Kultur und Identität. Deutsch-Jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland

Kultur und Identität. Deutsch-Jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland

Organisatoren
Moses Mendelssohn Zentrum
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.10.2011 - 27.10.2011
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Von
Alisa Jachnowitsch / Dana Müller, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt Universität zu Berlin

Vom 25. bis 27. Oktober 2011 fand in Berlin im Centrum Judaicum, Stiftung Neue Synagoge Berlin die vom Moses Mendelssohn Zentrum organisierte Konferenz „Kultur und Identität. Deutsch-Jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland“ statt. Die Konferenz wurde im Rahmen des Projektes „German-Jewish Cultural Heritage“ veranstaltet, welches sich das Erkennen, Erfassen und Bewahren von deutsch-jüdischem Kulturerbe zum Ziel gesetzt hat.

Zentral ist bei dem Projekt die Idee einer Spurensuche der Wege deutscher Juden infolge von Emigration. Durch die Erstellung einer Datenbank soll eine Grundlage für eine langfristige, vernetzte Zusammenarbeit und den Austausch auf transnationaler Ebene geschaffen werden. Die so zusammengetragenen Dokumente sollen vor dem Verfall und dem Vergessen bewahrt und durch den weltweiten Zugriff für die verschiedensten Forschungskontexte nutzbar gemacht werden. Die internationale Tagung spielte hierbei eine wichtige Rolle, um sich mit den theoretischen Grundlagen der Ursachen- und Wirkungsgeschichte der deutschen Kultur und den Einflüssen Kulturschaffender jüdischer Provenienz auseinanderzusetzen.

Die Veranstaltung bot Raum für Fragestellungen von Identität und Kultur im Allgemeinen sowie mit der Rolle deutscher Juden in verschiedenen Gesellschaftssegmenten im Speziellen. Die Referenten/innen diskutierten die Geschichte, Genese und Zukunft deutsch-jüdischer Identität und befassten sich über die begrifflichen Fragen hinaus auch mit den institutionellen Notwendigkeiten und Möglichkeiten zum Erhalt dieses Erbes.

Neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung trugen die eingeladenen Gäste aus Politik und Gesellschaft, wie Staatsminister für Kultur und Medien Bernd Neumann, Botschafter Heinrich Kreft, die Mitglieder des Bundestages Brigitte Zypries und Monika Grütters und Tagesthemensprecher Tom Buhrow wesentlich zur Diskussion über mögliche Formen der Verantwortungsübernahme in der Gesellschaft bei.

Exemplarisch wurden auch verschiedene Unterprojekte von „German-Jewish Cultural Heritage“, die von ELKE-VERA KOTOWSKI (Potsdam) betreut werden, vorgestellt, so beispielsweise eine Datenbank zu der Exilzeitschrift „Der Aufbau“ und eine Ausstellung samt Präsentation zu einem transatlantischen Briefwechsel der deutsch-jüdischen Familie Guttmann in dem Zeitraum 1926 bis 1944.

Thematische Einführung boten die Vorträge von JULIUS H. SCHOEPS (Potsdam) und MICHAEL A. MEYER (Cincinnati), bei denen sich bereits die Grundtendenz der Konferenz abzeichnete, von deutsch-jüdischen Identitäten im Plural zu sprechen und diese als dynamisch anzusehen. Meyer skizzierte eine jüdische Geschichte in Deutschland, die zwar einen Teilaspekt der deutschen Kollektivgeschichte darstellt, welcher aber gleichzeitig von dieser nicht als solcher wahrgenommen wurde. Am Beispiel der Benennung des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens hob Meyer hervor, wie kompliziert sich die Selbst- und Fremdzuschreibungen einer hybriden Identität generieren kann.

Obwohl unter dem Titel „Deutsch-Jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland“ insgesamt produktiv gearbeitet werden konnte, zeigte sich in den wiederkehrenden Diskussionen, dass diese Begrifflichkeit an ihre Grenzen stieß. Der Bindestrich zwischen „deutsch“ und „jüdisch“ stand dabei immer wieder zur Debatte. Es wurde deutlich, dass die Pluralität der Identitäten über die durch den Bindestrich geschaffene Bipolarität hinausweist. Denn er klammert Aspekte wie Gender, Transit- und Exilidentitäten oder soziologische Milieus und Formen der Selbstwahrnehmung aus. Besonders KLAUS HÖDL (Graz) setzte sich für die Auflösung der Bindestrichidentitäten ein, da bei einer Vielzahl von Überlappungen das Jüdische nicht vom Nicht-Jüdischen zu trennen ist.

Schoeps und MICHAEL WOLFFSOHN (München) fragten kritisch nach der Existenz einer noch lebendigen deutsch-jüdischen Kultur in der Bundesrepublik und ordneten sich selber als Relikte dieser ansonsten erloschenen oder exilierten Kultur ein. Welche Zukunft hat also die deutsch-jüdische Kultur in einer zunehmend international geprägten Gemeinde? Die Beantwortung dieser Frage dürfte man nicht allein den jüdischen Gemeinden überlassen. Es läge vielmehr in der Verantwortung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sich mit der deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur als einem integralen Bestandteil der deutschen Gesamtgeschichte zu befassen.

Michael Wolfssohn arbeitete anhand seiner Darstellung der historischen Demoskopie der deutschen Juden im 19. und 20. Jahrhunderts und der sich verändernden Vergabe von Vornamen heraus, welchen empfindlichen Wandel die wechselseitige Identifikation von deutscher Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Minderheit miteinander unterlag. Wie bereits Meyer auch, sah Wolffsohn die Schwierigkeit in der Entwicklung einer trennscharfen Begrifflichkeit bei einem sich stetig wandelnden Selbstverständnis der deutschen Juden.

LILIANA FEIERSTEIN (Buenos Aires) und FRANK STERN (Wien) betrachteten eingehend Form und Erhalt des deutsch-jüdischen Kulturerbes im süd- und nordamerikanischen Exil. Feierstein und Stern präsentierten anhand von zahlreichen Beispielen, wie Straßennamen oder Filmen den Einfluss deutsch-jüdischer Kultur auf ihre Umgebungsgesellschaft in einer bestimmten historischen Phase. Beide sahen schwindende Kenntnisse in den Ziel- und Transitländern deutsch-jüdischer Emigration in deutscher Sprache und Kultur als Bedrohung für den Erhalt des noch existierenden materiellen Erbes und plädierten daher für eine stärkere Vernetzung der Wissenschaftler.

Eine besondere und persönliche Quelle präsentierte ATINA GROSSMANN (New York). Es handelte sich um ein erst kürzlich gefundenes, aus dem Nachlass ihres Vaters stammendes Dokument, das von der Kreuzung der transnationalen Fluchtgeschichten zeugt und mit „Wunschtraum nach 10 Jahren Innerasien, 5 Jahren Indien und 6 Monaten Bombay“ überschrieben ist. Die Nostalgie nach einem Ort, an den man nie wieder zurück kann, drückt sich in einer langen Liste der Wünsche, die im Exil nicht mehr erfüllbar sind aus. So sehnt sich der Berliner nach einer Nacht unter einer Wolldecke oder einem Stück Stachelbeerkuchen mit Schlagsahne. Anhand dieses Beispieles zeigt sich, dass sowohl kultureller Bezugsrahmen als auch Quellen ohne eine Rekontextualisierung des Biografischen in einen übergeordneten kulturellen Zusammenhang ohne Aussage bleiben.

Die Konferenz ließ erkennen, dass gleichermaßen in Wissenschaft wie in Politik und Gesellschaft zum Thema deutsch-jüdisches Kulturerbe eine beträchtliche Bereitschaft zur Förderung und Erforschung besteht. Es wurde jedoch auch festgestellt, dass der Bestand an (im-)materiellem Erbe, die wissenschaftliche Auseinandersetzung und der politische Förderungswille oft disparat bleiben. Allerdings ist noch nicht das volle Potenzial an Kooperation und transnationaler Zusammenarbeit ausgeschöpft. Eine umfassende Vernetzung, wie sie auch von dem Projekt angestrebt wird, erscheint daher unerlässlich.

Konferenzübersicht:

Jascha Nemtsov (Universität Potsdam, Potsdam): Musikalische Untermalung

Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam): Begrüßung

Kulturstaatsminister Bernd Neumann: Eröffnungsvortrag

Jascha Nemtsov (Universität Potsdam, Potsdam): Musikalische Untermalung

Sektion 1: Identität und Kultur. Grundsatzfragen und Spannungsfelder
Moderation: Thomas Brechenmacher (Universität Potsdam, Potsdam)

Michael A. Meyer (Hebrew Union College, Cincinnati): Entwicklung und Modifikationen der jüdischen Identität in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam): Das Stigma der Heimatlosigkeit. Vom Umgang mit dem deutsch-jüdischen Erbe. Betrachtungen, Kritik und Vorschläge

Michael Wolffsohn (Universität der Bundeswehr, München): Identitäten und Identifizierungen – Zur historischen Demoskopie der deutschen Juden im 19. und 20. Jahrhundert

Sektion 2: Kultur und Gesellschaft. Kultur als identitätsstiftendes Moment
Moderation: Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam) und Iwan D`Aprile (Universität Potsdam, Potsdam)

Jascha Nemtsov (Universität Potsdam, Potsdam): „Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr und so völlig wie das andere.“ 200 Jahre deutsch-jüdisches musikalisches Schaffen

Atina Grossmann (The Cooper Union, New York): Zwischen „Ich möchte wieder einmal...“ und „Ich bin jetzt hier zu Hause“: Europäer auf der transnationalen Flucht von Weimar an den Brodway

Liliana Feierstein (Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg): Im Land von Vitzliputzli: Deutschsprachige Juden in Lateinamerika

Frank Stern (Universität Wien, Wien): Zooming kulturelle Erinnerung – Von Berlin, Wien, Tel Aviv nach Hollywood und zurück zum Film

Liliane Weissberg (University of Pennsylvania, Philadelphia): Eine verborgene Tradition? Deutsch-jüdische Literatur vom späten 18. Jahrhundert bis heute

Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin): Borderliners. Identitäten in einer Grenzregion

Podiumsdiskussion: Kultur schafft Identität schafft Kultur!?
Moderation: Tom Buhrow (ARD Tagesthemen)

Michael Wolffsohn (Universität der Bundeswehr, München); Julius H. Schoeps (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam); Moshe Zimmermann (The Hebrew University of Jerusalem, Jerusalem)

Sektion 3: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Einflüsse und Wechselwirkungen
Moderation: Elke-Vera Kotowski (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam)

Klaus Hödl (Karl-Franzens-Universität, Graz): „Widerstreitende Gedächtnisse“. Das Bemühen um ein jüdisch-deutsches Selbstverständnis

Martin Münzel (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam): Tradition - Integration – Transfer? Zur wirtschaftlichen Rolle deutsch-jüdischer Unternehmer in Zwischenkriegszeit und Emigration

Ute Deichmann (Ben-Gurion University, Beer Sheva): Kultur und Identität in der Wissenschaft. Der Beitrag jüdischer Forschen zur internationalen Bedeutung deutscher Naturwissenschaft bis 1933 – ein jüdischer Beitrag?

Walter Homolka (Abraham Geiger Kolleg, Potsdam): Neuanfang und Rückbesinnung – Das liberale Judentum in Deutschland nach der Shoa

Sektion 4: Erfassen, Bewahren, Vernetzen. Perspektiven für Forschung und Gesellschaft
Moderation: Hermann Simon (Centrum Judaicum, Berlin)

Elke-Vera Kotowski (Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam): Kultur und Identität. Deutsch-jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland. Projektvorstellung

Frank Mecklenburg (Leo Baeck Institute, New York): Als deutsch-jüdisch noch deutsch war. Die digitalisierten Sammlungen des LBI Archivs bis 1933

Christina von Braun (Humboldt-Universität, Berlin): Das „Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg“

Jakob Hessing (The Hebrew University of Jerusalem, Jerusalem): Braucht Deutschland ein Zentrum für verfolgte Schriftsteller, Künstler und Musiker?

Abschlussdiskussion: Gesellschaftliche und politische Verantwortung gegenüber dem deutsch-jüdischen Kulturerbe
Moderation: Cornelia Rabitz (Deutsche Welle)

Teilnehmer: Monika Grütters (MdB); Botschafter Heinrich Kreft (Auswärtiges Amt); Brigitte Zypries (MdB); Cilly Kugelmann (Jüdisches Museum Berlin)


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