens blieben in diesem Bezugsfeld nicht vorstellbar. Dies unterschied die Zeitvorstellung der Zeugen vom kirchlichen Referenzrahmen der Obrigkeit. Ähnliche Fragen trug Julianna Örsi (Finta-Museum Túrkeve) an bäuerliche Zeugenaussagen aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert heran. Sie dokumentierte vorrangig, wie lokale Ereignisse zeitlich fixiert wurden, und aus welchen Gründen (Adelsnachweis, Nachweis des traditionellen Bestehens einer protestantischen Kirche) Zeugenaussagen mit zeitlicher Referenz gesammelt wurden. Anhand von Gyorer bzw. Debrecener Beispielen prüften József Horváth (Komitatsbibliothek Gyor) und Mónika Mátay (ELTE Budapest) die Deutungsmöglichkeiten, die solche Quellen mit Blick auf den gesamten Lebensverlauf des Individuums sowie die zeitliche Struktur des lokalen Alltags geben. Die Abfassung dieser Quellen zu einem bestimmten Zeitpunkt, dessen Perspektive das Dokument beherrscht, erwies sich dabei als methodologische Herausforderung. Insgesamt spannten beide Vorträge den Bogen von der westungarischen katholischen bis zur ostungarischen reformierten Kultur und umfaßten Fälle vom 17. (Horváth) bis zum 18.-19. Jahrhundert (Mátay). In günstigen Fällen konnte die Auswertung durch andere Quellen ergänzt und überprüft werden. In Gyor war dies allerdings vielfach nicht möglich, weil es vor allem keine alten Gyorer Geburts- und Sterbematrikel gibt. In der zeitlichen Kontrastierung der in großer Zahl untersuchten Fälle wurden sowohl die Auswirkungen sozialstruktureller und soziokultureller Veränderungen wie auch die Permanenz einiger Bezüge, u.a. des Dominierens der persönlichen Zeit, und der Unbestimmtheit zeitlicher Referenzen zu anderen Personen (bei gleichzeitiger rechtlicher bzw. normativer Präzision der Texte) deutlich.

Judit Knézy (Landwirtschaftsmuseum Budapest) sprach über bäuerliche und Dienstboten-Werte in den Jahren beschleunigten Lebens zwischen 1945 und 1970. Der Vortrag vermittelte interessante Einsichten in die Brüche, die gesellschaftspolitische und sozialstrukturelle Veränderungen im Leben der Individuen aus Mittel- und Unterschicht ausgelöst hatten. Oft wurden diese Veränderungen zwar unter Berufung auf Interessen der Betroffen, doch mit Gewalt und gegen die betroffenen Individuen durchgesetzt. Als Referenzrahmen dieser Veränderungen fungierte in dem Vortrag jedoch letztlich insgesamt die "beschleunigte Zeit" jener Periode politisch wie sozioökonomisch induzierter Umstrukturierung.

Andere Vorträge auf dem Panel waren im Detail sehr instruktiv, vermittelten jedoch eher Einsichten in die Aussagefähigkeit der untersuchten Quellen für sozialstrukturell interessierte Fragestellungen als über die in dem Panel anvisierten zeitlichen Lebenszusammenhänge und Wahrnehmungsstrukturen. Lajos Kemecsi (Museum Tata) diskutierte, wieweit Nachlaßverzeichnisse aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert Rückschlüsse auf ganze Lebensverläufe und deren Gliederung gestatten. Deutlich wurde jedoch hauptsächlich die soziale Aussagefähigkeit der Verzeichnisse verschiedenen Zuschnitts sowie der Verzeichnistypen selbst. Ähnliches gilt für den Vortrag Péter Granasztóis (Museum für Volkskunde, Budapest) über Inventarien aus Marktflecken im gleichen Zeitraum. Da es sich meist um Nachlaßverzeichnisse handelt, bilden sie, wie deutlich wurde, auch nicht tatsächlich eine komplette Gesellschaft, sondern die Gesellschaft der Alten und sehr Alten mit ihren funktionell eingeschränkten Hauswirtschaften ab. Ebenso machte die Analyse von Bittgesuchen an das Erzbistum Kalocsa aus den 1930er Jahren, die Péter Hámori (Pázmány-Universität) vornahm, eher die Bedürfnislage und Argumentationsstrategie der Bittsteller als Zeitbezüge ihres Lebens deutlich. -

Panel 5 ging der Definition von Epochen und zeitlichen Gliederungen in individuellen Erinnerungen und Lebenszeugnissen vom 18. bis 20. Jahrhundert nach. Die in diesem Zeitraum weitaus häufiger werdenden Tagebücher und Erinnerungen auch von Menschen der Mittel- und Unterschichten, sowie Ergebnisse von Befragungen und Dokumentationen mündlicher Erinnerungen liefern vielfältige Quellen für derartige Untersuchungen. Zeitperspektiven in den Tagebüchern eines Adligen bzw. eines Studienanfängers des Jahres 1914 eruierten József Hudi (Ref. Kirchenarchiv Pápa) und György Kövér (ELTE Budapest). Verschiedene Varianten von Lebensläufen eines kommunistischen Funktionärs der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ließen Éva Standeisky (1956-er Institut Budapest) nach Eckpunkten des persönlichen Lebens und deren Umorganisation in den Narrativen der Organisation fragen. Vilmos Gál ging der Frage nach, wie in den mündlichen Erinnerungen eines Angestellten aus dem 20. Jahrhundert Familiengeschichte und individuelle Geschichte konzipiert wurden. Andere Beiträge untersuchten Zeitperspektiven in Außen- und Innensicht auf einen Lebenslauf (Csaba Szabó, Staatsarchiv Budapest), schichtenspezifische Zeitkonzepte in der Narration von Lebensläufen (Eszter Zsófia Tóth, Historisches Institut, AdW), mit Organisationsgeschichte und Erinnerung (Orsolya Karlaki, Institut für Politikgeschichte), sowie Aspekten der Jugendkultur der siebziger Jahre (Sándor Horváth, Historisches Institut, AdW).

Die Vorträge vermittelten einen Eindruck von der Breite der Ansätze und dem Spektrum der Forscher, die das Profil der Sozialgeschichte in Ungarn bestimmen bzw., in Nachbardisziplinen arbeitend, mit ihr in Austausch stehen. Wieder waren auch viele Nachwuchswissenschaftler anwesend, mehrere Beiträge stellten Ergebnisse oder Zwischenergebnisse von Dissertationsprojekten vor. Neben den das Rahmenthema ausleuchtenden Referaten waren, wie auch in den vorigen Jahren, eine Reihe durchaus interessanter, aber nicht unbedingt auf das Thema abgestimmte Beiträge zu hören. Auch dies kommt freilich Klärungsprozessen im Fach zugute: Wie die große Zahl von Diskussionsteilnehmern aus dem ganzen Land demonstrierte, die überwiegend über den gesamten Zeitraum der Tagung anwesend waren, hat sich die Form (Klausur in der "Provinz") bewährt und die Tagungen sind zu einem Kristallisationspunkt für Austauschprozesse geworden, die in dem teilweise heterogenen Vortragsprogramm nur bedingt greifbar werden. - Die zu Aufsätzen erweiterten Vorträge wird ein Tagungsband dokumentieren.


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