Fotografie als Quelle der Medizingeschichte

Fotografie als Quelle der Medizingeschichte

Organisatoren
Arbeitskreis für Sozialgeschichte der Medizin am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.12.2003 - 09.12.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Helen Bömelburg, Hamburg

Das Stuttgarter Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung veranstaltete am 8. und 9. Dezember 2003 den nunmehr siebten "Arbeitskreis Sozialgeschichte der Medizin". Thema der von Philipp Osten organisierten Tagung waren "Fotografien als Quelle der Medizingeschichte". Cornelia Brink (Freiburg) formulierte in ihrem Eröffnungsvortrag vier Untersuchungsfelder. Hieraus ergaben sich die leitenden Fragestellungen für eine sozial-, kultur- und wissenschaftsgeschichtlich argumentierende Medizingeschichte, die Fotografien für sich nutzbar machen will.

Zunächst ging es um eine Bestandsaufnahme medizinischer Fotos. Bisher ist vermutlich nur ein Bruchteil der Bilder zur Kenntnis genommen worden, die in staatlichen Archiven oder den Beständen der Kliniken und Anstalten lagern. Als medizinische Fotografien können solche Bilder gelten, die von Ärzten oder in deren Auftrag zu medizinischen oder juristischen Zwecken angefertigt wurden. Gegenstand dieser Fotos war der menschliche Körper - zunächst in seiner Gesamtheit, gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend fragmentiert. Der Patient als Individuum trat mehr und mehr hinter die wissenschaftlich wahrgenommenen Einzelheiten seines Körpers zurück. Gehören demnach auch Röntgenbilder und digitale Fotos zu den fotografischen Quellen? Wie soll mit Bildern verfahren werden, die die Formensprache medizinischer Fotografie aufnehmen (z.B. Fotos aus dem Konzentrationslager Auschwitz)?

Das zweite Untersuchungsfeld galt der Quellenkritik. Verbindliche Regeln der kritischen Analyse von Fotografien gibt es bislang nicht. Nur die wenigsten Bestände - wie beispielsweise die berühmten Arbeiten der Wissenschaftler und Fotografen Guillaume Duchenne de Boulogne, Francis Galton, Hugh Diamond und Jean-Martin Charcot - wurden fotogeschichtlich untersucht. Geschichtswissenschaftliche Fragen an eine Fotografie lauten daher zunächst: Wer hat wen fotografiert? An welchem Ort? Zu welchem Zweck? Die neuere Wissenschaftsgeschichte, vom "pictorial turn" inspiriert, untersucht darüber hinaus die Herstellung von Bildern an Orten wissenschaftlicher Praxis. Denn Bilder sind an der Willens- und Wissensbildung wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Gesellschaftsgruppen maßgeblich beteiligt. Diesen Punkt vertiefte die Referentin im dritten Teil: Wie lernten Experten ein Foto zu lesen? Warum wurde es in bestimmter Weise hergestellt und welche Beweiskraft wurde ihm zugesprochen? Dies sind Fragestellungen, die für das Verständnis medizinischer Fotografien fruchtbar sind. Denn die Evidenz eines Bildes steckt nicht nur im Bild selbst, sondern entsteht erst durch seinen Gebrauchszusammenhang. Wissenschaftliche Aussagen auf Fotos sind ein Konstrukt, das es zu untersuchen gilt. "Ohne Fotografie kein hysterischer Anfall", so ließe sich dies auf die Fotos von Charcots Hysterikerinnen beziehen, die über den medizinischen Kontext hinaus verbreitet waren.

Der vierte und letzte Teil befasste sich mit der Repräsentation von Patienten und Krankheiten. Cornelia Brink veranschaulichte diese Problematik anhand der aktuellen Ausstellung "Porträt der Krankheit" im Berliner Medizinhistorischen Museum. Dort werden zeitgenössische Fotos schwarzer Patienten aus Südafrika gezeigt, die laut Katalogtext zu "Ikonen ihrer Krankheit" und gleichzeitig zu einem "eigenen Stück Kunst" würden. Im Kommentar zur Ausstellung heißt es, der Fotograf und Arzt Miguel Ribeiro habe es gewagt, "Schönheit dort zu finden, wo andere praktische Ärzte lediglich daran interessiert sind, die Subjekte ihrer klinischen Studien zu objektivieren." Was auf Fotos gesehen werden kann, so schlussfolgerte Cornelia Brink, ist nicht die Wahrheit, sondern es sind Effekte der Repräsentation. Die Geschichte medizinischer Fotos sollte demzufolge als Geschichte der Gebrauchsweisen geschrieben werden. Denn sowohl Herstellungsabsicht als auch der Kontext der Fotos entscheiden maßgeblich über ihre Aussagen. Medizinische Fotografien sind als komplexes Zusammenspiel von technischem Apparat, Institutionen, Sichtbarkeiten, Diskursen und Körpern zu analysieren.

Philipp Osten (Stuttgart) führte in seinem Vortrag "Patientenfotografien als Zeugnisse medizinischer Propaganda" in die Ikonographie von Patientenbildern ein. Anhand von Bildbeispielen aus dem "Oskar-Helene-Heim", einer Berliner Heilanstalt für körperbehinderte Kinder, machte er deutlich, wie medizinische Fotos als Aufklärungsmaterial für eine in den 1920er Jahren sogenannte "hygienische Volksbelehrung" genutzt wurden. Die Bilder körperbehinderter Kinder, sonnenbadend auf der Terrasse oder festgezurrt im Streckapparat, zeigen eine medizinische Idylle. Die Anstaltsleitung wollte bewusst den Eindruck vermitteln, dass die "Krüppelkinder" durch kunstvolle Behandlung zu einem normalen, gesunden Körper kommen können - mittels modernster Technologie und medizinischer Erkenntnisse. Im Anschluss an diesen Vortrag bemerkten die Diskutanten, dass die Fotos zwar viel über die Intention ihrer Macher aussagen, dass Bilder aber zu jeder Zeit und in jedem Kontext anders rezipiert werden können. Es gebe zwar eine dominierende, gewünschte Lesart, die aber letztlich nicht steuerbar sei. Die Intention sei beim Herstellungsprozess nur ein Faktor unter vielen, hielten die Teilnehmer der Diskussion fest.

Felix Hoffmann (Essen) sprach im Anschluss über "Aspekte der postmortalen Fotografie des 19. Jahrhunderts". Kurz nach der Erfindung der Fotografie wurden massenhaft Aufnahmen von Leichen angefertigt. Verstorbene wurden beispielsweise mit aufgemalten Augen und abgestützten Gliedern "wie Lebende" inszeniert. Aus süddeutschen und österreichischen Quellen leitete Hoffmann eine breite europäische Praxis der Leichenfotografie ab, die die Einstellungen und das Verhalten der Zeitgenossen zum Tod und zum Toten erhellen. Neben einer veränderten Jenseitsvorstellung war es vor allem die Verwissenschaftlichung von Tod und Leiche, die das Friedhofs- und Bestattungswesen im ausgehenden 18. Jahrhundert grundlegend veränderte. Der tote Körper verschwand im Verlauf des 19. Jahrhunderts aus der Lebenswirklichkeit der Menschen. An die Stelle des Leichnams traten mehr und mehr die Bilder des Verstorbenen. Die Totenfotografie belegt diesen mentalitätsgeschichtlichen Wandel in anschaulicher Weise.

Helen Bömelburg (Hamburg) machte in ihren Ausführungen zur "Inszenierung von Patientenporträts in der deutschen Psychiatrie" deutlich, wie Anstaltsärzte und Klinikpsychiater ein bestimmtes Bild von psychisch Kranken entstehen ließen. Porträts von Geisteskranken gehörten um 1900 zum festen Bestandteil der Krankenakten, sie wurden in Universitäten als Lehrmaterial verwendet und in großer Zahl in psychiatrischen Lehrbüchern abgedruckt. Die Bilder konstruierten eine bestimmte Wirklichkeit, die durch Inszenierung entstand - sowohl durch die ästhetische und technische Gestaltung des Bildes, als auch den textlichen und bildlichen Zusammenhang, in dem die Fotos "gelesen" wurden. Die Vortragende erörterte die verschiedenen fotografischen Darstellungsweisen und die "psychiatrische Ikonographie" vor dem Hintergrund der breit empfundenen gesellschaftlichen Krise am Beginn des 20. Jahrhunderts (Diskurs über "Entartung"), in der nach einer bildlichen Trennung zwischen Normalität und Abnormalität verlangt wurde.

Julia Voss (Berlin) begann den zweiten Tag der Tagung mit einem Vortrag über "Fotografie und Holzstich in Charles Darwins Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren". Dieses Buch von 1872 zählt zu den frühen Beispielen wissenschaftlicher Werke, die mit Fotografien illustriert wurden. Darwin setzte Fotografien ein, um seine These von der Universalität menschlicher Gesichtsausdrücke bildlich zu stützen. Diese Fotos stammten aus unterschiedlichen wissenschaftlichen und populären Kontexten. Für Darwins Zwecke wurden sie umgedeutet, retouchiert, in Kupfer gestochen. Die Holzstiche hingegen, die die Mimik und Gebärdensprache der Tiere zeigten, waren ausnahmslos von Darwin in Auftrag gegebene Arbeiten. Mithilfe von Material aus dem Darwin Archiv in Cambridge beleuchtete Julia Voss die verschlungene Entstehungsgeschichte der Bilder, die in Darwins Buch erschienen. Sie verglich die unterschiedlichen Abbildungsarten von Fotografie und Holzstich in ihrer Funktion und Lesbarkeit.
Dies regte die Teilnehmer des Arbeitskreises zu der Frage an, ob Fotografien im Vergleich zu anderen Bildern eine einzigartige Aussagekraft besitzen und wie diese zu beschreiben ist. Wo liegt die Grenze zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Fotografie? Wie ist die Funktion von Fotos einzuordnen: beweisen sie eine wissenschaftliche Theorie oder produzieren sie dieses Wissen erst?

Marianne Hänseler (Zürich) wandte sich in ihrem Referat der "Metaphorik in den Beschreibungen von Bakterien unter dem Mikroskop und auf Mikrofotografien bei Robert Koch" zu. Die Beschreibungen von Bakterien, die auf Fotogrammen und Zeichnungen abgebildet wurden, greifen zum einen auf das standardisierte Vokabular der Botanik zurück. Zum anderen bediente sich Koch aber auch einer metaphorischen Sprache. Was er unter dem Mikroskop sah, beschrieb er 1881 als "phantastisch geformte Gebilde" und "kometenartige Figuren". Koch selbst wies in seinen Texten darauf hin, dass das richtige Sehen eines Gegenstandes geübt werden muss und dass die Bilder der Bakterien erst in den Texten gedeutet werden. Marianne Hänseler argumentierte, dass Metaphern in wissenschaftlicher Verwendung kein bloßes Stilmittel sind, sondern eine neue Sichtweise auf den Gegenstand eröffnen; sie erschaffen ihn sogar erst im erkenntnistheoretischen Sinn.

Monika Dommann (Zürich) untersuchte in ihrem Vortrag über "Materielle Kultur und soziale Gebrauchsweisen der Radiographie" die vielfältigen Verwendungen, die Röntgenbilder zwischen 1896 und 1963 fanden. Die Referentin legte zunächst die Geschichte der Röntgenstrahlen von der Apparatur im Physiklabor bis zur diagnostischen Standardtechnik im Krankenhaus dar. Entlang der Frage, wie aus einem Bild Wissen generiert wurde, erklärte sie die Entwicklung der Radiographietechnik zur wissenschaftlichen Disziplin der Radiologie. In einem zweiten Schritt ging es um die sozialen Gebrauchsweisen der Radiographien, die beispielsweise von Versicherungen genutzt wurden, zur "Schirmbildprophylaxe" dienten und in den 1920er Jahren bei der Ermittlung der richtigen Schuhgröße halfen. Monika Dommann plädierte für einen praxeologischen (d.h. am Handeln orientierten) Ansatz der Bildwissenschaften, der insbesondere die Konstruktion, Kommunikation und Zirkulation von Bildern untersucht.

Angela Fischel (Berlin) stellte das Forschungsprojekt "Das Technische Bild" vor, das am Helmholtz-Institut der Humboldt-Universität Berlin angesiedelt ist. Es setzt sich zum Ziel, technische Bilder als Werkzeuge der Wissensproduktion und -vermittlung für eine historische und bildgerechte Analyse nutzbar zu machen. Der Zusammenhang von Form, Herstellungstechnik und Inhalt eines Bildes soll erforscht werden. Im Zuge dessen wird derzeit eine Bilddatenbank erstellt, die nicht im herkömmlichen Sinn Bilder katalogisiert, sondern durch verschiedene Suchfilter (Muster, Formen, Farben, Motive, Darstellungsweisen in einer bestimmten Zeit etc) Bildtableaus entstehen lässt. Dadurch werden Zusammenhänge aufgezeigt und neue Forschungsfragen gleichsam "sichtbar" gemacht. Diese Herangehensweise wurde von einigen Diskutanten kritisiert, weil sich die Auswahl und Verschlagwortung der Bilder auf beliebige Kriterien stütze und daher nur zu selbstreferenziellen Aussagen führen könne. Andere Teilnehmer der Diskussion würdigten die Datenbank als innovativen und lohnenden Versuch, dem Ruf nach wissenschaftlichen Untersuchungskriterien von Bildern nachzukommen.

In der abschließenden Diskussion konnten die Teilnehmer auf einen neuen und äußerst anregenden Austausch kunstgeschichtlicher, fotogeschichtlicher, medizin- und wissenschaftsgeschichtlicher Herangehensweisen und Methoden zurückblicken. Es wurde deutlich, dass der Kontext medizinischer Fotos untersucht werden muss, um sie nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, sondern insbesondere sozialgeschichtlich zu verstehen. Fotografien als Quelle der Medizingeschichte (auch neuere bildgebende Verfahren wie das Ultraschallbild gehören unbedingt dazu) müssen auf ihren Gebrauch hin untersucht werden. Dies schließt die Rezeption der Bilder in der Öffentlichkeit ein: Welche Bilder wurden gezeigt? Wie wurden sie rezipiert? Wie veränderte sich die Bedeutung der Abbildungen?

Darüber hinaus gewannen quellenkritische und methodische Probleme an Trennschärfe. Die Teilnehmer erarbeiteten zentrale Themen für die Analyse medizinischen Fotos: der Herstellungszweck und die Verwendung der Fotos, die Interaktion von Bild und Betrachter, der Vergleich von Fotos mit anderen Medien wie Zeichnungen oder künstlerischen Darstellungen, die Frage nach der Konstruktion von Wissen (was war zuerst da: das Bild oder das abgebildete Faktum?) und schließlich die Frage nach dem qualitativ Neuen von Fotografien.