Bildung, Kanon, Literalitaet

Bildung, Kanon, Literalitaet

Organisatoren
Jahrestagung 2003 Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
Ort
Koblenz
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2003 - 01.10.2003
Von
Clemens Albrecht, Institut für Soziologie, Universität Koblenz/Landau; Winfried Gebhardt

Der bürgerliche Bildungskanon ist tot, mausetot. Wir können ihn historisieren, soziologisieren und dekonstruieren. Wir wissen heute, daß er das Produkt einer spezifischen historischen Situation war (Christentum, Humanismus und Nationalstaat), seine Geltung dem Normenkonsens spezifischer Trägerschichten (Kleriker, Humanisten, Bürgertum) verdankte, Rezeptionstechnik und Diskursinhalte in den zeittypischen Institutionen (Kloster, Universität, Gymnasium, Elternhaus) tradierte und bestimmte ästhetische Urteile voraussetzte. Wer sie teilte, in die Institutionen und Trägerschichten integriert war und über die Inhalte mitreden konnte, galt als gebildet. Und wir wissen auch, daß es in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften nur temporär geltende Teilkanons geben kann.

Aber nein, der Kanon lebt! Quicklebendig springt er uns aus allen Medien entgegen: Ende der 70er Jahre publizierte die ZEIT eine weitbeachtete Artikelserie über die 100 wichtigsten Sachbücher. Alsbald folgte eine Liste der wichtigsten literarischen Werke. Wenn man die Bücher auch nicht selbst gelesen hatte, so doch wenigstens die Artikel über sie, und konnte also mitreden (Bildung lebte schon immer mehr von der Kompilation als von der Originallektüre). In den USA tobt seit Anfang der 90er Jahre eine Debatte zwischen den multiethnischen Erneuerern des Kanons der "dead white men" und den Verteidigern (Harold Bloom). Und nicht zuletzt hat Dietrich Schwanitz ("Bildung. Alles, was man wissen muß") einen enormen Publikumserfolg gelandet, der zahlreiche Nachahmer generierte und selbst bekannte Kritiker zur Publikation ihres eigenen Kanons verleitete.

Auch in den Fachwissenschaften scheinen wir gegenwärtig in eine Phase der Sammlung zu geraten, überall erscheinen Kompilationen, Handbücher, Sammlungen des Grundwissens, in denen die Erträge der einzelnen Fächer oder Forschungsgebiete summarisch erfaßt und dargestellt werden. Auch in der Populärkultur feiert die Idee des Kanons fröhliche Urzustände. Durch Quiz-Shows gefördert gehören Lexika, populäre Handbücher und Klassikersammlungen wieder zur Standardausstattung. "Best of"-Sampler, die oftmals noch das Etikett "Classics" aufgeklebt bekommen, sind nicht nur zur Weihnachtszeit die Renner der Unterhaltungsindustrie. Selbst als Gegenkulturen gestartete Jugendszenen können sich dieser Notwendigkeit scheinbar nicht entziehen. Die Bundeszentrale für Politische Bildung stellt einen Kanon der 35 wichtigsten Filme zusammen, die jeder gesehen haben müßte, und die schulischen Curricula-Macher definieren bundesweit geltende Bildungsstandards über einen Kanon an Kernkompetenzen. Während der Bildungskanon also von denen, die an ihm teilhaben, in unendlichen akademischen Diskursen beerdigt wird, graben ihn die Schulpraktiker, Auflagen-Jäger und Quiz-Show-Aspiranten wieder aus.

Die Frage, wie sich diese widerstreitenden Tendenzen erklären lassen, beschäftigte eine Koblenzer Tagung. Zur Einführung schlug Clemens Albrecht (Koblenz) einen denkbar weiten Deutungsrahmen vor: Die Folgen der Einführung neuer, auf visueller Kommunikation basierender Medien seien ähnlich fundamental wie die Einführung der Schrift. Erst die Schriftkultur habe es ermöglicht, dem kulturellen Gedächtnis eine diachron weit ausdifferenzierte Anschlußfähigkeit zu sichern: die Texte vergangener Jahrhunderte. Der Kanon war ein spezifischer Selektionsmechanismus von Schriftkulturen, um durch Komplexitätsreduktion eine Auswahl des Bildungswissens für eine begrenzte Population auf Dauer zu stellen. Gegenwärtig aber werde dieses diachrone Anschlußpotential auf ein synchrones (Internet) umgestellt, das bislang in seiner Komplexität verharre und noch kein Instrument zur Komplexitätsreduktion herausgebildet habe. Das Bedürfnis nach einem verbindlichen Kanon sei nun der Angsttrieb einer auslaufenden Schriftkultur, die ihr diachrones Anschlußpotential außerhalb einer kleinen, sozial stabilen Schicht von Schriftkundigen zu verlieren droht. Wer so oder so liest, kann sich den Luxus der Dekonstruktion erlauben. Deshalb kommt das Bedürfnis nach Kanonisierung heute gerade von bildungsfernen Schichten.

Welch himmelweite begriffliche Unterschiede im Diskurs über ähnliche Probleme zwischen Deutschland und Frankreich bestehen, machte anschließend Clemens Pornschlegel (Besançon) deutlich. Zwar könne man auch in Frankreich verbreitet Klagen über die in den urbanen Kampfzonen spürbare "incivilité" und die mangelnde "culture générale" beobachten, aber niemand käme auf die Idee, die Lösung in einem "Kanon" zu suchen: Zum einen beruhe das höhere französische Schulwesen weitgehend auf festgeschriebenen Lektürelisten, zum anderen aber sei der Begriff "canon" klerikal besetzt und verbiete sich in einer laizistischen politischen Kultur. Statt dessen, so illustrierte Pornschlegel suche man nach Formen, die republikanische Identität als Tugendlehre des zivilen und zivilisierten Verhaltens neu zu begründen. Der Gegner aber, den jeder Laizismus brauche, werde heute nicht mehr im Klerus gesehen, sondern im globalen Kapitalismus, der institutionell die republikanische Nation unterspüle und mit dem Marken- und Starkult eine neue Form von Heiligenverehrung im Bewußtsein der Jugendlichen verankert habe.

In Kanonisierungs- und Entkanonisierungsprozessen spiegelt sich, wie das französische Beispiel zeigt, weit mehr als eine akademische Debatte über das, was man gelesen, gesehen oder gehört haben sollte; denn in ihnen brechen Strukturfragen in Bildungsinhalte um, sie sind gewissermaßen die Schnittstelle zwischen beiden. Bernd Zymek (Münster) entwickelte dies an der zentralen Bedeutung, die der Fächerkanon in den bildungstheoretischen Debatten spielt. Während in anderen Ländern die Schulträger die zentrale Rolle für die Zugangsberechtigung an Hochschulen spielten, habe sich in Deutschland durch das Abitur die Sicherstellung des Fächerkanons als zentrales Kriterium entwickelt. Schon immer habe es dabei eine Differenz zwischen den ministeriellen Vorgaben und der schulischen Realität vor Ort gegeben, die meist als "Versagen der Schule" interpretiert worden sei. Zymek wies an der Konstanz dieses Musters bis in die jüngste Zeit nach, daß aus der Logik der Institution Schule ein eigener Kanonisierungsprozeß resultiere, der mit dem curricularen Kanon kollidieren kann, auch und gerade da, wo dieser sich öffnet (Kurssystem). Er illustrierte dies durch eine empirische Untersuchung der Kursorganisation in Nordrhein-Westfalen: Vor Ort hätten die Schulen längst ihren eigenen Fächerkanon gebildet, der bestimmte Fächer, die wie die alten Sprachen, Philosophie oder Psychologie, noch offiziell im Angebot stehen, längst aus der Schulwirklichkeit ganzer Bezirke verdrängt habe.

Wenn auch Joachim Hofmann-Göttig, Staatssekretär im Mainzer Ministerium für Bildung, Frauen und Jugend, an rheinland-pfälzischen Zahlen die Generalisierungsfähigkeit dieser Befunde in seinem Koreferat entschieden bestritt, so blieb doch die Frage, ob mit dem propagierten und praktizierten Rückzug des Staates der Unterrichtsstoff nicht über gänzlich neue Mechanismen als die der staatlichen Lehrpläne selektiert und also kanonisiert wird. Strukturell entscheidend bleibt jedenfalls das Berechtigungswesen: Solange Schulabschlüsse und nicht Aufnahmeprüfungen über den Zugang zu weiterführenden Bildungsinstitutionen entscheiden, kann der Fächerkanon zwar durch einen Kompetenzenkanon abgelöst werden, an der Dominanz von Kanonisierungsprozessen ändert sich jedoch dadurch nichts.

Der öffentliche Abendvortrag von Manfred Fuhrmann (Konstanz) rückte das Thema in die historische Distanz. Der europäische Bildungskanon, inhaltlich bestimmt durch Christentum und Humanismus, habe über einen großen Zeitraum immer wieder neue Trägerschichten und Institutionen gefunden. Heute bestehe in ganz Europa die Gefahr eines tiefreichenden Traditionsbruches: institutionell ziehe sich der Staat zunehmend aus der inhaltlichen Bestimmung von Bildung zurück und sozial sei nach dem Ende des Bürgertums keine Gruppe in Sicht, die Tradierung jenseits der Institutionen garantiere. Globalisierung und Immigration mit der Tendenz zur Bildung ethnischer Inseln veränderten zusätzlich die Vorraussetzung für die Ausrichtung auf gemeinsame ideelle und politische Interessen. Fuhrmann untersuchte nun drei historische Situationen mit der Frage, ob sich aus ihnen Parallelen zur gegenwärtigen Lage ableiten ließen: 1. den Hellenismus analog zur Globalisierung, 2. die Völkerwanderung analog zur Migration und 3. die karolingischen Bildungsreformen als Muster einer gelungenen Traditionssicherung bei fundamentalen politischen und kulturellen Wandlungsprozessen. Sein Ergebnis war unterschiedlich: der Hellenismus läßt sich nicht mit der gegenwärtigen Lage vergleichen, da ihm kulturelle Kontinuität trotz Expansion gelang. Auch die karolingische Bildungsreform ist auf heutige Verhältnisse in ihrer archaischen Geschlossenheit nicht übertragbar. Größer seien dagegen die Parallelen mit dem Ende Westroms: Staaten gehen auf Dauer unter, wenn sie Migrationsströmen nicht mit sprachlicher Integrationspolitik begegnen.

Im historisch erweiterten Blick verschiebt sich jedenfalls das Problem. Gottfried Willems (Jena) fragte deshalb, ob unsere Schwierigkeiten mit dem Kanon weniger in ihm, als vielmehr im Konzept der Modernität stecken: dem unbegründeten Anfangsverdacht gegenüber allem Überlieferten, nicht mehr "zeitgemäß" zu sein. Entscheidend sei dagegen der Bedeutungskanon, die Kontinuität der Bedeutungszuschreibung und -aktualisierung, durch die sich ein kohärentes Bezugssystem, eine Art zeitüberbrückendes Zitiersystem herausbilde. Auch die moderne Literatur sei ohne ihre Bezugnahme auf die Klassiker nicht verstehbar, auch dann, wenn sie sich als Avantgarde vom Erneuerungstyp der Renaissancen absetzt: noch jede Avantgarde hat ihren Gegenkanon proklamiert. Die Ursache hierfür sei darin zu suchen, daß die Kanones wie ein Qualitätslift funktionieren: der Bezug auf vergangene Qualität erhöht die Anforderungen. Der Verzicht auf Kanones dagegen komme einer Verdammung zu Banalität und Unselbständigkeit gleich.

Der Religion jedenfalls wurde schon immer Bedeutung zugeschrieben. Ob die Kenntnis der Weltreligionen in Zeiten von Globalisierung und Kopftuchstreit zum Bildungskanon gehören, fragte Michael Opielka (Jena). Er argumentierte gegen Manfred Fuhrmanns alteuropäische Verengung der Bildungsinhalte auf Christentum und Humanismus mit einem konsequenten soziologischen Universalismus. Durch eine Variation von Parsons Schema des sozialen Systems verortete Opielka Religion im Legitimationsapparat von Gesellschaften. Kultursoziologie müsse deshalb Religion als gesonderte Sphäre in ihre begrifflichen Konzepte integrieren. Als Formen der Letztbegründung gehörten die Weltreligionen jedenfalls zum Bildungskanon, wobei heute die Aufgabe bestehe, die Dominanz der einen, der christlichen Religion in den Lehrplänen auszugleichen. Die Replik auf diese Generalisierung kam postwendend in der Diskussion: Jeder Kanon sei eine Selektion derjenigen Inhalte, die für soziale Identitätskonstruktionen relevant sei, konterte der Historiker Fuhrmann ganz soziologisch. Gegenstand des Unterrichts müsse deshalb nicht allgemein Religion, sondern die relevante, sprich: christliche Religion sein, die im Humanismus (und nicht: in der Konfrontation mit anderen Weltreligionen) ihr Toleranzkorrektiv selbst entwickelt habe.

Gegenüber dem Dilemma zwischen universalistischer Erweiterung und kontextbezogener Verengung der Bildungsinhalte vertrat Lutz Hieber (Hannover) konsequent die dritte, die avantgardistische Position. Er skizzierte an der Genese des Dadaismus das Selbstverständnis der Avantgarde: radikale Kritik an der Kunstreligion des Bürgertums als unverbindlicher Utopie und an der Folgenlosigkeit bürgerlicher Bildung. Am Beispiel einer Ausstellungskonzeption wies er überzeugend die Rache der Bürger nach, indem sie den Dadaismus musealisierten, d. h. zur folgenlosen Freizeiterquickung verwandelten.

Wo Kanonisierungsprozesse aktuell zu beobachten sind, zeigte Olaf Sanders (Hamburg) am neuen Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung. Film ist ohne Zweifel das Leitmedium des 20. Jahrhunderts, er löst den Roman ab. Die neuen Kanonisierungsprozesse folgten nun, so Sanders These, auch einer anderen medialen Logik: Während der alte Kanon noch in die Narration einer zusammenhängenden Geschichte eingebunden gewesen sei, folge der Filmkanon der Logik von Datenbanken: er konstruiere einen navigierbaren Raum. Deshalb seien die Elemente auch in höherem Maße austauschbar.

Wie es mit dem Kanon in der Soziologie selbst bestellt sei, fragte zuletzt Manfred Lauermann (Hannover). Zum einen gebe es die Klassikersammlungen, die sich in Deutschland an Personen, in den USA an Textsammlungen festmachten. Zentrale Frage sei jedoch, ob und wie Namen auch nach Generationen noch etwas sagen. Lauermanns einfach Antwort: das tun sie nicht. Kanon in der Soziologie ist eine brüchige Konsensfiktion, die nur so lange Bestand hat, als es Streit um Klassiker gebe. Sobald dieser Streit in Form von historisch-kritischen, von breiten Herausgebergremien getragenen Gesamtausgaben institutionell geschlichtet werde, sei es auch um den Klassiker geschehen: die Werkausgabe als Staatsbegräbnis der Zunft. Anhand der Leselisten des Frankfurter Diplom-Studiengangs zeigte Lauermann, daß sich Kanonisierungen jedenfalls jenseits wissenschaftlicher Sachgesichtspunkte bilden.

Als Ergebnis der Tagung blieb der in den meisten Referaten erscheinende Eindruck, daß sich in der aktuellen Diskussion um Kanon und Bildung eine neue Form sozialer Ungleichheit zeigt: Wer am Schriftkanon ohnehin partizipiert, kann ihn hinterfragen. Wer aber kaum oder gar nicht mehr liest, entwickelt ein primäres Bedürfnis nach Selektion der relevanten Inhalte. Bildungspolitik reagiert darauf mit dem Ausweichen ins Formale ("Bildungsstandards") und der Ausweitung ökonomisierter Kontrollmechanismen. Das, so stand am Ende fest, wird nicht reichen. Denn Bildung realisiert sich immer über konkrete Inhalte. Weil es davon aber so viele gibt, wird man um eine Auswahl nicht herumkommen. Wo diese Auswahl nicht institutionalisiert, also: auf Dauer gestellt werden kann, mutiert Bildung zum Quiz-Show-Wissen: der eine weiß etwas über Fußball, der andere über Dante; aber keiner von beiden, warum das eigene Wissen dem anderen etwas bedeuten sollte.

http://www.soziologie.uni-freiburg.de/kuso-dgs/