Biografie und Geschlecht

Biografie und Geschlecht

Organisatoren
Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.07.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Lena Panzer-Selz, Dahlemer Literatur- und Kunstsalon GmbH, Berlin/Institut für Volkskunde/Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Am 4. Juli 2011 fand an der Friedrich-Schiller-Universität Jena der Workshop „Biografie und Geschlecht“, der vom Lehrstuhl für Geschlechtergeschichte organisiert worden war, statt. Im Fokus des Workshops stand die Diskussion methodologischer und konzeptioneller Fragen zu Biografieforschung und Geschlechtergeschichte. Anhand einzelner Dissertationsprojekte aus unterschiedlichen Disziplinen, wie der Geschichte, der Literaturwissenschaft, der Soziologie oder der Musikwissenschaft wurden verschiedene Ansätze sowie Probleme und deren Lösungsmöglichkeiten im Bereich des Forschungsfeldes „Biografie und Geschlecht“ diskutiert.

VERONIKA HELFERT (Wien) stellte in ihrem Beitrag die Forschungsergebnisse ihrer Diplomarbeit vor. Sie interpretierte darin die Tagebücher von drei Frauen im Zeitraum von Februar bis Juli 1934. Zunächst erläuterte sie spezifische Merkmale des Tagebuchs als historische Quelle. Das Tagebuch bezeichnete sie als komplexen und hybriden Schriftort, bei dem nicht außer Acht gelassen werden dürfe, dass sich Spannungsfelder im Anspruch auf Wahrheit und Authentizität sowie im Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit herausbilden können. Daneben charakterisierte sie das Tagebuch als Ort der Kontrolle und der Normierung. Bei den Schreiberinnen, die Helfert vorstellte, handelte es sich um Frauen, die konfessionell, politisch und im Grade ihrer Bildung sehr unterschiedlich geprägt waren, was sich auch in deren Selbstzeugnissen widerspiegele. Die Schreibpraxis der Frauen unterscheide sich nicht nur im Schreibstil, sondern auch in der Häufigkeit der Tagebucheinträge. Die aktuellen politischen Ereignisse seien von den Schreiberinnen unterschiedlich kommentiert und bewertet worden. Teilweise habe eine Verschränkung von politischen und religiösen Themen stattgefunden, dabei spiele besonders der Katholizismus eine prägende Rolle. Dies veranschaulichte Helfert am Beispiel der Tagebücher Bernhardine Alma.

SILKE HELLING und MARLEEN VON BARGEN (beide Hamburg) untersuchen in ihren Dissertationsprojekten zwei Frauenleben. Während sich Helling mit der Nationalsozialistin Else Frobenius beschäftigt, nimmt von Bargen das Leben der Sozialistin Anna Siemsen in den Blick. Beide Forscherinnen betrachten die Handlungsstrategien, die Else Frobenius und Anna Siemsen in männerdominierten Gesellschaftsbereichen anwendeten. Sowohl Frobenius als auch Siemsen waren publizistische Vorreiterinnen in ihrer Zeit, sie gehörten derselben Generation an und nutzten die Bildungschancen, die ihnen als Frauen offen standen. Vor dem Hintergrund dieser biografischen Parallelen wollen die Forscherinnen eine vergleichende Analyse der Sinnstiftungsprozesse, der Prägung des Handelns durch neue politische Ideen und der Erlebniswelt der beiden Frauen vornehmen. Am Beispiel des Topos „Jugend“ veranschaulichten die Forscherinnen ihr Vorgehen. Dabei betonten sie auch in der Diskussion nochmals, dass zwei voneinander unabhängige Arbeiten entstünden, die von ihnen untersuchten Frauenbiografien würden aber mit denselben Fragen konfrontiert werden.

CORNELIA HIPPMANN (Dortmund) stellte ihre Dissertation, in der sie die Biografien ostdeutscher Politikerinnen untersuchte, vor. Ihre Forschungsfrage zielte darauf ab, die Bedeutung von Geschlechterordnungen im Alltag von Politikerinnen aufzudecken. Als Methode für ihre Studie wählte sie narrative Interviews, um das Verhältnis von Biografie und Geschlecht zu erfassen. In den 24 Interviews, die sie erstellte, wurde von den befragten Politikerinnen häufig die Vereinbarkeit von Familie und Karriere thematisiert. Hippmann stellte fest, dass es viele Gemeinsamkeiten in den Biografien der ostdeutschen Politikerinnen gegeben habe, so sei die Wende als positives Ereignis erlebt worden und habe häufig einen Wandel in der Berufstätigkeit mit sich gebracht. Bei der Interpretation ihres Interviewmaterials habe sie sich auf Thesen Bettina Dausien bezogen. So sei der Identitätsaspekt der interviewten Politikerinnen von großer Bedeutung gewesen. Hippmann ging es darum, gesellschaftliche Zuschreibungen sowie individuelle Wahrnehmungen zu dekonstruieren. Um Unterschiede im Handlungsspielraum von Politikerinnen in der Gegenwart im Vergleich zu früheren Generationen festzustellen, führte sie weitere Interviews mit Politikerinnen, die in den 1970/80er Jahren in der Bundesrepublik aktiv waren. Abschließend stellte Hippmann fest, dass Männer im politischen Alltag nach wie vor Vorteile gegenüber ihren weiblichen Kollegen hätten.

In der Arbeit von OLE FISCHER (Jena) geht es um den Pietisten Adam Struensee (1708 - 1791). Am Beispiel von Struensee möchte Fischer den Zusammenhang von Religion und Männlichkeitskonstruktionen im 18. Jahrhundert untersuchen. Im Zentrum der Arbeit solle zunächst das Selbstkonzept dieses frommen Mannes stehen. Dabei sei zu beachten, dass die Hierarchie im Verhältnis zwischen Mann und Frau zu Lebzeiten Struensees überlagert gewesen sei von einer Hierarchie zwischen Bekehrten und Unbekehrten. Struensees Überzeugung, ein Bekehrter zu sein, habe sein Selbstkonzept als frommer Mann entscheidend geprägt, denn die Männlichkeit des frommen Mannes bemesse sich am Abstand zu Gott und beweise sich in der Lebenspraxis in gottesfürchtiger Demut. Besonders der Umstand, dass Struensee in einer Umbruchphase lebte, in der Frömmigkeit zunehmend als weibliche Eigenschaft angesehen wurde, habe für ihn auch berufliche Nachteile mit sich gebracht.

MARTIN DRÖGE (Münster) erforscht die Biografie des Nationalsozialisten Karl Friedrich Kolbow (1899 – 1945). Kolbow war frühes NSDAP-Mitglied und beteiligte sich am westfälischen Euthanasieprogramm. Dröges zentrale Fragestellung zielt darauf ab zu erforschen, inwieweit Kolbow von den Männlichkeitsvorstellungen seiner Zeit geprägt war. Als Quellen dienen Dröge neben dem dienstlichen Schriftverkehr primär Selbstzeugnisse Kolbows. Den größten Teil machen dabei die umfangreichen handschriftlich verfassten Tagebücher aus. In den Tagebüchern werde die Kategorie Geschlecht kaum thematisiert, die Analyse der Erzählinhalte biete aber die Chance eine Dekonstruktion von Geschlechterdifferenzen und -hierarchien vorzunehmen. Dröge bezieht sich in seiner Analyse auf Pierre Bourdieu und dessen Ausführungen zum männlichen Habitus sowie Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeiten. Daneben versucht er die Männlichkeitszugehörigkeit Kolbows zur nationalen Volksgemeinschaft nach Thomas Kühnes Studie über Kameradschaft zu entschlüsseln. Auch das Konzept des narrating gender nach Bettina Dausien nutzt Dröge für die Analyse der Erzählinhalte.

GABRIELE FISCHER (München) geht in ihrer Arbeit von der These aus, dass der Arbeitsmarkt geschlechterhierarchisch strukturiert sei. Aus der geschlechtsspezifischen Kodierung von Berufen entwickle sich diese Hierarchie, die, so Fischer, relativ konstant sei. Sie möchte untersuchen, wie der Entscheidungsprozess für oder gegen einen bestimmten Beruf mit dem Wissen um die hierarchische Verteilung abläuft. Ein zentraler Ausgangspunkt sei dabei die Anerkennungstheorie von Axel Honneth. Ihrer Forschungsfrage möchte sie sich mit Hilfe von narrativen Interviews annähern, wobei sie sich auf die Thesen Gabriele Rosenthals zum Verhältnis von erlebter und erzählter Geschichte stützt. Fischer wählte für ihre Arbeit die Berufsfelder Chirurgie und das Friseurhandwerk, um diese miteinander zu vergleichen, da es in beiden Berufen eine ausgeprägte Hierarchie gäbe und sich zudem nach Fischer zwei sehr verschiedene Berufssparten besonders gut für einen Vergleich eignen.

Von SILKE MEINHARDT (Jena) wurde ihr Dissertationsprojekt zur Biografie von Margarethe Krupp vorgestellt. Nach einem kurzen biografischen Überblick über das Leben und Wirken Krupps, stellte Meinhardt ihre zentrale Forschungsfrage vor. In ihrer Arbeit möchte sie die möglichen Handlungsspielräume von Krupp im männerdominierten Wirtschaftsunternehmen und in der traditionsorientierten Krupp-Familie herausarbeiten. Darüber hinaus möchte sie aufzeigen, welche Zuschreibungen von Margarethe Krupp selbst vorgenommen wurden und welche Fremdzuschreibungen zu ihren Lebzeiten und nach ihrem Tod entstanden sind. Als Quellen dienen ihr vielfältige Selbstzeugnisse, zu denen auch autobiografische Schriften Margarethe Krupps zählen. Methodisch orientiert sie sich u. a. an Bettina Dausiens Theorie des narrating gender. Ebenso fragt Meinhardt in diesem Zusammenhang auch nach der Struktur sowie nach den Handlungsspielräumen, in denen sich das zu untersuchende Subjekt bewegte. Ebenso soll das Festhalten Krupps an strukturgebenden Aspekten im Mittelpunkt stehen. Damit hinge auch die Frage nach dem Zusammenhang von erzähltem und erlebtem Leben zusammen.

Im Mittelpunkt der Arbeit von ANJA WILHELMI (Lüneburg) steht die Biografie der Sängerin und Schriftstellerin Monika Hunnius (1858 – 1948). Wilhelmi möchte dabei Hunnius als Grenzgängerin in mehrfachem Sinne beleuchten: die Grenzgängerin zwischen Imperien, Ethnien, sozialen Milieus sowie Genderkonzepten. Hunnius führte ein sehr unkonventionelles Leben wodurch sie starker gesellschaftlicher Kritik ausgesetzt war. Dies habe, laut Wilhelmi, unter anderem dazu geführt, dass Hunnius zur Grenzgängerin wurde. Eine entscheidende Rolle habe aber auch ihre Herkunft gespielt. Die aus dem Baltikum stammende Hunnius unternahm viele Reisen und ging zur Gesangsausbildung nach Frankfurt am Main, wo sie einen völlig anderen Lebensstil kennen gelernt habe. Dies habe bei ihrer Rückkehr nach Riga zu einem Gefühl der Fremdheit geführt. Auch in ihrer Karriere als Sängerin habe sie immer wieder Brüche erlebt. Es sei Hunnius aber später gelungen in Riga ihr Künstlerleben mit den dort herrschenden Konventionen in Einklang zu bringen, indem sie sich einen Kreis an Schülerinnen aufbaute. Das Genderkonzept wurde durch Hunnius dabei nicht aus Zwang, sondern als Voraussetzung eines vollkommenen Künstlerinnenkonzeptes bewusst überschritten.

CAROLA BEBERMEIER (Oldenburg) betonte, nachdem sie Celeste Coltellini kurz vorstellte, dass es bei ihrem Forschungsvorhaben unabdingbar sei, nach einem alternativen Modell zum Fassbarmachen eines Frauenlebens zu suchen. Ihr sei die Sensibilisierung auf die Konstruktion der Biografie Coltellinis sehr wichtig. Dies ist besonders auch vor dem Hintergrund der zur Verfügung stehenden Quellen erforderlich. Bebermeier kann bei ihren Forschungen zu Celeste Coltellini auf den bisher ungesichteten Familiennachlass zurückgreifen. Eine sehr wichtige Quelle stellen für sie die Skizzenbücher Coltellinis dar, die neben Opernbühnenbildern auch Eindrücke über soziale Netzwerke vermitteln. Aufgrund der Beschaffenheit des Quellenmaterials sei es nicht möglich, die komplette Lebensgeschichte Coltellinis zu rekonstruieren. Vielmehr solle eine chronologische Aneinanderreihung von Lebensbildern vorgenommen werden, die zur Interpretation stehen. Bebermeier stellte die vier Themenfelder vor, die sie näher beleuchten möchte. Dabei handelt es sich um die berufliche Ebene, Coltellinis als Sängerin, die Netzwerke, in denen sie sich bewegte, die Entstehung ihres Werkes sowie die Geschlechterrollen der bürgerlichen Empfindsamkeit. Diese Lebensbilder sollen für sich stehen können, wobei bewusst keine Kontextualisierung durch zeitgeschichtliche Quellen, die über den eng gesteckten Rahmen der zu beschreibenden und zu interpretierenden Bilder hinausgeht, erfolgen soll.

Zusammenfassend bot der Workshop in angeregten Diskussionen einen Austausch über die Möglichkeiten und Grenzen biografischen Arbeitens in Verbindung und Auseinandersetzung mit Fragen der Geschlechtergeschichte. Durch die Organisatoren des Workshops wurde angeregt, die Vernetzung von Forscher_innen, die sich über einen biograpfischen Zugang mit geschlechtergeschichtlichen Fragestellung auseinandersetzen, langfristig zu intensivieren, um die Möglichkeiten des regelmäßigen Austauschs zu nutzen. In diesem Sinne wurde bereits die Planung für mögliche nachfolgende Workshops diskutiert.

Konferenzübersicht:

Moderation: Silke Meinhardt und Ole Fischer

Veronika Helfert (Wien): Geschlecht schreiben. Politik, Religion und gender in Tagebüchern während des BürgerInnenkriegs 1934 in Österreich

Silke Helling und Marleen von Bargen (Hamburg): Nation und Europa schreiben. Else Frobenius und Anna Siemsen als politische Publizistinnen zwischen 1914 und 1950

Cornelia Hippmann (Dortmund): Die Relevanz eines biografieanalytischen Zugangs zur Rekonstruktion der Handlungsspielräume ostdeutscher Politikerinnen

Ole Fischer (Jena): Die Ohnmacht des frommen Mannes - Religion und Geschlecht im Leben Adam Struensees (1708-1791)

Martin Dröge (Münster): Zur Rekonstruktion von Männlichkeiten in Biografien: narrating gender in Selbstzeugnissen eines Nationalsozialisten

Gabriele Fischer (München): Anerkannte Unterschiede? Prestigezuweisung und Geschlechterhierarchie in der beruflichen Arbeitsteilung

Silke Meinhardt (Jena): Margarethe Krupp. Die Frau im Wirtschaftsunternehmen

Anja Wilhelmi (Lüneburg): Monika Hunnius als Grenzgängerin

Carola Bebermeier (Oldenburg): Celeste Coltellini (1760-1828): Lebensbilder – Biografie als offene Form


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