Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert

Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert

Organisatoren
Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e.V.; Karl-Heinz Spieß, Universität Greifswald
Ort
Reichenau
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.04.2011 - 15.04.2011
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Von
Immo Warntjes, Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte des Mittelalters / Historische Hilfswissenschaften, Universität Greifswald

In der mediävistischen Forschung ist das Lehnswesen in den letzten Jahren wieder verstärkt in den Fokus gerückt. Überraschend ist hier nicht so sehr die Tatsache, dass dieses Thema überhaupt wieder aufgegriffen wurde, sondern vielmehr, dass eine so beträchtliche Zeit vergehen musste, bis das traditionelle Konzept kritisch hinterfragt und eine breite Quellenbasis angemahnt wurde. Über der Beschäftigung vor allem mit dem deutschen Lehnswesen hing wie ein langer Schatten noch bis vor kurzem vor allem die maßgebliche Studie von Heinrich Mitteis aus dem Jahre 1933, Lehnrecht und Staatsgewalt – Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, aber auch François Louis Ganshofs eher zeitlich und regional begrenzte Studie Qu’est-ce que la féodalité? von 1947 zur Herausbildung dieses Phänomens im Raum zwischen Seine und Rhein in karolingischer Zeit wurde schnell für das gesamte europäische Mittelalter für kanonisch erklärt. Erst Susan Reynolds hat mit ihrem Buch Fiefs and Vassals aus dem Jahre 1994 auf grundsätzliche Probleme in den traditionellen Darstellungen nicht nur (aber vor allem) des verengten Begriffs Lehnswesen hingewiesen. Sie war nicht die erste, die Kritik an der traditionellen Interpretation des als mittelalterliche ‚Verfassung’ überhöhten Lehnswesens anmeldete, ihr Ruf war aber der lauteste, er sollte sich als Weckruf erweisen. Reynolds’ These ist, kurz und knapp formuliert: Das Lehnswesen, wie es von Mitteis, Ganshof und anderen als für das gesamte Mittelalter verbindliches Rechts- und Gesellschaftssystem dargestellt wird, ist ein Konstrukt der Rechtsgelehrten des 16. Jahrhunderts; lehnrechtliche Mechanismen haben sich erst im 12. Jahrhundert herausgebildet, und zwar mit großen regionalen Unterschieden, die sich nicht in ein simplifizierendes Modell pressen lassen.

Aus Reynolds’ Hauptanliegen, durch eine Betrachtung der Phänomene der Landleihe und Vasallität in allen einschlägigen westeuropäischen Ländern nationale Forschungstraditionen zu überwinden, ergaben sich zwangsläufig methodische Schwierigkeiten, wie sie selbst einräumte. Ihre Quellenbasis musste für einen so breit angelegten Ansatz gering bleiben, zu vertrauen war hauptsächlich den jeweiligen Detailstudien. Reynolds’ angemahnter Aufforderung nach einer detaillierten, quellenbasierten Prüfung ihrer Thesen kam die deutsche Forschung vor allem in den letzten drei Jahren nach. Reynolds hatte als Kernzeit für das Verständnis der Phänomene Landleihe und Vasallität, sowie von deren Zusammenspiel, das 12. und 13. Jahrhundert ausgemacht, und so war es nur konsequent, dass Jürgen Dendorfer und Roman Deutinger 2008 die prominentesten deutschen Lehnsforscher nach München luden, um „die Thesen von Susan Reynolds zum Lehnswesen für das Reich des 12. Jahrhunderts auf breiter Quellengrundlage zu prüfen“. Die von Karl-Heinz Spieß im April 2011 auf der Reichenau organisierte Tagung zur Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert ist in demselben Kontext zu verstehen, quasi als Ausweitung des Diskurses auf das 13. Jahrhundert.

Der Veranstalter, KARL-HEINZ SPIEß (Greifswald), setzte in seiner Einführung die Parameter der weiteren Tagung. Maßgebend war hier vor allem eine als Arbeitsgrundlage dienende Definition des Begriffs Lehnswesen. Spieß versteht unter diesem die nach verbindlichen rechtlichen Normen geregelte Verknüpfung von Landleihe, also Lehnsvergabe, auf der einen Seite mit dafür zu leistenden Diensten, der Vasallität, auf der anderen; wesentlich ist hierbei die Einbindung des Lehnswesens in die politische Organisation des jeweiligen Landes. Desweiteren wies Spieß schon auf die Spannungsfelder hin, welche es in den nachfolgenden Vorträgen zu diskutieren galt. Drei dieser Spannungsfelder sind hier besonders hervorzuheben, zogen sie sich doch wie ein roter Faden durch die Tagung: 1) Inwieweit spiegelt eine schriftlich fixierte Rechtsnorm oral tradiertes Gewohnheitsrecht der vorangegangenen Dekaden (wenn nicht Jahrhunderte) wider und wie verbindlich war sie tatsächlich zur Abfassungszeit? 2) In welchem geographischen Raum erzielte diese Rechtsnorm eine allgemeine Verbindlichkeit? Variiert somit das Konzept Lehnswesen stark regional oder lassen sich überregionale Strukturen attestieren? 3) Wie aussagekräftig oder willkürlich wurde die wesentliche Terminologie verwendet? Wie vergleichbar ist sie über große geographische Distanzen und Zeiträume?

Die weiteren Vorträge lassen sich primär vier Themenkomplexen zuordnen: 1) Zunächst waren die gedanklichen und rechtlichen Voraussetzungen des Lehenswesens zu klären; 2) die sich zwangsläufig anschliessende Frage nach der Umsetzung der rechtlichen Norm führte zur Frage nach dem Ursprung des Lehnswesens, zumindest nach dem Zeitpunkt der breiten Akzeptanz im Reich; 3) allgemeingültige Aussagen über die Verbreitung und Akzeptanz des Lehnswesens können aber nur auf Grundlage einer systematischen Analyse der vermeintlich lehnrechtlichen Terminologie erfolgen; 4) wenn das Lehnswesen, zumindest im späten 12. und 13. Jahrhundert, breite Akzeptanz gefunden hat, was machte dann seinen Reiz, seine Attraktivität aus, wie wurde es praktisch umgesetzt?

Mit den gedanklichen Voraussetzungen hat sich BRIGITTE KASTEN (Saarbrücken) auseinandergesetzt und die Frage aufgeworfen, ob sich die Lehen aus den Prekarien des Frühmittelalters entwickelt hätten. Hierbei stellte sie explizit heraus, dass die Kontinuität, so sie als solche akzeptiert wird, nur eine gedankliche, nicht aber eine institutionelle gewesen sei; auch hob sie die wesentlichen Unterschiede zwischen den Konzepten Prekarie und Lehen hervor. Dennoch dürfe in Zukunft die generelle Frage, ob sich das hochmittelalterliche Lehen aus der frühmittelalterlichen Grundherrschaft entwickelt habe, nicht vernachlässigt werden. Die rechtlichen Voraussetzungen in Form der beiden wesentlichen Rechtstexte, der Libri feudorum und des Sachsenspiegels, wurden von GERHARD DILCHER (Frankfurt am Main) und HEINER LÜCK (Halle) in den Blick genommen. Dilcher legte dar, dass die um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen Libri feudorum am Ende eines Entwicklungsprozesses standen, welcher mit Konrads II. Lehnsgesetz von 1037 eingesetzt habe; die Entwicklungsstufen innerhalb dieser ca. 120 Jahre seien durchaus wesentlich gewesen (bspw. in Bezug auf das Erbrecht der Brüder) und erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts ließe sich von einem lebendigen Lehnrecht sprechen, wobei den Beschlüssen von Roncaglia 1158 eine Schlüsselstellung zukomme. Lück stellte dann heraus, dass die Libri feudorum so gut wie keinen Niederschlag im Sachsenspiegel gefunden haben; es handele sich vielmehr um die Verschriftlichung von Gewohnheitsrecht, abgefasst somit primär ohne schriftliche Vorlagen. Interessanterweise überliefern von den ca. 500 erhaltenen Handschriften (die älteste erst aus dem Jahre 1295) nur drei das gesamte Lehnrecht separat, in der Forschung führe das Lehnrecht verglichen mit anderen Aspekten des Sachsenspiegels eher ein Schattendasein. Generell brauche das Land- und das Lehnrecht nicht zwangsläufig gleichzeitig entstanden zu sein, es spreche vielmehr einiges dafür, dass das Lehnrecht vor dem Landrecht verfasst wurde. Die Perspektive des Lehnrechts sei vasallenfreundlich, die Funktion eine friedenssichernde gewesen.

Einige Vorträge beschäftigten sich mit der Umsetzung der Rechtsnorm und thematisierten damit vor allem die Frage nach dem Zeitpunkt, ab welchem von einem breit akzeptierten Lehnswesen überhaupt zu sprechen sein könnte. Bezüglich der Umsetzung des Lehnrechts in Norditalien im 11. und 12. Jahrhundert argumentierte CHRISTOPH DARTMANN (Rostock), dass sich feudalistische Strukturen bereits im 11. Jahrhundert erkennen ließen; zunächst habe eine Verdichtung der Lehnsverhältnisse im Umfeld oberitalienischer Bischöfe stattgefunden, bevor diese Entwicklung auf den weltlichen Adel und dann auf die Kommunen übergegriffen habe. Zu beachten gelte es, dass ein Verständnis der Lehnsbeziehungen nur in den jeweiligen politischen Kontexten möglich sei, dass es keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Norm und Realität gegeben habe, dass hierbei jedoch die soziale Praxis sehr flexibel, die Umsetzung des Lehnrechts damit eher dynamisch und regional variabel gewesen sei. STEFAN WEINFURTER (Heidelberg) hatte schon vorher darauf hingewiesen, dass die Anfänge des Lehnswesens zumindest nicht im Papsttum des 11. und 12. Jahrhunderts zu suchen seien. Weinfurter analysierte die wohlbekannte Empörung der kaiserlichen Kanzlei über den päpstlichen Gebrauch des Begriffs beneficium auf dem Hoftag von Besançon 1157: Barbarossas Kanzler, Rainald von Dassel, interpretierte den lateinischen Terminus als Lehen, deutete somit die päpstliche Aussage als Ausdruck der förmlichen Überordnung des Papstes über den Kaiser. Im Zuge seiner Analyse stellte Weinfurter heraus, dass diese Interpretation von päpstlicher Seite keineswegs intendiert gewesen sei; grundsätzlich habe der Papst das Lehnswesens als Instrument gar nicht benötigt, es sei für die Ansprüche des Papsttums ganz im Gegenteil eher kontraproduktiv gewesen; der Papst habe sich eher der Vater-Sohn-Metapher bedient, die am deutlichsten den Vorrang der Kirche über die weltliche Macht symbolisiert habe. Das Papsttum habe somit nicht wesentlich zur Entstehung des Lehnswesens beigetragen, sondern die Episode verdeutliche vielmehr, dass das Lehenswesen in der Reichspolitik um die Mitte des 12. Jahrhunderts anfing, eine virulente und allgemein akzeptierte Rolle zu spielen. ROMAN DEUTINGER (München) stellte dann dezidiert die Frage, seit wann die Herzogtümer des Reiches vom König als Lehen vergeben wurden. Offensichtlich muss der traditionelle Konsens, dass dies schon seit der Karolingerzeit der Fall gewesen wäre, spätestens seit Reynolds’ Arbeit neu überdacht werden. Deutinger schrieb dann die ersten Fälle tatsächlich auch erst der Regierungszeit Konrads III. zu, er hielt das Privilegium minus von 1156 für das früheste offizielle Dokument in diesem Kontext. Bis zum Ende der Stauferzeit seien Herzogtümer aber nicht systematisch, sondern eher sporadisch als Lehen angesehen worden, da die staufischen Könige dieses Instrument nur dann genutzt haben, wenn es ihnen zum Vorteil gereichte. Es seien eher die Fürsten gewesen, wie auch Thomas Zotz in der anschließenden Diskussion unterstrich, die ein virulentes Interesse an der allgemein verbindlichen Einführung des Lehnssystems gehabt haben, um durch rechtliche Normen die königliche Willkür einzuschränken. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangte JÜRGEN DENDORFER (Eichstätt) in seiner Untersuchung der politischen Prozesse in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Nach seiner Ansicht ist kein Prozess dieses Zeitraums nach lehnrechtlichen Kriterien geführt worden, mit einer einzigen Ausnahme, dem berühmten Prozess gegen Heinrich den Löwen von 1180. In diesem sei besonders auf die explizit erwähnte dreimalige Vorladung Heinrichs, auf die der Welfe nicht reagiert hat, zu achten; hierin spiegele sich mehr als in jedem anderen Aspekt des Prozesses der lehnrechtliche Charakter wider, wobei diese Verfahrenstechnik von Barbarossas Kölner Rechtsberatern in den Prozess eingeführt worden sei. Auf dieser Grundlage wurde dann besonders von Hermann Kamp herausgestellt, dass somit durchaus auch die Könige ein wesentliches Interesse am Lehnswesen gehabt haben, gab es ihnen doch die rechtlich unanfechtbare Möglichkeit, die Macht unliebsamer Fürsten durch Absetzung und Teilung der Herzogtümer zu schwächen.

RUDOLF SCHIEFFER (München) widmete sich der lehenrechtlichen Terminologie. Direkt an seinen Vortrag auf der Münchener Tagung anschließend, in welchem er die Königsurkunden von Lothar III. und Friedrich I. in den Blick genommen hatte, wertete Schieffer hier die Urkunden der Kaiserin Konstanze, die frühen Königsurkunden Friedrichs II. und die Urkunden der Könige von Jerusalem aus. Schieffers systematische Analyse verstand sich als ein Plädoyer für die absolute Notwendigkeit der regionalen und zeitlichen Kontextualisierung der durch die verschiedenen Termini beschriebenen Phänomene, sein Vortrag diente zur generellen Sensibilisierung für die große regionale Varianz in den Lehnsverhältnissen und dadurch als Warnung vor generalisierenden Aussagen oder voreiligen Theorien. Die unterschiedlichen Lehnsverhältnisse müssen zunächst von innen heraus in Einzelstudien beschrieben werden, wobei besonderes Augenmerk eher auf die Begriffe homagium und vor allem foedum als auf hominium und beneficium gelegt werden müsse. Es finden sich in den analysierten Urkunden zwar Verweise auf ein ius feodale, von zentralisierten Bemühungen zur Umsetzung eines verbindlichen Lehnrechts könne jedoch keine Rede sein. Generell bescheinigen die in den Urkunden verwendeten Termini eine starke regionale Varianz in der Beschreibung und Konstituierung von Lehnsbeziehungen, wobei diesen Lehnsbeziehungen nicht die dominante, die Gesellschaft stützende Rolle zukomme, wie uns dies die ältere Forschung Glauben machen wollte.

Einen Einblick in die praktische Umsetzung des Lehnrechts eröffnete schliesslich STEFFEN PATZOLD (Tübingen) anhand von zwei Fallstudien aus den Kontexten des Stifts Steterburg bei Wolfenbüttel und der Grafen von Hennegau. Ähnlich wie Schieffer sprach sich Patzold strikt gegen den Versuch aus, ein Gesamtbild des deutschen Lehnswesens (von einer europäischen Dimension ganz zu schweigen) zu entwerfen; vielmehr seien die Kontexte der Einzelfälle zu analysieren, wobei Patzold besonders eindringlich daraufhinwies, dass das Lehnswesen vornehmlich den mittelalterlichen ‚Immobilienmarkt’ geregelt, dass seine Attraktivität besonders auch aus einer sozialen Komponente hergerührt habe, selbstverständlich als Instrument zur Beschliessung sozialer Bindungen, aber auch als Plattform für soziale Kommunikation; zudem verschließe der Fokus auf militärische Verpflichtungen den Blick auf die wesentlicheren monetären Regelungen, über welche dann häufig erst Söldner angeheuert worden seien.

Wie es die Tradition verlangt, wurden auch die Ergebnisse dieser Reichenautagung zusammengefasst und weiterführende Perspektiven aufgezeigt, in diesem Fall von OLIVER AUGE (Kiel). Auge sprach von einer „produktiven Verunsicherung“, welche auf dieser wie auch der Münchener Tagung zwei wesentliche gegensätzliche Ansätze hervorgebracht habe, nämlich die Fokussierung auf schriftlich fixiertes Lehnrecht auf der einen Seite und die grundsätzliche Annahme eines schon vorher über Dekaden wirkmächtigen Gewohnheitsrecht auf der anderen; auch hob er das Lehnswesen als eine Spielart sozialer Bindungen hervor, sah in diesem Kontext das größte Potential der zukünftigen Forschung. In der sich anschließenden Diskussion wurden noch einmal die Leitlinien der Tagung aufgegriffen und bewertet. Die Haupterkenntnisse waren hierbei, dass sich das Lehnswesen, wie auch immer es definiert sein mag, nur im jeweiligen Kontext (politisch, sozial, wirtschaftlich, rechtlich) verstanden werden könne, dass das 12. und 13. Jahrhundert die Kernzeit in dessen Entwicklung gewesen sei und somit eine eingehende Analyse verdiene, dass die Frage nach den Nutzniessern des Lehnswesens nicht zwangsläufig auf die zentrale Königsmacht weise, sondern vielmehr großer regionaler Varianz Rechnung getragen werden müsse.

Reynolds angemahntes intensives Quellenstudium der Phänomene Landleihe, Vasallität und deren Verknüpfung ist somit für den deutschen Fall von der Münchener Konferenz und der Reichenautagung geleistet worden. Reynolds These wurde für den deutschen Fall des 12. Jahrhunderts auf breiter Quellengrundlage bestätigt: Ansätze des klassischen Lehnswesen sind in dieser Zeit erkennbar, aber weit weniger als ursprünglich vermutet, von einer breiten Akzeptanz kann keine Rede sein. Erst in den einhundert Jahren von ca. 1150 bis 1250 wird eine nach lehnrechtlichen Kriterien organisierte Landvergabe mit dazugehörigen vasallitischen Verpflichtungen zunehmend greifbar, eine allgemein verbindliche Norm läßt sich jedoch auch in diesem Zeitraum nicht erkennen. Auf beiden Tagungen sind zudem fundamentale Fragen aufgeworfen worden, welche wiederum wesentliche neue Perspektiven eröffnet haben. Aus einer Verbindung der Tagungsergebnisse mit Reynolds Leitlinien wird vor allem in den folgenden drei Themenkomplexen weitere grundlegende Arbeit geleistet werden können: Reynolds Buch ist ein Plädoyer für die überregionale Kontextualisierung, gegen die strikte Begrenzung auf nur ein Königreich oder eine Region; die deutsche Diskussion muss nun in die europäische eingebettet werden, was besonders durch die auf der Reichenautagung herausgearbeitete starke regionale Varianz eine sehr große Herausforderung darstellen dürfte. Zum anderen wirft Reynolds zu Ende ihres Buches zurecht die Frage auf, ob die Veränderungen, welche sich in der Landleihe und der Vasallität im 12. und 13. Jahrhundert vollzogen, losgelöst von den anderen wesentlichen Phänomenen dieses Jahrhunderts betrachtet werden können. Als sehr fruchtbar hat sich zweifelsohne schon jetzt erwiesen, wie beide Tagungen eindrucksvoll verdeutlicht haben, in Bezug auf das Lehnswesen die Entwicklung des Rechts im 12. Jahrhundert zu Rate zu ziehen sowie vor allem das Lehnswesen im Kontext auch anderer Formen personaler Bindungen zu verstehen. Dies kann und sollte noch erheblich ausgeweitet werden, der sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts, der Herausbildung eines neuartigen Verständnisses von Individualität sowie selbstverständlich der rapide anwachsenden Bürokratisierung sind hier weiter Rechnung zu tragen. In dieser phänomenologischen Kontextualisierung des Lehnswesens sowie in der systematischen Erforschung seiner regionalen Varianzen im europäischen Kontext mag das größte Potential für die Forschung der kommenden Jahrzehnte liegen. Im Zuge der Beschäftigung mit dem Lehnswesen in den letzten zwei Jahrzehnte wurden aber vor allem auch wesentliche strukturelle Lücken in unser Verständnis des Früh- und Hochmittelalters gerissen. Gerade die beiden Tagungen haben auf der Suche nach der Verbreitung und Verbindlichkeit des klassischen Lehnswesensmodells viele unterschiedliche Spielarten der Landleihe, andere wesentliche Lehnsobjekte, sowie ein breites Spektrum an Verpflichtungen und Diensten herausgearbeitet. Konsequent muss nun der Frage nachgegangen werden, ob sich auch in dieser scheinbar unübersichtlichen Vielfalt Strukturen erkennen, ob sich auf der breiten Quellengrundlage wesentliche, eigenständige und bislang kaum beachtete Konzepte finden und formulieren lassen.

Konferenzübersicht:

Karl-Heinz Spieß (Greifswald): Einführung

Stefan Weinfurter (Heidelberg): Die Päpste als „Lehnsherren“ im 11. und 12. Jahrhundert?

Gerhard Dilcher (Frankfurt am Main): Das lombardische Lehnrecht der Libri Feudorum

Christoph Dartmann (Rostock): Lehnsbeziehungen im kommunalen Italien des 12. und 13. Jahrhunderts

Roman Deutinger (München): Vom Amt zum Lehen – Die deutschen Herzogtümer im Hochmittelalter

Brigitte Kasten (Saarbrücken): Zum rechtlichen Gedankengut der Fürstenerhebungen im 12. und 13. Jahrhundert

Jürgen Dendorfer (Eichstätt): Das Lehnrecht und die Ordnung des Reiches. „Politische Prozesse“ am Ende des 12. Jahrhunderts

Rudolf Schieffer (München): Das Lehnswesen in den frühen Urkunden Friedrichs II. und in den Urkunden der Könige von Jerusalem

Heiner Lück (Halle): Woher kommt das Lehnrecht des Sachsenspiegels? Überlegungen zu Genesis, Charakter und Struktur

Steffen Patzold (Tübingen): Das Lehnswesen im Spiegel erzählender Quellen des 12./13. Jahrhunderts

Oliver Auge (Kiel): Zusammenfassung


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