Grenzen und 'Kontaktzonen' – Rekonfigurationen von Wissensräumen zwischen Frankreich und den deutschen Ländern 1700-1850

Grenzen und 'Kontaktzonen' – Rekonfigurationen von Wissensräumen zwischen Frankreich und den deutschen Ländern 1700-1850

Organisatoren
Forschungsverbund 'Euroscientia', Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.09.2011 - 16.09.2011
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Von
Birgit Näther, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Gegen eine Konferenz, die 'Wissensräume' als Orte von Grenz- und Kontakterfahrungen thematisiert, könnten zwei Einwände vorgebracht werden: Einerseits könnte die 'Verräumlichung' von Wissen als Absurdität bewertet werden, wenn nämlich gerade die Enträumlichung als konstituierendes Merkmal von Wissen betrachtet wird. Andererseits könnte das Thema, ganz im Gegenteil, nach dem spatial turn als selbstverständliche Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Forschung gesehen werden, die oft genug auf alle Äußerungen der historischen community zum 'Raum' mit theoriegeschwängertem Argwohn reagiert.

Dass es sich manchmal auszahlen kann, vorhersehbare Einwände zu ignorieren, verdeutlicht der vorliegende Fall: Der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Agence nationale de la recherche geförderte europäische Forschungsverbund 'Euroscientia', dem unter anderem Christine Lebeau (Paris), Lothar Schilling (Augsburg) und Jakob Vogel (Paris) angehören, veranstaltete in Augsburg1 eine zweitägige Tagung. Die Leitfrage des Forschungsverbunds, wie Herrschaftsträger und Verwaltungen im 18. Jahrhundert auf naturwissenschaftlich-technisches, als staatsrelevant betrachtetes Wissen ihrer Zeit reagierten, sollte auf der Tagung unter dem Aspekt der komplexen Raumbezüge dieses Wissens erörtert werden. Die zehn vortragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wählten aus ihren Forschungen Beispiele zu dem vom Verbund vereinfacht und gleichzeitig präzisierend als „savoir(s) d'État“ bezeichneten Wissen aus und gingen entprechend der Tagungsperspektive folgenden Fragen nach:

Zunächst grundsätzlich: Welche Konstruktions- und Institutionalisierungsformen konnte das Wissen annehmen? Welchen Status hatte es? Wie wurde es gesammelt und gegebenenfalls diskutiert oder publiziert? Welche Arten der Formalisierung wurden verwendet?

Aber auch spezieller: Welche Gültigkeit wurde dem Wissen beigemessen – war es strikt orts- bzw. staatsbezogen oder allgemein gültig? Können 'Schnittstellen' des Wissensaustausches benannt werden, etwa Gesellschaften, Akademien oder Höfe? Sind bei der Zirkulation des Wissens Grenzen oder Zonen des Kontakts erkennbar, beispielsweise im Hinblick auf die Weitergabe von Wissen oder Wissenstechniken? Können in Grenzlandschaften besondere transterritoriale Prozesse des Austausches von Wissen oder Wissenstechniken beobachtet werden?

Und zuletzt: Haben politische Ereignisse und Prozesse, namentlich Revolution und napoleonische Besetzung, die Zirkulation von Wissen und Wissenstechniken beeinflusst?

Die aus unterschiedlichen Themenbereichen ausgewählten Beispiele sollten Antworten aufzeigen, die anschließend hinsichtlich ihrer exemplarischen Aussagekraft diskutiert werden würden.

Die erste Sektion war der Organisation und dem Austausch von Wissen gewidmet: Die Referenten gingen der Frage nach, wie Wissen erhoben und in welchen Organisationsformen dieses Wissen gespeichert wurde. Zudem wurde thematisiert, ob und gegebenenfalls wie der Austausch und die Diskussion von Wissen gefördert wurde.

BIRGIT NÄTHER (Essen) stellte das landesherrliche Visitationsverfahren im vormodernen Bayern als Instrument der Erhebung von Informationen über Land und Leute vor. Die Referentin rekonstruierte anhand von Quellenmaterial den genauen Hergang von Erhebung, Sicherung und Auswertung der Visitationsergebnisse, erläuterte die Entwicklung der informationellen Interessen der jeweiligen Landesherrschaft im diachronen Vergleich und verwies auf die Bedeutung des Verfahrens für die Administration des Landes.

SIMONA BOSCANI LEONI (Heidelberg) stellte anhand der Korrespondenz des Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) die Verbindungslinien seines europäischen Netzwerks dar und erläuterte Frenquenzen, Art und Inhalt seines gelehrten Austauschs. Boscanie Leoni hob damit die Bedeutung Scheuchzers als Organisator von Wissen zwischen England, Korrespondenten der Alten Eidgenossenschaft sowie Süd- und Nordeuropa hervor.

An diese Überlegungen schlossen Martin Stuber und Jani Marjanen mit ihren Vorträgen zu Ökonomischen Gesellschaften als 'Orten' des Wissensaustauschs an.

MARTIN STUBER (Bern) präsentierte die „Oekonomische Gesellschaft Bern“ als Kontaktzone im europäischen Austausch agrarisch-ökonomischen Wissens. Neben dem zweisprachig erschienenen Publikationsorgan und dem Bibliothekskatalog analysierte Stuber 198 Ehrenmitgliederschaften, welche die Gesellschaft zwischen 1759 und 1800 für Personen im gesamten europäischen Raum vergab. Stuber erläuterte, dass sich die Funktion der Ehrenmitglieder keineswegs in der Generierung von Reputation erschöpfte, sondern vielmehr vielfältige Praktiken des Wissenstransfers und der Wissensorganisation erkennbar sind, welche die Gesellschaft als internationale Organisation konstituierten.

JANI MARJANEN (Helsinki) verdeutlichte anhand der mit Ökonomischen Gesellschaften vergleichbaren Patriotischen Gesellschaft Stockholms, dass die Gründung dieser Form der Gesellschaften ein Spezifikum des europäischen 18. Jahrhunderts sei. Marjanen regte an, diese europäischen Gesellschaften trotz der Diversität ihrer Benennungen und Aktivitäten stets im Zusammenhang zu analysieren, da sie nicht nur hinsichtlich ihrer Arbeit, Rhetorik und Assoziationsform Ähnlichkeiten aufwiesen, sondern untereinander Ideen und Publikationen ausgetauscht und sich selbst in der Regel als Elemente eines europäischen Netzwerks verstanden hätten.

Die zweite Sektion war der Nutzung von Wissen im landesherrlichen Bereich gewidmet. Im Vordergrund stand hier die Frage, ob es 'Schnittstellen' des Wissensaustausches und Grenzen bei der Zirkulation von staatsrelevantem Wissen gab.

BETTINA SEVERIN-BARBOUTIE (Gießen) behandelte diese Fragen anhand des 1806 durch Napoleon gegründeten Groβherzogtums Berg, das gegenüber anderen Rheinbundstaaten als Vorbild etabliert werden sollte. Ausgehend von der – auf Orts- und Fachwissen sowie Sprachkenntnissen beruhenden – zentralen Bedeutung der höheren Staatsdiener aus vorfranzösischer Zeit für die praktische Umsetzung der Reformen verdeutlichte Severin-Barboutie die Schwierigkeiten dieser Situation: Die Amtsträger mussten sich in für sie unbekannte Wissensbestände und Verwaltungsverfahren einarbeiten und neue Informationsnetze erschließen. Karrieren im höheren Staatsdienst und das Übergleiten in Nachfolgeverwaltungen seien ein Indiz für die insgesamt erfolgreich bewältigte Integration in eine neue Wissenssituation.

GUILLAUME GARNER (Lyon) analysierte in seinem Vortrag die Rezeption der Staatswissenschaften im Handels- und Gewerbewesen. Am Beispiel der rheinischen Kaufmannschaft zwischen ca. 1700 und 1830 verdeutlichte Garner das Bemühen der Akteure, ihr praktisch anwendbares institutionelles Wissen zu erweitern. Diese Bemühungen richteten sich insbesondere auf die von Frankreich neu geschaffenen Institutionen. Theoretische Diskurse der Kameralwissenschaft und Nationalökonomie seien hingegen kaum rezipiert worden. Die Bedeutung des beständigen Erwerbs von institutionellem Wissen für die Kaufmannschaft könne an dem nach 1815 erfolgreich durchgeführten Kampf um das 'rheinische Recht' abgelesen werden.

IGOR MOULLIER (Lyon) analysierte den Einfluss von Öffentlichkeit auf Verwaltungshandeln am Beispiel der napoleonischen Reformzeit. Der Referent unterstrich, dass zunächst aufgrund der herrschenden Meinung seitens des französischen Innenministeriums administrative Interventionen im öffentlichen Raum begrenzt wurden. Auch habe das Innenministerium der Zivilgesellschaft Möglichkeiten eröffnet, ohne Umwege über übliche Verwaltungswege direkt mit Beratungsorganen des Innenministeriums in Kontakt zu treten. Moullier führte diese Entwicklung darauf zurück, dass sich erst nach der Verbreitung verwaltungsrechtlichen Wissens in der Öffentlichkeit auch Kenntnisse über Verwaltungshandeln durchsetzen konnten. Die Rekonfiguration des Wissens über staatliches Handeln sei im öffentlichen Raum vorrangig gewesen.

Der Fokus der dritten Sektion war auf die (Grenzen der) Gültigkeit von Wissen und Beispiele für Wissenstransfers gerichtet. Im Vordergrund standen hier Zonen und Zeiten des Kontakts sowie die Gründe für Veränderungen von Prozessen des Wissensaustauschs.

STÉPHANE BLOND (Evry) behandelte in seinem Beitrag den Austausch technischen Wissens zwischen Frankreich und deutschen Territorien am Beispiel der Straßenbauämter in den Jahren zwischen 1750 und 1850. Blond wies darauf hin, dass sich Frankreich im Bereich des Straßenbaus seit der Mitte des 18. Jahrhunderts europaweit Renommee erworben habe. Anhand von Korrespondenzen und Aufzeichnungen der Journaux de Mission rekonstruierte der Referent die Kontaktzonen zwischen französischen und deutschen Akteuren des Straßenbaus und die konkreten Wege und Inhalte des Wissenstransfers. Zwei Beispiele belegten, wie theoretisches Wissen und praktische Ingenieurstätigkeit aus Frankreich in Deutschland zur Anwendung gelangten.

RICHARD HÖLZL (Göttingen) widmete sich in seinem Beitrag dem Mythos des 'deutschen Walds' im 19. Jahrhundert, der zum Symbol nationaler Identität und zum Objekt einer als genuin deutsch klassifizierten Forstwissenschaft wurde. Anhand von Analysen der Rezeption Henri-Louis Duhamel du Monceaus (1700-1782) und Alexandre Moreau de Jonnés' (1778-1870) sowie der Adaption deutscher forstwissenschaftlicher Konzepte und Institutionen verdeutlichte Hölzl den Wissenstransfer zwischen Deutschland und Frankreich sowie den zunehmend globalen Transfer forstlichen Wissens im Rahmen des europäischen Imperialismus. Während Transfers im 18. Jahrhundert als selbstverständlich galten, seien sie im 19. und 20. Jahrhundert in nationale Erzählungen und Legitimationskonstruktionen eingebunden worden, die zunehmend ein Bild vermeintlicher nationaler Eigenständigkeit erzeugt hätten.

MARCUS POPPLOW (Salzburg) analysierte am Beispiel der Kurpfälzisch physikalisch-ökonomischen Gesellschaft ab ca. 1770, ob die Wissensbestände der 'Ökonomischen Aufklärung' von der Epochengrenze um 1800 betroffen waren. Popplow verwies auf institutionelle und personelle Kontinuitäten der Gesellschaft nach 1800 und die durch Personen wie Johann Metzger betriebene Weiterführung ihrer Ziele und Ideen nach 1820. Beide Kontinuitätslinien seien von der Sozietätenforschung bisher weitgehend ignoriert bzw. fehlbewertet worden, da sie nicht aus der Perspektive der Innovationskulturen heraus untersucht worden seien: Popplow plädierte deshalb für eine Wissensgeschichte der Landwirtschaft, die frühneuzeitliche Innovationskulturen perspektivisch integrieren solle, um der vermeintlichen Epochengrenze ihre Statik zu entziehen.

In der Schlussdiskussion wurden die Befunde der Beiträge noch einmal mit Blick auf die übergeordneten Erkenntnisziele gebündelt und auf die Eröffnung neuer Forschungsperspektiven hin befragt.

Zunächst wurde darauf hingewiesen, dass ein Herausgreifen kleinerer Beispiele aus breiten empirischen Strängen stets die Frage nach der Reichweite explorativer Fallstudien aufwirft. Insgesamt sei dieses Vorgehen allerdings notwendig, um die weitere Erforschung von Wissensräumen zu befördern: Während der Tagung wurde immer wieder deutlich, wie groß die Forschungslücken im Bereich der Institutionen- und Soziätetengeschichte jenseits der Höfe sind – auch und gerade aus raum- und epochenübergreifender Sicht.

Ein wichtiges Ergebnis der Tagung war die Infragestellung jeder vermeintlich selbstverständlichen Vorabdefinition des untersuchten Raums. Oft würden Forschungspotentiale verschenkt, wenn der Raum als primordiales Faktum und nicht als historische Frage betrachtet werde: So ergebe sich eine Definition anhand von Landesgrenzen meist schon durch die Sortierung und Aufteilung der Quellen in Archiven, die sich selber an Landes- oder Regionalgrenzen orientieren. Stattdessen solle beim Entwurf des Forschungsdesigns die Bindung von Räumen an Menschen und das 'Denken in Flächen' zugunsten eines 'Denkens in Prinzipien' in den Blick genommen werden. Zugleich sei es wichtig, eine Definition der Qualität dieser Räume vorzunehmen. Dies führten vor allem die bei einigen Vorträgen gezeigten Karten zu Netzwerken vor Augen: Verband man die Kontaktpunkte, so standen nicht mehr Länder oder Regionen im Vordergrund, sondern vielmehr der durch das Netzwerk erschaffene Raum des Wissenstransfers. Weitere Forschungen könnten deshalb, so der Vorschlag, die Aktions- und Wissensräume der historischen Akteure zum maßgeblichen analytischen Bezugsrahmen von Untersuchungen machen. Von diesen Überlegungen ausgehend wurde auch darüber diskutiert, ob der eingangs eingebrachte Begriff der 'Wissenszirkulation' die falsche Assoziation einer (räumlichen) Begrenzung von Wissen hervorbringen und mithin den Raumbegriff kontraproduktiv beeinflussen könne.

Über diese interessanten Ergebnisse hinaus wurde am Ende der Tagung deutlich, dass einige wichtige Themen und die Entwicklung trennscharfer Definitionen noch weiterer Forschung und Diskussion bedürfen: Neben der Historisierung des Missbrauchs von Wissen zählte hierzu vor allem die Frage, wie die Beziehung zwischen Informationen und Wissen zu konzeptualisieren sei – entsprechend vielfältig war die Terminologie der Vorträge: Informationen, Daten, Ideen, Kenntnisse oder Wissen?2 Es gibt Tagungen, die zeigen dank ihrer Perspektiven und der Austauschfreudigkeit ihrer Organisatoren und Teilnehmer, warum historische Forschung eine produktive und kurzweilige Unternehmung sein kann. Gut, wenn Fragen offen bleiben!

Konferenzübersicht:

Lothar Schilling, Augsburg/Jakob Vogel, Paris: Einführung

Sektion I

Birgit Näther, Essen: Wissen und Herrschaft: Zur Bedeutung der landesherrlichen Visitation im vormodernen Bayern

Simona Boscani Leoni, Heidelberg: Johann Jacob Scheuchzer als Organisator der Wissens

Martin Stuber, Bern: Die Oekonomische Gesellschaft Bern als «Kontaktzone» im europäischen Austausch agrarisch-ökonomischen Wissens

Jani Marjanen, Helsinki: Economic Societies as Reform Organisations: State Knowledge and Voluntary Association in Eighteenth-century Sweden

Sektion II

Bettina Severin-Barboutie, Gießen: Rekonfiguration von Wissen. Die höheren Staatsdiener im Großherzogtum Berg (1806-1813)

Guillaume Garner, Lyon: Conditions, modalités et limites du transfert des savoirs de l’Etat vers les milieux marchands en Allemagne (milieu du XVIIIe siècle – années 1830)

Igor Moullier, Lyon: Administration et Öffentlichkeit : les défis de la réforme (1800-1830)

Sektion III

Stéphane Blond, Evry: Les échanges techniques entre la France et L'espace allemand dans le domaine des Ponts et Chaussées: 1750-1850

Richard Hölzl, Göttingen: Der 'deutsche' Wald als Objekt eines transnationalen Wissenstranfers? Forstreform in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert

Marcus Popplow, Salzburg: Zum Weiterleben der "Ökonomischen Aufklärung" nach 1800: Das Fallbeispiel Kurpfalz/Baden

Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Die vor Ort von Lothar Schilling und Regina Dauser organisierte Tagung wurde zusätzlich von der Gesellschaft der Freunde der Universität Augsburg e.V. unterstützt.
2 Eine zeitnahe Publikation der Tagungsergebnisse ist online auf der Plattform des Deutschen Historischen Instituts Paris, perspectivia.net, unter der Rubrik 'Discussions' zu erwarten.


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Englisch, Französisch, Deutsch
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