Demokratiewunder? Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Demokratisierung Westdeutschlands von 1945 bis zur Mitte der 1960er Jahre

Demokratiewunder? Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Demokratisierung Westdeutschlands von 1945 bis zur Mitte der 1960er Jahre

Organisatoren
The American Academy in Berlin Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas, Berlin Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.12.2003 - 13.12.2003
Von
Jens Niederhut, Freie Universität Berlin

War die Demokratisierung Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg ein "Wunder"? Die Lage in Deutschland nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur und angesichts der Zerstörungen des Krieges schien jedenfalls eher ungünstige Rahmenbedingungen für eine funktionierende Demokratie zu bieten. Auf ein "Demokratiewunder" wartet die Welt gegenwärtig auch im Falle des Irak. Eine Gesellschaft, in der demokratische Vorstellungen nicht verhaftet sind, ein verlorener Krieg, ein gestürzter und inhaftierter, aber dennoch präsenter Diktator und eine Besatzungsmacht, der in der Bevölkerung wenig Sympathien entgegengebracht werden, sind die wenig erfolgversprechenden Voraussetzungen der Demokratisierung im Irak. Aber waren nicht vergleichbare Probleme auch im Nachkriegsdeutschland bewältigt worden? War hier nicht das Demokratie-Experiment gelungen? Die westdeutsche "Erfolgsgeschichte" nutzt die amerikanische Regierung in letzter Zeit verstärkt zur Legitimation ihrer Irakpolitik, und auch die Medien ziehen immer wieder diesen Vergleich.

Unter dem Eindruck dieser Debatte widmete sich am 12. und 13. Dezember 2003 in der American Academy in Berlin eine von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung der Demokratisierung Westdeutschlands nach 1945 und der Rolle der Vereinigten Staaten in diesem Prozess. Auf die Komplexität dieser Vorgänge wies Arnd Bauerkämper (Berlin) in seinen einleitenden Bemerkungen hin. Nicht nur die Etablierung neuer demokratischer Institutionen müsse untersucht werden, sondern vor allem auch die langfristige Verwurzelung demokratischer Werte in der Gesellschaft. Die American Academy war ein gut gewählter Ort für eine solche Thematik, wie Gastgeber Paul Stoop in seiner Begrüßung betonte. Schließlich ist sie seit ihrer Gründung 1998 eine Stätte des Dialogs und des Austauschs zwischen Deutschland und den USA.

In seinem einführenden Referat verwies Konrad H. Jarausch (Potsdam/Chapel Hill) auf die beiden Narrationen, von denen die Historiographie der Nachkriegszeit bestimmt wurde. Zum einen würde die Demokratisierung Westdeutschlands einseitig zur Erfolgsgeschichte stilisiert, zum anderen der restaurative Charakter der frühen Bundesrepublik betont, der nur von einem "Demokratievorhang" bemäntelt worden sei. Mit vier Thesen führte Jarausch in die Diskussionen der Tagung ein: 1. Das eigentliche "Wunder" sei die Bekehrung der Deutschen zur Demokratie, die kaum vorhersehbar war und eher unbeabsichtigt einsetzte. 2. Die Demokratisierung war nicht einseitig aufgezwungen worden, sondern ein Ergebnis der Interaktion zwischen Amerikanern und Deutschen. 3. Die Verinnerlichung der Demokratie war ein langwieriger Lernprozess. 4. Das deutsche Beispiel ist nur begrenzt auf andere Fälle übertragbar: zum einen wegen der vorhandenen demokratischen Minderheit in Deutschland, zum anderen aufgrund der Kompetenz in den USA über Deutschland.

"Die amerikanische Demokratisierungspolitik und ihre Akteure" war der Titel der ersten Sektion, die von Axel Schildt (Hamburg) moderiert wurde. In der amerikanischen Regierung und bei den Besatzungsbehörden waren unterschiedliche Vorstellungen darüber vorhanden, welche Ziele der Besatzung Deutschlands zugrunde gelegt und wie diese Ziele erreicht werden sollten. Insbesondere zwischen dem Militär und dem Außenministerium kam es immer wieder zu Konflikten. Auch ist die Demokratisierung Westdeutschlands vor allem in den ersten Jahren von sekundärer Bedeutung für die Amerikaner gewesen. Hermann-Josef Rupieper (Halle), dessen Vortrag verlesen wurde, da der Referent nicht anwesend sein konnte, wies darauf hin, dass die Beseitigung des Nationalsozialismus und der autoritären Strukturen als dringlicher empfunden wurde.

Auf die Wechselwirkung mit der Sowjetunion und die Rahmenbedingungen des Kalten Krieges machten Jessica Gienow-Hecht (Frankfurt/Main) und Maria Höhn (Vassar) aufmerksam. Gienow-Hecht zeigte, dass die Bemühungen der USA sich durch Tourneen amerikanischer Orchester in Deutschland als Hochkulturland zu präsentieren, eine Reaktion auf ähnliche Maßnahmen der Sowjetunion waren. Höhns Referat verdeutlichte, dass die beschleunigte Integration schwarzer Soldaten in den amerikanischen Besatzungstruppen maßgeblich durch sowjetische Kampagnen gegen die Rassentrennung beschleunigt wurde. Während der "Kulturkampf" zwischen Ost und West als erfolgreich für die USA gewertet werden kann, führten die Verbindungen zwischen deutschen Frauen und schwarzen GIs, die durch deren Integration erst möglich wurden, zu Konflikten mit der deutschen Bevölkerung. Hier zeigt sich zum einen der weiter reichende Einfluss des nationalsozialistischen Rassismus, zum anderen wird deutlich, dass in den Nachkriegsjahren Rassentrennung und Demokratie durchaus als kompatibel angesehen wurden. Für die Deutschen war das Bündnis mit den Amerikanern eine Allianz mit einer "weißen Nation". Eine besondere Position in den Besatzungsbehörden nahmen deutsche Emigranten in amerikanischen Diensten ein. Marita Krauss (Bremen) zeigte auf, dass sie beim Aufbau demokratischer Institutionen, insbesondere im Pressewesen, eine wichtige Rolle übernahmen.

Zum Abschluss des ersten Konferenztages fanden sich die Teilnehmer zum "After-Dinner-Talk" mit Melvin J. Lasky (Berlin) zusammen, der in der Besatzungszeit als Berater von General Clay tätig gewesen war, dann zu den Begründern des Kongresses für Kulturelle Freiheit gehörte und auch später immer wieder Verbindungen zwischen Berlin und den USA knüpfte.

Die zweite Sektion, "Die Auseinandersetzung mit amerikanischen Demokratiemodellen in Westdeutschland zwischen Aneignung und Abwehr", konzentrierte sich auf das komplexe Amerikabild und Amerikaverständnis in Deutschland. Die verbreitete Amerika-Kritik sowohl im "linksintellektuellen" als auch im konservativen Milieu behandelten die Beiträge von Sean A. Forner (Chicago), Marcus M. Payk (Potsdam) und Michaela Hönicke-Moore (Chapel Hill). Die von Forner untersuchten "linksintellektuellen" Publizisten sahen sich bei der Neuordnung Deutschlands in der Pflicht, unter Rückgriff auf eigene Traditionen eine angemessene Form der Demokratie zu finden. Sie grenzten sich dabei von der als zu formal begriffenen repräsentativen Demokratie anglo-amerikanischer Prägung ab. Payk zeigte, dass der Versuch von Karl Korn, dem Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Leiter ihres Feuilletons, die USA als Land der Hochkultur zu präsentieren, auf erheblichen Widerstand innerhalb des Frankfurter Blattes stieß. Dieser Konflikt kann wohl als beispielhaft für das konservativ-intellektuelle Milieu der 1950er Jahre gelten. Dem Antiamerikanismus von Margret Boveri stellte Hönicke-Moore die positive Rezeption amerikanischer Demokratiemodelle bei Dolf Sternberger gegenüber. Abschließend sprach Brian Puaca (Chapel Hill) über ein von der US-Regierung initiiertes Austauschprogramm für westdeutsche Lehrer, denen die Möglichkeit gegeben werden sollte, das amerikanische Erziehungssystem aus eigener Anschauung kennen zu lernen. Dass das Konzept des Kulturtransfers für die Analyse des Verhältnisses von Aneignung und Abwehr besonders gut geeignet ist, befand Ursula Lehmkuhl (Berlin), die Moderatorin dieser Sektion, in ihren Diskussionsbeiträgen. Außerdem plädierte sie für die Konzentration auf biographische Studien und Rekonstruktion einzelner Fallbeispiele.

Das Spannungsverhältnis der Anziehungskraft anglo-amerikanischer Modelle einerseits und deutschen Traditionen andererseits stand im Zentrum der dritten Sektion, "Demokratie zwischen deutschen Staatstraditionen und amerikanischem Pluralismus", oder "What do you mean by democracy?", wie Moderator Klaus Schwabe (Aachen) das Thema der Vorträge auf den Punkt brachte. Hier - wie aber auch schon zuvor - wurden die zur Erklärung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte häufig verwendeten Begriffe "Amerikanisierung" und "Westernisierung" kritisch beleuchtet. Arnd Bauerkämper wandte sich in seinem Referat ausdrücklich gegen diese Konzepte. Anhand der Biographien und politischen Konzeptionen Arnold Bergstraessers und Ernst Fraenkels legte er die für die Entwicklung der jeweiligen Demokratiemodelle zentrale Erfahrung der Emigration dar, zeigte aber auch die Bedeutung des jeweiligen biographischen Hintergrundes vor der Flucht auf. Aus diesem Grund betonte er die entscheidendende Rolle der "politisch-kulturellen Pluralisierung" in der Bundesrepublik seit den späten 1950er Jahren. Frieder Günther (Tübingen) hingegen plädierte in seinem Beitrag zur Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre in den 1960er Jahren dezidiert für den Begriff "Westernisierung", der am besten für die Analyse der Verbindung deutscher Traditionen und westlich-atlantischen Einflüssen geeignet sei. Die amerikanische Perspektive auf den Demokratisierungsprozess Westdeutschlands nahm Raimund Lammersdorf (Washington, D.C.) ein. Er macht in seinem Vortrag auf den Widerspruch aufmerksam, dass die Demokratie in Westdeutschland maßgeblich von autoritären Eliten aufgebaut wurde.

Die Debatte um die "Westernisierung" setzte sich auch in der abschließenden Podiumsdiskussion fort. Alfons Söllner (Chemnitz) plädierte für einen differenzierten Demokratiebegriff bei der Untersuchung von Demokratisierungsprozessen. Den Begriff "Amerikanisierung" lehnte er als zu pauschal ab, "Westernisierung" bzw. "Verwestlichung" hingegen als zu stark. Eher sollte von einer "Umorientierung des kulturellen Horizontes in Richtung Westen" gesprochen werden. Im Vergleich zu der ostdeutschen Entwicklung würde die Dynamik der West-Orientierung deutlich werden. Schon zuvor hatte Söllner auch "Internationalisierung" und "Modernisierung" anstelle von Westernisierung in die Diskussion eingebracht.

Die Podiumsdiskussion war zuvor mit Eingangsstatements von Arnd Bauerkämper, Christina von Hodenberg (Berkeley), Robert G. Livingston (Washington, D.C.) und Alfons Söllner eröffnet worden. Generell konzentrierte sich die Diskussion aber rasch auf die Frage nach der Vergleichbarkeit der Demokratisierungsversuche in Westdeutschland und im Irak. Einerseits scheint eine ähnliche Grundkonstellation gegeben zu sein, zum Beispiel - wie Arnd Bauerkämper betonte - hinsichtlich der Vermittlung von Demokratie in einem skeptischen Umfeld und der Rolle, die Mediatoren dabei spielen müssten. Andererseits bleibt das Problem der fehlenden "kulturellen Kompatibilität" im Irak (Jessica Gienow-Hecht). Die Journalistin Elizabeth Pond wies auf den wohl nützlicheren Vergleich der Fälle Irak und Jugoslawien hin, denen zum Beispiel das Fehlen eine Mittelschicht und die Clan-Struktur gemeinsam sei. Als wesentlichen Faktor für die raschen Reformerfolge in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens sah sie allerdings Europa, das Sicherheit und ökonomischen Erfolg garantiere. Abschließend stellte Klaus Schwabe fest, dass die Vergleiche zwischen den verschiedenen Besatzungs- und Demokratisierungsprozessen nun einmal gemacht würden. Aufgabe des Historikers müsste die kritische Untersuchung und Dekonstruktion dieser Vergleiche sein.

Ob die Untersuchung der deutschen Nachkriegsgeschichte und des Demokratisierungsprozesses in Westdeutschland tatsächlich Aufschlüsse über die Entwicklung in anderen Transformationsgesellschaften gibt, konnte auch in der American Academy nicht abschließend geklärt werden. Generell lässt sich allerdings festhalten, dass die Demokratisierung Westdeutschlands ein weit komplexerer Prozess ist, als es die bundesrepublikanische "Erfolgsgeschichte" zunächst vermuten lässt. Besonders für die "dynamischen" 1960er Jahre, in denen die Demokratie in der westdeutschen Gesellschaft feste Wurzeln fasste und sich als Lebensgefühl etablierte, sind im Detail wohl noch viele Fragen offen.

http://www.fu-berlin.de/zvge; http://userpage.fu-berlin.de/~niederhu
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