Prosopographisch arbeiten. Inhalte – Methoden – Erfahrungen – Desiderata

Prosopographisch arbeiten. Inhalte – Methoden – Erfahrungen – Desiderata

Organisatoren
Herder-Institut Marburg; Justus Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.05.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Antje Coburger, LOEWE-Schwerpunkt "Kulturtechniken und ihre Medialisierung", Herder-Institut Marburg

Die fortschreitende Umstellung wissenschaftlicher Arbeit und Dokumentation auf elektronische Grundlagen mit ihren enormen Nutzungspotenzialen, aber auch neuen Problemen wird seit einigen Jahren eingehend diskutiert. Durch Impulse aus dem Bibliothekswesen erhielt das Thema der Normierung von elektronischen Daten zusätzlich eine besondere Relevanz. Im Fokus der biografisch-lexikalisch arbeitenden Projekte standen bisher vor allem die Nutzung der Personennamendatei (PND) der Deutschen Nationalbibliothek und die Möglichkeiten der Verknüpfung von biografischen Informationen.1 Den Fragen, wie sich der digitale Wandel auf die Arbeitspraxis und die Arbeitsumgebung prosopographischer Projekte bisher ausgewirkt hat und wie die einzelnen Arbeitsgruppen und Forscher künftig miteinander kommunizieren und sich vernetzen können, war der eintägige Workshop der Justus-Liebig-Universität Gießen und des Herder-Instituts Marburg gewidmet.

Eingeladen wurden exemplarisch namhafte Projekte und Wissenschaftler aus Deutschland und dem europäischen Ausland, die auf Grund der jeweils spezifischen Probleme in zwei Zeitblöcken (Mittelalter sowie Neuzeitbezogene und epochenübergreifende Projekte) über ihre Ziele, Erfahrungen und Perspektiven berichteten. Ausgehend von den Erfahrungen der Literaturdokumentation Ostmitteleuropa2 unternahm ELIGIUSZ JANUS (Marburg) in seinem einführenden Referat den Versuch, anhand einer Übersicht über laufende prosopographische Projekte ihre Hauptmerkmale herauszuarbeiten und Desiderata für prosopographisch arbeitende Forscher zu benennen. Dabei kamen Ideen für einen Personen-Thesaurus, Konzeptvorschläge für eine Prosopographie Ostmitteleuropas aber auch Entwürfe zum Aufbau einer Datenbank für die Einbindung individuell arbeitender Forscher mit der Perspektive der Schaffung eines kollaborativ funktionierenden Online-Forums zur Sprache. NORBERT KERSKEN (Marburg) ergänzte die Einführung mit dem Hinweis auf die Bedeutung der Prosopographie für Kirchengeschichte und Stadtgeschichte, wenn zum Beispiel Bürgerbücher oder Matrikel ausgewertet würden.

Die mittelalterliche Sektion eröffnete BJÖRN GEBERT (Frankfurt am Main) mit einem Einblick in die Arbeitsmethoden und Probleme des Projekts „Panorama Victorinum“3, der Geschichte der Abtei St. Victor in Paris. Schon in diesem Beitrag klang das gemeinsame Hauptproblem aller Vorhaben an: Die Fülle und Knappheit der Quellen bei der Erschließung der Daten zu Einzelpersonen. Aus dem Personenverband der Abtei sind im Projekt momentan 800 Personen recherchierbar.

Es folgte die Vorstellung des international und kooperativ betriebenen Vorhabens „RAG - REPERTORIUM ACADEMICUM GERMANICUM. Die graduierten Gelehrten des Alten Reiches zwischen 1250 und 1550“ 4 durch WOLFRAM C. KÄNDLER (Gießen). Neben weiteren, für das Mittelalter spezifischen Problemen wie der Identifikation von Personen, der Schreibweise der Personennamen und der abweichenden Funktionsbezeichnungen informierte Kändler, wie bereits sein Vorredner, über die parallel zur Personenerfassung laufende wissenschaftliche Auswertung des erschlossenen Datenmaterials. Das RAG repräsentiere eine Geschichte des universitären Wissens von 1250 bis 1550 und umfasst momentan rund 26.000 recherchierbare Personen. Er wies zugleich auf inhaltliche Überschneidungen mit der „Klerikerdatenbank der Germania Sacra“ 5 hin, die von NATHALIE KRUPPA und BÄRBEL KRÖGER (beide Göttingen) präsentiert wurde. Als das älteste der vorgestellten Projekte und Teil eines breit angelegten Forschungsvorhabens mit historisch bedingten Verfahren und Beständen steht die Klerikerdatenbank vor einer grundlegenden technologischen Neugestaltung. Ausgangspunkt dieser Datenbank war ein Konvolut von 150 Karteikartenkartons mit etwa 135.000 Karteikarten.

Einen detaillierten Einblick in ihre methodische Werkstatt gewährte EVA DOLEŽALOVÀ (Prag) durch den Beitrag über die „Kleriker der Prager Diözese in der Zeit vor der Reformation“. Den Schwerpunkt legte sie dabei auf den Umgang mit Unsicherheiten bei der Erfassung und Auswertung von Massendaten. Spezielle Fragestellungen möchte die Referentin mit Hilfe der Kopplung an weitere böhmische Datenbanken besser lösen können. Auch das Thema der Datennachnutzung kam in der anschließenden Diskussion zur Sprache.

In die neuzeitliche Epoche führte JOSEF FOCHT (München) mit der Präsentation des konzeptionell und technisch sehr ausgereiften „Bayerischen Musiker-Lexikons Online“ 6 ein, das alle gängigen Features eines Vorzeige-Onlinekatalogs bietet: die Einbindung der PND, umfangreiche Recherchemöglichkeiten, Verlinkungen zu Onlineressourcen wie Lexika und Normdaten sowie einen Permalink. Zudem ist das Portal angereichert mit Bild- und Tondateien.

Über das Beispiel einer interdisziplinären und kollaborativ betriebenen Datenbank aus dem Bereich der Kunstgeschichte, der Geschichte und der Soziologie sprach ANETT LADEGAST (Berlin). Wenngleich bei dem „REQUIEM“-Projekt 7 die Grabmäler der römischen Päpste und Kardinäle der frühen Neuzeit im Vordergrund stehen, umfasst der methodische Ansatz außer den Kirchenmännern auch Personen, die mit der Entstehungsgeschichte der Grabdenkmäler in Verbindung stehen, wie Baumeister und Stifter. Bilder und Grabmalsdaten werden zudem verknüpft mit der Bilddatenbank „prometheus“.8

Eine gelungene Verbindung von Textkorpora und personengeschichtlichen Daten präsentierte MARGARETTE WITTKE (München) am Beispiel der „Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten“ 9, in deren Entwicklungsgeschichte sich die Computerisierung des Bibliothekswesens widerspiegelt. In diesem Fall stellt die Pflege einer weitgehend fertigen Datenbank eine Herausforderung dar.

Die verschlungenen Wege, die zur Entstehung einer wertvollen prosopographischen Sammlung führen können, schilderte KATRIN NELE JANSEN (Duisburg) mit dem „Biographischen Handbuch der Rabbiner“. 10 Als „Nebenprodukt“ einer Forschungsarbeit zum Rabbinat im 19. Jahrhundert entstand ein umfangreiches biografisches Wörterbuch, das wiederum schrittweise in eine elektronische Datenbank umgewandelt wird. Derzeit sind 2.700 Einträge für den Zeitraum 1781-1945 vorhanden. Die Erweiterungen erfolgen gleich online, immer in enger Kommunikation mit den Nutzer/innen.

Die Präsentation prospographischer Projekte schloss die Netzwerkforscherin KATRIN HIRTE (Linz) mit der Vorstellung des einschlägigen Teils ihrer Arbeit über die „Professorale Scientific Community der deutschen Agrarökonomie und Agrarpolitik“. Als anregend und zukunftweisend zeigte sich dabei die Verbindung von individuellen Lebensläufen in ihrer sozialen und beruflichen/institutionellen Umwelt sowie deren grafischer Darstellung in Form von Querverbindungen und Karten.

Thematisiert wurden auch die finanziellen Engpässe insbesondere bei Zeitprojekten, die eine inhaltliche und technologische Abrundung deutlich erschweren. Die Zusammenfassung der Tagungsergebnisse, die zu einer Schlussdiskussion führte, übernahm JÖRG HACKMANN (Szczecin/Stockholm). Unterschiede in der Bewältigung der Herausforderungen des digitalen Wandels in der Forscherwelt im Osten und Westen Europas konnte er nicht ausmachen. Wie andere wissenschaftliche Disziplinen so müsse auch die prosopographische Arbeit sich den neuen Entwicklungen wie etwa des „Social Web“ unter Wahrung der Qualität und wissenschaftlichen Normen stellen. Er plädierte schließlich für die Schaffung einer gemeinsamen Informations- und Dokumentationsplattform.

Die Tagung zeigte durch ihren Workshop-Charakter wie wichtig der Austausch zwischen ähnlich arbeitenden Projekten ist. Durch ein gegenseitiges Hinweisen auf Probleme und deren Lösungsversuche lassen sich prosopographische Fragestellungen effektiver angehen. Der unterschiedliche Ausgangspunkt für die Anlage von prosopographischen Datensammlungen, einerseits konkrete Forschungsprojekte, andererseits Langzeitvorhaben macht die verschiedenen Zugriffe deutlich, die sich in einer Vernetzung beispielsweise in Form eines Webportals zum gegenseitigen Vorteil nutzbar machen lassen und Forschungsmethoden auch nach außen besser sichtbar werden lassen.

Konferenzübersicht:

Peter Haslinger: Begrüßung

Eligiusz Janus: Einführung

Sektion I: Das Mittelalter. Aufgaben, Methoden und Probleme prosopographischer Arbeit
(Moderation: Norbert Kersken, Marburg)

Björn Gebert: Panorama Victorinum

Wolfram C. Kändler: RAG - REPERTORIUM ACADEMICUM GERMANICUM. Die graduierten Gelehrten des Alten Reiches zwischen 1250 und 1550

Nathalie Kruppa / Bärbel Kröger: Die Klerikerdatenbank der Germania Sacra

Eva Doležalová: Kleriker der Prager Diözese in der Zeit vor der Reformation. Datenbanken, Möglichkeiten ihrer Kopplung und Unsicherheitsmanagement

Sektion II: Neuzeitbezogene und epochenübergreifende Projekte
(Moderation: Antje Coburger, Marburg)

Josef Focht: Normdatenstrukturen des Bayerischen Musiker-Lexikons Online

Anett Ladegast: REQUIEM-Datenbank - Personengeschichtliche Datenbank zu den Kardinälen der Frühen Neuzeit

Margarette Wittke: Datenbank der deutschen Parlamentsabgeordneten

Katrin Nele Jansen: Das Biographische Handbuch der Rabbiner (BHR)

Katrin Hirte: Die professorale Scientific Community der deutschen Agrarökonomie und Agrarpolitik

Abschlussdiskussion: Zukunftsperspektiven - Aufbau - Normen - Vernetzung
(Moderation: Jörg Hackmann, Greifswald / Szczecin)

Anmerkungen:
1 <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=14175 (06.09.2011).
2 <http://www.herder-institut.de/startseite/bibliographieportal/literaturdatenbank/personensuche.html (06.09.2011).
3 <http://www.sankt-georgen.de/hugo/prosopographie/index.php (06.09.2011).
4 <http://www.rag-online.org/> (06.09.2011).
5 <http://www.uni-goettingen.de/de/77052.html (06.09.2011).
6 <http://www.bmlo.lmu.de/> (06.09.2011).
7 <http://requiem-projekt.de/
8 <http://prometheus-bildarchiv.de/> (06.09.2011).
9 <http://www.reichstag-abgeordnetendatenbank.de/select.html?recherche=ja&pnd=1192540694069> (06.09.2011).
10 <http://www.steinheim-institut.de/wiki/index.php/Biographisches_Handbuch_der_Rabbiner_%28BHR%29> (06.09.2011).


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