„Knowledge in Flux“: Wissenskulturen und Diskursivität des Wissens angesichts von Differenzierungs-, Dynamisierungs- und Transnationalisierungsprozessen

„Knowledge in Flux“: Wissenskulturen und Diskursivität des Wissens angesichts von Differenzierungs-, Dynamisierungs- und Transnationalisierungsprozessen

Organisatoren
Herder-Institut Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.09.2011 - 17.09.2011
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Von
Jan Arend, Lehrstuhl für Geschichte Ost- und Südosteuropas, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Wissen“ wird in einer Reihe von Sozial- und Geisteswissenschaften zunehmend als erkenntnisleitende Kategorie und als Untersuchungsobjekt entdeckt. Die diesjährige Sommerakademie des Herder-Instituts, die vom 12.9.2011-17.9.2011 in Marburg unter der Leitung von Alexandra Schweiger (Marburg) und Justyna A. Turkowska (Marburg) stattfand, nahm dies zum Anlass aus der Perspektive verschiedener Disziplinen und in interdisziplinärer Diskussion nach Rolle, Prägung und Transfer von Wissen in unterschiedlichen Gesellschaften, Medien und historischen Epochen zu fragen. Der gemeinsame Bezug auf den - in den einzelnen Beiträgen freilich unterschiedlich ausgedeuteten - Begriff „Wissenskultur“ erleichterte eine Diskussion zwischen Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen.1 Die Sommerakademie führte Nachwuchswissenschaftler/innen aus den Bereichen der Soziologie, Geschichtswissenschaften, Sprach- und Literaturwissenschaften, Ethnologie und Anthropologie zusammen.

Die Tagung wurde durch einen Vortrag von PETER HASLINGER (Marburg/Gießen) eröffnet, der mit Blick auf Ostmitteleuropa aus historischer Perspektive nach dem analytischen Potential des Wissensbegriffs für die Erforschung mehrsprachiger Gesellschaften fragte. Haslinger hob die Bedeutung von semantisch als „Wir-Wissen“ aufgeladenen Wissensbeständen in den ethnisch, national und sozial heterogenen Gesellschaften des ostmitteleuropäischen Raumes hervor. Dabei betonte er die Rolle von Sprache, der insbesondere im Zuge der Nationalisierung der Gesellschaften Ostmitteleuropas seit ungefähr der Mitte des 19. Jahrhunderts wachsende Bedeutung als Marker und Medium von Gruppenwissen zukam. Doch die Produktion von reinem, von äußerlichen „Verunreinigungen“ freiem Gruppenwissen sei ein Anspruch geblieben, der selten eingelöst wurde. In den 1880er- und 1890er-Jahren habe die „Utopie der nationalen Wissenschaft“ scheinbar funktioniert, während in den Folgejahrzehnten Tendenzen der Internationalisierung überwogen hätten.

An diesem Punkt knüpfte der Vortrag von JAN SURMAN (Berlin) an, der die Entstehung von vielfach puristisch erscheinenden nationalen Wissenschaftssprachen im 19. Jahrhundert behandelte. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer sprach- und wissenschaftsphilosophischer Diskussionen beleuchtete Surman anhand von Beispielen aus dem östlichen Europa die Übersetzung wissenschaftlicher Begriffe zwischen nationalen Wissenschaftssprachen. Seine Überlegungen mündeten in die These, dass im Rahmen puristischer Sprachentwürfe zunehmend nach außen abgeschlossene Bedeutungssysteme entstanden, die mit dem Semiotiker Jurij Lotman als Semiosphären bezeichnet werden könnten.

Dem Phänomen eines sprachlich markierten „Wir-Wissens“ war auch der Vortrag von TATIANA BOGOMOLOVA (St. Petersburg) gewidmet. Sie sprach über den gegenwärtigen Sprachwandel bei den Sorben und verband dabei eine soziolinguistische mit einer wissenstheoretischen Perspektive. Basierend auf Interviews arbeitete sie bestimmte Hintergrundüberzeugungen ihrer sorbischen Befragten in Bezug auf ihre als gefährdet erscheinende Minderheitensprache heraus. Es dominierte laut Bogomolova die Perspektive auf Sprache als ein die ethnische Identität verbürgendes Wissen als „Kulturgut“.

JULIA FÖRSTER (Braunschweig) behandelte am Beispiel von jemenitischer Bildungsmedien (insbesondere Schulbüchern) die Konstruktion eines nationalen Wir-Wissens in Schulen. Sie zeigte, wie sich seit den 1930er-Jahren bis zur Gegenwart die staatlich propagierten nationalen Identitätsangebote veränderten. Der Jemen stelle, so Förster, aufgrund der zäsurenreichen politischen Geschichte, sowie der Heterogenität und Persistenz nichtstaatlicher Loyalitäten seiner Bevölkerung einen interessanten Fall für eine Untersuchung der Versuche nationaler Identitätsbildung „von oben“ dar. Besonders betonte Förster den Einfluss transnationaler Akteure, zum Beispiel von Beratern aus der DDR im Südjemen während der sozialistischen Phase.

Mit dem Gruppenwissen von wissenschaftlichen Kollektiven behandelte JAN AREND (München) einen anderen Aspekt der Konstruktion von „Wir-Wissen“. Er zeigte am Beispiel der Bodenkunde, einer seit den 1870er-Jahren zunächst in Russland entstehenden naturwissenschaftlichen Disziplin, wie Untersuchungsgegenstände als „Gegenstandsikonen“ die Funktion eines vielfach visuell reproduzierten „Markenkerns“ für Disziplinen erfüllen können. Ähnlich wie der Benzolring in der organischen Chemie und der Froschschenkel in der Elektrophysiologie habe für die russische Bodenkunde die legendär fruchtbare Schwarzerde eine solche Funktion erfüllt. Da die Schwarzerde in den gebildeten Öffentlichkeiten des Russischen Reichs vielfach als nationaler und imperialer „Reichtum“ angesehen wurde, konnte sich die Bodenkunde durch die Aneignung dieses Untersuchungsgegenstandes als „russische“ Disziplin etablieren und dabei ihre Ergebnisse als national konnotiertes Wissen „vermarkten“.

Gewissermaßen als Kehrseite des Wir-Wissens bildete das identitätsstiftende und mit Macht- und Exklusionseffekten verknüpfte Wissen über den „Anderen“ das Thema mehrerer Beiträge. CORNEL ZWIERLEIN (Bochum) diskutierte die Generierung von Wissen über „Naturvölker“ am Beispiel eines Fragebogens, mit dessen Hilfe seit 1908 in den deutschen Kolonien versucht wurde, die „Rechtsgewohnheiten der Eingeborenen“ zu erfassen. Zwierlein verortete das Projekt des Fragebogens in den kolonialwissenschaftlichen Debatten der Zeit und betonte, dass diese sich in den folgenden Jahrzehnten zunehmend auf Positionen hinbewegten, die den Fragebogen als Erkenntnisinstrument fragwürdig erscheinen lassen mussten - etwa im Hinblick auf die Resultate als statische Momentaufnahmen eines dynamischen Prozesses des Wandels von (Rechts-)Kultur. In seiner Analyse des Fragebogens wies Zwierlein auch auf eine Überdeterminierung der Frageraster durch deutsche rechtswissenschaftliche Prägungen hin. Dies führte ihn zu methodischen Überlegungen über die Möglichkeit, den „Code“ der „germano-juridischen Fragebrille“ mittels einer literatur- und sprachwissenschaftlich inspirierten Fokus auf fachsprachliche Marker genauer zu verstehen, um auf diese Weise „Code-Inhalt-Amalgame“ adäquat zu interpretieren.

LAURENS SCHLICHT (Jena) widmete sich der wissenschaftlichen Konstruktion des Menschen und der Grenzen des Menschlichen in der Aufklärung. Am Beispiel von Texten, die im Umfeld der kurzlebigen Gesellschaft der Menschenbeobachter (Société des observateurs de l’homme, 1799-1804) in Paris entstanden und in der Forschung unterschiedlich radikalen Konzeptionen von Aufklärung zugeschrieben werden, konnte Schlicht eine weitgehend einheitlich Denk- und Begriffsstruktur im Hinblick auf das Themenfeld „Wildheit, Lust und Erziehung“ herausarbeiten. Verbunden damit war eine bestimmte Konzeption des zivilisierten Menschen, die Schlicht unter Rückgriff auf Horkheimers und Adornos Aufklärungskritik sowie auf Freuds Analyse der Lüste im Hinblick auf die ihr zugrundeliegenden Exklusions- und Projektionsmechanismen hinterfragte.

Auch LENKA FEHRENBACH (Tübingen) behandelte mit den Kampagnen zur Tuberkulosebekämpfung in der Sowjetunion der 1920er-Jahre ein Beispiel für die Rolle von Wissen in Prozessen der Zivilisierung und Disziplinierung. Sie stellte die mit der Popularisierung von medizinischem Wissen verbundenen Aufklärungsbemühungen in den Kontext bolschewistischer Versuche eine sozialistische „Wissensgesellschaft“ zu schaffen. Diese Perspektive führte sie zur These einer Kontinuität zwischen den Tuberkulose-Kampagnen der 1920er-Jahre und den „Kultivierungs“-Kampagnen der 1930er-Jahre zur Schaffung eines „Neuen Menschen“.

Einen weiteren Schwerpunkt bildeten Vorträge zum Thema Wissenstransfer, die Wissen als transnationales Phänomen in den Blick nahmen. KATRIN STEFFEN (Lüneburg) diskutierte anhand biographischer Skizzen des Chemikers und Pioniers der Halbleiter- und Materialforschung Jan Czochralski (1885-1953), sowie des Mikrobiologen und Blutgruppenforschers Ludwik Hirszfeld (1884-1954) die Rolle von Migration als Triebfeder von Wissenstransfer. Beide Wissenschaftler waren in den polnischen Teilungsgebieten aufgewachsen und verließen diese im späten 19. Jahrhundert, um in Deutschland zu studieren und später zu forschen. Nach der Neugründung Polens im Jahr 1918 kehrten sie in ihr Geburtsland zurück. Dabei brachten sie ihre in Deutschland erworbenen Kenntnisse mit und etablierten sich als gefragte Experten im Projekt einer als dringlich empfundenen Modernisierung des neuen Nationalstaates. Steffen stellte die These auf, dass die Biographien Czochralskis und Hirszfelds eine für Ostmitteleuropa charakteristische Erfahrung von Raum und Zeit, Migration und Wissenstransfer repräsentierten.

MATTHIAS KRÄMER (Augsburg) untersuchte einen transatlantischen Wissenstransfer am Beispiel von aus Nazideutschland in die USA emigrierten Historikern, die sich in der Nachkriegszeit für eine zeitweilige Rückkehr in die deutschsprachigen Länder als Gastprofessoren entschieden. Krämer zeigte, dass die Gastprofessoren aufgrund ihrer politischen und wissenschaftlichen Prägungen in Nazideutschland und den USA imstande waren, eine transnationale Mittlerrolle einzunehmen, insbesondere im Hinblick auf die politische Wertevermittlung im Rahmen der Reeducation. Die Haltung der zwischen nationaler und internationaler Orientierung schwankenden „deutschen Historikerzunft“ gegenüber ihren nach Amerika vertriebenen Kollegen sei freilich ambivalent gewesen, wie Krämer anhand einer Analyse von in der „Historischen Zeitschrift“ erschienenen Rezensionen zeigte.

KATHARINA KREUDER-SONNEN (Gießen) interpretierte in ihrem Beitrag die internationale Standardisierung von Praktiken der Seuchenbekämpfung anfangs des 20. Jahrhunderts ebenfalls als einen Fall von Wissenstransfer. Das 1921 ins Leben gerufene Hygienekomitee des Völkerbundes in Genf setzte es sich zum Ziel, die Syphilisdiagnostik weltweit zu vereinheitlichen. Kreuder-Sonnen verfolgte den Weg der in Genf entwickelten diagnostischen Verfahren in das Polnische Staatliche Hygieneinstitut in Warschau. Dabei konnte sie zeigen, dass ein erfolgreicher Transfer eine gewisse Flexibilität des Diagnoseverfahrens voraussetzte.

Dass sich Wissen im Prozess des Transfers in neue Kontexte verändert, wurde im Vortrag von VERENA LEHMBROCK (Jena) über agrarökonomische Diskurse in der Aufklärung besonders deutlich. In dem für die „ökonomische Aufklärung“ des 18. Jahrhunderts charakteristischen Diskurs, der auf eine „Hebung der Landwirtschaft“ abzielte, wurde das bäuerliche Erfahrungswissen abgewertet, während das „empirische“ Erfahrungswissen der neu entstehenden Agrarwissenschaft zunehmend an Bedeutung gewann. Am Beispiel der Rezeption dieser Diskurse im Herzogtum Meiningen konnte Lehmbrock zeigen, wie in der Praxis der „Schnittstellenkommunikation“ zwischen Reformern und Praktikern neue Diskurse über Wissen entstanden, die durchaus nicht dem Muster der Abwertung bäuerlichen Erfahrungswissens entsprachen.

In theoretischer Hinsicht boten (neben dem erwähnten Begriff der „Wissenskulturen“) insbesondere Anregungen der Postcolonial Studies Bezugspunkte für die Diskussion des Tagungsthemas. Mehrere Referenten nahmen die Produktion von unterschiedlichen Wissensformen unter postkolonialen Bedingungen in den Blick. KSENIA ROBBE (Gießen) befasste sich vergleichend mit Intellektuellenkulturen im postsozialistischen Russland und in Südafrika seit dem Ende der Apartheid. Sie ging von der Beobachtung aus, dass in beiden Staaten in den rund zwei Jahrzehnten seit dem Zusammenbruch der autoritären Regime eine gewisse Passivität der Intellektuellen kritisiert worden ist. Dieser Kritik zufolge neigten die Intellektuellen dazu, sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen und kaum politisch oder sozial ausstrahlende Ideen zu entwickeln. Robbe schlug vor, dass sowohl die Hintergrundüberzeugungen die der Kritik an den Intellektuellen zugrunde liegen, als auch die tatsächlichen Herausforderungen, die sich Intellektuellen in den südafrikanischen und russischen Gesellschaften stellen, am besten durch die Brille der Postkolonialen Theorie verstanden werden können. Obwohl weder Südafrika noch Russland zu den „klassischen“ Fällen von postkolonialen Gesellschaften gezählt würden, sei es fruchtbar, die Intellektuellenkulturen in diesen Ländern vor dem Hintergrund einer Prägung durch den als hegemonial wahrgenommenen „Westen“ einerseits und der Erfahrung (selbst-)kolonialer Unterdrückung andererseits zu sehen.

CHRISTOPH PETER SENFT (Berlin/Coimbra) widmete sich am Beispiel von indisch-englischsprachigen Romanen, die meist im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts entstanden sind, der Verhandlung und Produktion von historischem Wissen in der Literatur. Er verband dabei postkoloniale (Walter Mignolo) und geschichtsphilosophische (Hayden White) Ansätze und kam zu der These, dass die von ihm untersuchten literarischen Texte implizit und explizit historische Erfahrungen von Globalität und Lokalität reflektieren.

NISHANT K. NARAYANAN (Hyderabad, Indien) beschäftigte sich mit den Topoi und Metaphern des „Selbst“ und des „Anderen“ in der Konstruktion des Verhältnisses von Indien und Europa. Zu diesem Zweck verglich er die Texte des indischen Schriftstellers Nirmal Verma (1929-2005) und des US-Amerikanischen Indologen Ronald Inden. Dies erlaubte ihm, das identitätsbildende Spiel mit den Metaphern und Motiven des Eigenen und des Fremden sowohl im literarischen als auch im wissenschaftlichen Feld darzustellen.

Die literaturwissenschaftlichen Beiträge von Senft und Narayanan führten durch ihre Konzentration auf Literatur als Wissensmedium einen weiteren thematischen Schwerpunkt der Akademie ein: Die spezifischen Logiken, denen die Entstehung von Wissen in bestimmten Medien und Präsentationsformaten unterworfen ist. SARAH C. ISELER (Konstanz) widmete sich mit ihrem Vortrag zur Interaktion von Literatur, Film und Bioethik in den Printmedien einer spezifisch medialen Prägung von Wissen. Sie ging von der Beobachtung aus, dass in Printmedien die Auseinandersetzung mit bioethischen Themen oft durch die Referenz auf literarische und filmische Motive erfolgt. Dies gelte zum Beispiel für das Thema der Präimplantationsdiagnostik, das oft mit Verweis auf Aldous Huxleys Dystopie „Brave New World“ verhandelt werde. Aus Iselers Sicht dienen literarische und filmische Zitate häufig dazu, bei den Rezipienten Ängste vor biomedizinischen Innovationen zu schüren. Insgesamt lasse sich die bioethische Diskussion in Printmedien als verschiedene Wissensformen synthetisierender „Interdiskurs“ beschreiben, in den sowohl Spezialdiskurse der Lebenswissenschaften als auch Literatur und Film eingehen.

YANNICK PORSCHÉ (Berlin) rückte Museen als Wissensspeicher mit eigener medialer Logik in den Blick. Am Beispiel einer Ausstellung zum Thema Immigration, die in den Jahren 2009 und 2010 zunächst in Paris und dann in Berlin gezeigt wurde, zeigte Porsché, wie Wissen über die Migrationsthematik in museumspezifischen Interaktionen zwischen Besuchern, Objekten und Museumsangestellten, im weiteren Sinne auch zwischen Öffentlichkeit, Wissenschaft und dem Museum als Institution entsteht.

Mit dem Aquarium stellte MAREIKE VENNEN (Berlin) ein Wissensmedium ganz anderer Art in den Blick. Dieses gehörte, so die Referentin seit Mitte des 19. Jahrhunderts immer häufiger zum Inventar von Forschungseinrichtungen und bürgerlichen Salons. Vennen stellte das Aquarium als ein „Medium der Sichtbarmachung“ dar, das entscheidend zur Entstehung einer ökologischen Perspektive auf das Leben beitrug. Sie argumentierte, dass mit dem Aquarium neue Formen des Wissens wichtig wurden: Insbesondere sei neben systematisch-taxonomisches Wissen über die Natur das experimentelle Wissen getreten. Zugleich sei das Aquarium ein Medium populären Wissens gewesen, das häufig durch Literatur und Kunst motivisch aufgegriffen wurde. Grundlegend sei für die mediale Logik des Aquariums seit seiner Entstehung ein „Natürlichkeitsphantasma“: Obwohl das Aquarium einen hochgradig experimentalisierten, regulierten und technisierten Lebensraum darstelle, galt es als natürlicher „Ocean auf dem Tische“.

LUCIA RAINER (Hamburg) wies mit ihrem Beitrag zur Performativität von wissenschaftlichen Vorträgen und Lecture Performances auf körperliches und implizites Wissen, mithin auf die Dimension des Nichtintentionalen hin. Sie betonte unter anderem im Anschluss auf Judith Butler, dass Wissen mithin durch performative Praktiken mittels ästhetischer Verfahren hervorgebracht wird. Der Blick auf performative und körperliche Wissensformen trage zur Kritik und Erweiterung eines traditionellen Wissensbegriffs der Vortragskunst bei.

Das Internet als medialen Raum der Produktion eines spezifisch erinnerungskulturellen Wissens stand im Zentrum des Beitrags von VIVIEN SOMMER (Chemnitz). Sie zeigte wie in den Diskussionen um den Fall des als Beteiligten am Massenmord im nationalsozialistischen Vernichtungslager Sobibor verurteilten John Demjanjuk, neue, webspezifische erinnerungskulturelle Praktiken beobachtbar sind. In typischen Web 2.0.-Anwendungen wie Videoplattformen, Foren, Blogs und sozialen Netzwerken entstehe in neuen, kollaborativen Praxen der Informationsproduktion neues Wissen über die Vergangenheit. Anders als in Medien, die offizielle nationale Geschichtsbilder propagieren, gelte für erinnerungskulturelle Online-Diskurse, dass sie stärker von den politischen Überzeugungen öder beteiligten Individuen geprägt seien.

JOSEFINE RAASCH (Victoria, Australien) schlug vor, auch die Schule und im engeren Sinne das Klassenzimmer als einen spezifischen Raum der Wissensproduktion über die Vergangenheit aufzufassen. Anhand Ihres in einem deutschen Gymnasium durch teilnehmende Beobachtung, Rollenspiele und Interviews gewonnenen Untersuchungsmaterials behandelte sie die Entstehung historischen Wissens bei Jugendlichen. Mit den analytischen Mitteln der Post-Actor-Network-Theory stellte sie den Prozess der Wissensgenerierung als Netzwerkphänomen dar. Diese theoretische Perspektive erlaubte es Raasch unterschiedliche Elemente eines Netzwerkes als „Akteure“ im Sinne von nicht-statischen Entitäten aufzufassen: Fachdidaktiker ebenso wie der Berliner Rahmenlehrplan für das Unterrichtsfach Geschichte, die Institution Schule ebenso wie die Jugendlichen selbst.

Vom „Wir-Wissen“ zum Wissen über den „Anderen“, von der medialen Prägung von Wissen zu den Modalitäten von Wissenstransfers, vom Wissen in postkolonialen Ordnungen zum spezifisch erinnerungskulturellen Wissen – im Rahmen der Sommerakademie wurden unterschiedliche, teils disparate Aspekte des Themas diskutiert. Hinzu kam die erwähnte Vielfalt der beteiligten Disziplinen. Insbesondere in den Diskussionsteilen zeigte sich jedoch, dass die zugrunde gelegten Leitbegriffe – Wissenskultur, Diskurs, Wissenspraktiken – eine fruchtbare Verständigung über disziplinäre Grenzen hinweg ermöglichen. Die Teilnehmer/innen empfanden dies und insgesamt die Sommerakademie als Forum zur Vorstellung und Diskussion von Forschungsprojekten als sehr bereichernd.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag:
Peter Haslinger: Wissen als Kategorie zur Erforschung mehrsprachiger Gesellschaften

Sektion I: Intellektuelle schaffen Wissen

Laurens Schlicht: Die wilde Lust am Wilden und die Lust des Wilden

Mareike Vennen: „Leben aus der Tiefe des Meeres auf dem Tische studiren“ – Medialisierungen des Wissens im Aquarium

Ksenia Robbe: Thinking Postcoloniality beyond the Centre: The Challenges of the ‘New’ Intellectual Cultures in Post-Soviet Russia and Post-Apartheid South Africa

Sektion II: Landwirtschaftliches Wissen

Verena Lehmbrock: Praxiswissen im agrarökonomischen Reformdiskurs und auf der Ebene territorialer Herrschaftsvermittlung am Beispiel Meiningens (1750-1830)

Jan Arend: Wie die Bodenkunde „russisch“ wurde. Überlegungen zur nationalen Imagebildung in den Wissenschaften, ca. 1870 – 1910

Sektion III: Wissenschaftliche Wissenskulturen

Cornel Zwierlein: Rechtsanthropologische Transcodierungen: Generierung von Wissen über „Naturvölker“ per Fragebogen in den deutschen Kolonien 1907-1914

Jan Surman: Wissenschaft und Übersetzung: Die Wissenskultur des Purismus

Matthias Krämer: Transatlantischer Wissenstransfer. Nationale und internationale Orientierung in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft nach 1945

Sektion IV: Repräsentation von Wissen

Yannik Porsché: Museale Repräsentationen migratorischer Identität. transnationale Wissenskonstruktionen am Schnittpunkt institutioneller, akademischer und öffentlicher Diskurse

Lucia Rainer: Aufführungen von Wissen: Zur Analyse der künstlerischen Lecture Performance und des wissenschaftlichen Vortrags

Sektion V: Erinnerungskulturelles Wissen

Josefine Raasch: Notions of Historical Justice among Teenagers

Vivien Sommer: Erinnerungskulturelles Wissen im Web. Der Online-Diskurs um John Demjanjuk

Sektion VI: Medizinisches Wissen

Lenka Fehrenbach: Medizinische Wissensvermittlung in der Sowjetunion der 1920er-Jahre im Spannungsfeld zwischen ärztlicher Aufklärung und staatlicher Propaganda

Katharina Kreuder-Sonnen (Gießen): Von Genf nach Warschau. Zur Genese internationaler Standards in der Seuchenbekämpfung

Katrin Steffen: Migration, Transfer und Nation: Die Wissens- und Erfahrungsräume von polnischen Naturwissenschaftlern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Sektion VII: Literatur prägt Wissen

Christoph Peter Senft: Transmoderne literarische Historiographie. Lokale Vergangenheiten und globale Designs in indisch-englischsprachigen Romanen der Gegenwart

Nishant K. Narayanan: Between the Self and the Other. India, Europe and the Architecture of Knowledge

Sarah C. Iseler: Interaktion zwischen Literatur, Film und Bioethik im interdiskursiven Feld der Printmedien

Sektion VIII: Emanzipation durch Wissen

Tatiana Bogomolova: Sprachwechsel und Spracherhalt bei den Lausitzer Sorben

Julia Förster: Entwicklung und Transformation jemenitischer Bildungsmedien 1937-2010

Anmerkung:
1 Vgl. zum Begriff der Wissenskulturen Johannes Fried / Michael Stolleis (Hrsg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, Frankfurt am Main 2009; Karin Knorr-Cetina, Epistemic Cultures. How the Sciences Make Knowledge, Cambridge, Mass. 1999.