600 Jahre Fremde? Roma und Sinti in Mittel- und Ostmitteleuropa

600 Jahre Fremde? Roma und Sinti in Mittel- und Ostmitteleuropa

Organisatoren
Historische Kommission für die böhmischen Länder; Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft / Fachbereich Geschichte, Philipps-Universität Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.03.2011 - 26.03.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Jana Fokt, Universität Marburg

Am 25. und 26. März 2011 fand in Marburg die Jahrestagung der Historischen Kommission für die böhmischen Länder statt, gemeinsam veranstaltet mit dem Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft und dem Fachbereich Geschichte der Philipps-Universität Marburg. Die Tagung konzentrierte sich auf das Gebiet der heutigen Staaten Deutschland, Österreich und Tschechien und bezog unter vergleichender Perspektive auch die Slowakei und Ungarn ein.

In seiner Einführung stellte ROBERT LUFT (München) drei wichtige Aspekte vor, die im weiteren Verlauf der Konferenz diskutiert und vertieft werden sollten: Erstens betonte er, dass sich die Beschäftigung mit Sinti und Roma bislang vorwiegend auf das 20. Jahrhundert und den Holocaust bezogen habe, indessen seien die historischen Lebenswelten der Sinti und Roma in der Frühen Neuzeit und Moderne vernachlässigt geblieben. Zweitens forderte er, die gesellschaftlichen Prozesse, in die Sinti und Roma eingebunden waren, als Wechselprozesse zwischen Mehrheitsbevölkerung und Sinti und Roma zu betrachten. In der Geschichte haben Sinti und Roma zahlreiche Spuren hinterlassen und eine größere Wirkung auf die Mehrheitsgesellschaft ausgeübt, als allgemein wahrgenommen wird. Sinti und Roma sollten daher nicht nur als Objekt betrachtet, sondern zum Subjekt der wissenschaftlichen Forschung erhoben werden. Drittens unterstrich Luft die Notwendigkeit, die vorherrschende einseitige, auf den eigenen nationalen Kontext begrenzte Betrachtung des Verhältnisses zwischen Mehrheitsbevölkerung und Sinti und Roma transnational auszuweiten. Seit ihrer Ankunft um 1400 seien Sinti und Roma im mittel- und ostmitteleuropäischen Rahmen in unterschiedlichem Maße von sozialem Handeln und von Teilhabe an gesellschaftlichen Sphären ausgeschlossen gewesen. Daher sei es notwendig Kontakt-, Kommunikation- und Kooperationsfelder der Sinti und Roma mit ihrer sozialen Umwelt im regionalen und nationalen Vergleich deutlicher in den Vordergrund zu rücken.

MARLIS SEWERING-WOLLANEK (Marburg) skizzierte die verschiedenen Phasen der Entwicklung des Forschungsstandes in Deutschland. Sie wies daraufhin, dass sich Forschungsarbeiten und Publikationen häufig auf den Aspekt der Verfolgung konzentrierten und erhebliche Defizite in der wissenschaftlichen Untersuchung der gesellschaftlichen Stellung der Sinti und Roma aufweisen. Der Grund dafür liege im vergleichsweise späten Beginn der Forschung in den 1990er-Jahren, die sich zunächst vor allem auf die Verfolgung in der NS-Zeit konzentrierte, um die Öffentlichkeit über den Völkermord an Sinti und Roma aufzuklären. Zu den Problemen gehöre auch, dass beispielsweise das Romanes in Deutschland noch keine verschriftlichte Standardsprache entwickelt hat. Sewering-Wollanek interpretierte auch das Fragezeichen, das im Titel der Tagung hinter dem Wort „Fremde“ stand: Es weist einerseits auf die Situation der Sinti und Roma vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte über die neuen Bürger mit Migrationshintergrund sowie im Kontext der europäischen Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten hin, andererseits steht es für den in der Gesellschaft über Jahrhunderte verbreiteten Antiziganismus.

UDO ENGBRING-ROMANG (Marburg) legte den Schwerpunkt seines Beitrages auf die Frage, in welchem Umfang wissenschaftliche Erkenntnisse über Sinti und Roma den Weg in den Schulunterricht finden. Aus den Ergebnissen dreier Umfragen, die in den letzten fünf Jahren unter hessischen Schülern und Lehrkräften durchgeführten wurden, schloss er, dass Schüler und Lehrkräfte den Begriff „Zigeuner“ mit Kriminalität in Verbindung bringen, als Schimpfwort begreifen und „Zigeuner“ als „fahrendes Volk“ und „Reisende“ ansehen. Zudem würden schulische Projekte, die sich mit dem Thema Sinti und Roma befassen, in den Lehrplänen eher fakultativ angeboten, weshalb das Thema nur an circa zwölf Prozent der Schulen behandelt werde. Darüber hinaus wies Engbring-Romang auf die Unsicherheit der Lehrkräfte im Umgang mit dem Thema hin und hob die Tatsache hervor, dass – genau wie in der Forschung – auch im Schulunterricht in erster Linie die Verfolgung der Sinti und Roma in der NS-Zeit behandelt werde, während die Geschichte der Sinti und Roma in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert, aber auch ihre soziale Situation und die Entwicklungen nach 1945 ausgeblendet blieben.

Vornehmlich mit Blick auf die Sozialgeschichte thematisierte ULRICH F. OPFERMANN (Siegen/Wiehl) die gesellschaftliche Stellung der Roma im westlichen Mitteleuropa in der Frühen Neuzeit. Er unternahm den Versuch, anhand archivalischer Quellen die gesellschaftliche Realität der Roma im Kontext von „Kontakt,- Kommunikation- und Kooperation“ zu rekonstruieren. Auf der Grundlage von ihm erstellter sozialhistorischer Tabellen skizzierte er die sozialen Beziehungen der Roma zur ländlichen Gesellschaft. In seinen Untersuchungen kommt er zum Ergebnis, dass es in der Mehrheitsgesellschaft keine starre Abschottung gegenüber den Roma gab, ja, dass neben polizeilicher Verfolgung der als vogelfrei geltenden Roma vielfältige Formen der Handels- und Tauschbeziehungen, der Beherbergung sowie Belege für Bleiberechte und Pässe existierten. Die außerordentlich kleine Gruppe von Roma bzw. Zigeuner sei beruflich vor allem beim Militär, bei Baumaßnahmen und bei der Ernte zu belegen, Musik und Wahrsagerei seien dagegen fast gar nicht nachzuweisen. Opfermann zeigte, dass im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Roma allmählich aus den Quellen verschwanden, wodurch eine weitere Untersuchung ihrer sozialen Lage erschwert ist, obwohl gleichzeitig eine Verelendung eingetreten sein dürfte. Zudem ging er darauf ein, dass der administrative Begriff „Zigeuner“ verschiedene soziale Gruppen umfasste und eine Differenzierung oft schwer zu treffen ist. Seine Kernaussage lautete, dass für das 16. bis 18. Jahrhundert nicht von einer linearen Verfolgungsgeschichte der Roma gesprochen werden könne.

Den zweiten Konferenztag eröffnete ANDREAS HELMEDACH (Gießen/Berlin) mit seinem Vortrag über die Roma in der staatswissenschaftlichen Literatur der Habsburgermonarchie um 1800. Der Schwerpunkt der Untersuchung konzentrierte sich auf der Frage, in welchem Ausmaß staatswissenschaftliche Texte die Realität der Lebenswelten der Roma widerspiegeln können. In seinem Beitrag zeichnete er assimilatorische Tendenzen der Innenpolitik der Habsburgermonarchie im Kontext der kulturellen und nationalen Homogenisierung der Gesellschaft nach. In das Konzept der bürgerlichen Verbesserung wurden nicht nur Zigeuner – „als rückständige“, ethnische Minderheit – sondern auch Juden einbezogen, weshalb sich gewisse Parallelen im Prozess der Disziplinierung dieser beiden ethnischen Minderheiten zu „nützlichen“ Bürgern ziehen lassen. Die Zigeunerpolitik wurde als Fall bewusster Zwangsassimilation mit vollständiger Zerstörung der Kultur und der Lebensformen der Zigeuner gedeutet. Helmedach kam zum Schluss, dass Aspekte der Bevölkerungspolitik des österreichischen Absolutismus beim Blick auf aktuelle Stereotype und Vorurteile im ostmitteleuropäischen Raum mitreflektiert werden müssen.

VOLKER ZIMMERMANN (München) setzte sich in seinem Beitrag über „Ein ‚auf verbrecherischen Erwerb angewiesenes Volk‘?“ am Beispiel der Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert mit der Kontinuität des polizeilichen und gesellschaftlichen Bildes vom Zigeuner als Kriminellem auseinander. Er ging der Produktion des Vorurteils und seiner ständigen Rezeption in Literatur und Verwaltung nach, die zur Etablierung des Stereotyps der „Zigeuner-Kriminalität“ führten. Anhand von Polizeihandbüchern zur Verbrechensbekämpfung, von Statistiken zur „Zigeuner“-Kriminalität und Fallbeispielen aus Mähren zeigte er, dass im Vergleich zu den Bevölkerungsverhältnissen die Kriminalitätsraten der Roma – mit Ausnahme der Kleinkriminalität – niedriger waren als bei der Mehrheitsbevölkerung. In der lebhaften Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit in den Akten eine zugeschriebene Kriminalität manifestiert wurde und nach welchen Kriterien die Zuordnung zu Zigeuner-Gruppen überhaupt erfolgte.

In der detailliert geschilderten Geschichte der Entstehung der 24-bändigen landeskundlichen Enzyklopädie „Kronprinzenwerk“ (Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild) befasste sich SIEGFRIED BECKER (Marburg) mit der Repräsentation der Roma-Minderheit in der Zeit der Nationalitätenkonflikte im Habsburgerstaat. Im vorletzten, 1902 erschienenen Band der unter Patronage von Erzherzog Rudolf herausgegebenen Reihe, ist ein kurzer Beitrag über die Zigeuner in Ungarn enthalten, der auf den Angaben zu Konfession, Sprache, Wohnsituation und Gewerbe in der „Zigeuner-Conscription“ von 1884 beruhte. Becker bezeichnete das „Kronprinzenwerk“ als ein Beispiel des Umganges mit dem Fremden, bei dem dieses einzig durch die administrativen Bestrebungen zur Assimilation domestizierbar werde.

GERHARD BAUMGARTNER (Wien/Graz) widmete seinen Vortrag dem „Zigeunerbild“ in Malerei und Fotografie in den Jahren 1780-1940, wobei er thematischen Strängen in der Darstellung der Zigeuner nachging: Zwischen 1780 und der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte man Zigeuner als Repräsentanten bestimmter Berufe wie Musiker, Komponisten, Militärs usw. dar – Zeugnis dafür, dass den Zigeunern ein bestimmter Platz in der ständischen Welt zugewiesen war. Aus den Darstellungen wird ersichtlich, dass im Rahmen von Festen die Zigeuner-Musiker eine hohe Akzeptanz in der Bevölkerung genossen haben, außerhalb des Festes es jedoch oft zu Konflikten kam. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich dann in der Darstellung eine neue Sichtweise durch: Man zeichnete Bilder von Ausweisung, Verfolgung sowie Armut und Verarmung der Zigeuner. Darüber hinaus entstand im Zuge der staatlichen Verfolgung ein neues Bildmotiv – die Darstellung von Zigeunersiedlungen, die während der Polizei-Razzien im Rahmen flächendeckender Erfassung von Zigeunern fotografiert und im Polizeiregister aufbewahrt wurden.

BOŽENA HIMMEL (Bochum) schilderte die aktuelle Lebenssituation der Roma in Tschechien, wobei sie den Schwerpunkt auf die schulische Einbindung der Roma-Kinder legte. Himmel ging auf den Prozess der Transformation des einst auf paternalistische Fürsorge und Assimilationsdruck ausgerichteten Schulsystems in der Tschechoslowakei vor 1990 ein und zeigte, dass die Roma in den vergangenen 20 Jahren dank gesellschaftlicher Initiative tschechischer Akademiker als Anerkennung als ethnische Minderheit gefunden haben. Den Status quo beschrieb sie aber als ambivalent: Auf der einen Seite bemühe man sich z. B. um die Organisation von Sprachkursen und die Publikationen von Zeitschriften für Roma, auf der anderen Seite habe jedoch in der tschechischen Gesellschaft insgesamt das frühere Desinteresse zugunsten einer negativer Einstellung gegenüber den Roma aufgegeben, die vor allem Roma-Kinder zu spüren bekämen. In den Schulen werden sie als „geistig behindert“ abgestempelt und dementsprechend behandelt. Himmel sprach von „psychischer und physischer Abneigung“ gegenüber den Roma in der tschechischen Gesellschaft, die dazu führte, dass die integrativen Initiativen von staatlichen Akteuren und einzelnen Lehrer oft ins Leere liefen. Jedoch trage das Engagement der Roma-Mittelschicht und die Förderung der Roma-Kultur bereits Früchte: Mehr Roma-Eltern nehmen ihre Rechte wahr als früher und setzten sich für Wohl ihrer Kinder ein.

Während der zweitägigen Tagung wurde ein breites Spektrum an Themen diskutiert. Als roter Faden zog sich die Frage nach der Feststellung von Kriterien der Zuordnung zu Zigeuner-Gruppen und zu anderen Nichtsesshaften bzw. sozial marginalisierten Gruppen durch die Beiträge: Im wissenschaftlichen Diskurs wird die Zuschreibung von Merkmalen thematisiert, die Zigeuner ausmachen – sollte man nach Merkmalen oder der Art der Kleidung gehen, oder in Schutzbriefen Näheres über die Identität der Zigeuner suchen? In den meisten Beiträgen wurde der Sammelbegriff „Zigeuner“ in seinem soziografischen Sinn verwendet, und die Zuschreibung anhand ethnischer Merkmale ausgeklammert. Beispiele wie der hoch dekorierten Roma-Offizier der Frühneuzeit oder Roma-Dörfern in Ungarn, bei denen nach langen Jahrzehnten der Sesshaftigkeit erst Ende des 18. Jahrhunderts eine Verelendung dazu führte, dass die Familien umherzuziehen begannen, verdeutlichten, wie zeitbedingt die Bilder und die sozialen Welten von Zigeunern und Roma waren und sind. Immer wieder wurde in der Diskussion betont, dass die Quellen über die Zigeuner schwer (vor allem schriftlich) zugänglich sind bzw. zu manchen Themen Quellen gar nicht überliefert wurden. Umso wichtiger ist die Zusammenarbeit mit tschechischen und anderen ostmittel- und osteuropäischen Wissenschaftlern und mit Wissenschaftlern der Roma selbst bei der Erforschung der Lebenswelten der Zigeuner seit Beginn der Frühen Neuzeit. Alle Tagungsteilnehmer waren sich einig, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die soziokulturelle und lebensweltliche Stellung der Zigeuner in der Gesellschaft in verschiedenen historischen, regionalen und nationalen Kontexten weiterer Forschungen und weiterer Veranstaltungen wie dieser bedarf.

Konferenzübersicht :

Marlis Sewering-Wollanek (Marburg): Einführung in die Tagungsproblematik und Aspekte der Forschung

Andreas Helmedach (Gießen/Berlin): Roma in der staatswissenschaftlichen Literatur der Habsburgermonarchie um 1800

Volker Zimmermann (München): Ein „auf verbrecherischen Erwerb angewiesenes Volk“? Kriminalisierung und Kriminalität von ‚Zigeunern‘ in den böhmischen Ländern im langen 19. Jahrhundert

Božena Himmel (Bochum): Roma in Tschechien zwischen Integration und Ausgrenzung

Siegfried Becker (Marburg): Zur Repräsentation der Roma im „Kronprinzenwerk“ (die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild)

Gerhard Baumgartner (Wien/Graz): Roma und Sinti im Blickfeld der Bürgerlichen Gesellschaft: das „Zigeunerbild“ in Malerei und Fotografie 1780-1940

Schlussdiskussion: „Perspektiven und Desiderata der Romaforschung in Mittel- und Ostmitteleuropa“


Redaktion
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