Treffräume juristischer und ökonomischer Regulierungsrationalitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Treffräume juristischer und ökonomischer Regulierungsrationalitäten im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Organisatoren
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.06.2011 - 10.06.2011
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Von
Sebastian Felz, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das 19. Jahrhundert wurde anfänglich geprägt durch Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft sowie schließlich durch staatliche Regulierung und Intervention, aber auch durch Mischformen von staatlicher Hoheits- und gesellschaftlicher Selbstverwaltung. So lautet die Arbeitshypothese der Projektgruppe „Regulierte Selbstregulierung in rechtshistorischer Perspektive“ am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte, einem Teilprojekt des Frankfurter Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“.

Um 1800 setzte der staatliche Rückzug aus der ökonomischen Regulierung ein. Ständische und feudale Organisationsformen eines wettbewerbsfreien Wirtschaftens wurden zurückgedrängt. Allerdings traten neben die Vertragsbindungen der bürgerlichen Privatrechtsordnung neue Institutionen und Regelungssysteme, in denen sich hoheitliche Regulierung wie gesellschaftliche Selbstorganisation trafen und austarierten. Die wichtigen rechtsdogmatischen Systementwürfe am Ende des 19. Jahrhunderts nahmen von diesen neuen normativen Ordnungen aber häufig kaum Notiz. Besonders interessant, da kaum erforscht, ist die Frage, welche ökonomischen Vorstellungen in diesen Regulierungskonzeptionen zum Tragen kamen. Denn eine direkte Übernahme wirtschaftswissenschaftlicher Theoreme in das Recht fand nicht statt. 1 – Doch von welchen Gestaltungsvorstellungen ließ man sich dabei leiten? Welche Anregungen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen flossen in die juristischen Ausarbeitungen ein? Oder wo herrschte Ignoranz und Selbstbezogenheit auf die eigene Disziplin? Welche ökonomischen Impulse wurden in Regulierungskonzeptionen übersetzt? Welchen Einfluss hatte die Nationalökonomie auf die Rechtswissenschaften? Diesen Fragen gingen die Tagungsteilnehmer nach.

In seiner grundlegenden Einführung definierte PETER COLLIN (Frankfurt am Main) zunächst die Leitbegriffe „Treffräume“ und „Regulierungsrationalitäten“. Treffräume ermöglichen Kommunikation über die Fächergrenzen hinweg. Und zwar als Reaktion auf die Herausforderung vermehrter staatlicher Eingriffe in wirtschaftliche Prozesse. Diese juristisch-ökonomische Kommunikation war aber selten „ideal“ und nicht gekennzeichnet durch gegenseitige Abstimmung und gemeinsame Zieldefinition. Vielmehr reichten die Kommunikationsmöglichkeiten von offener oder versteckter Instrumentalisierung, pragmatischen Adaptionen vulgarisierter Theorieextrakte bis hin zu Ignoranz bei gleichzeitiger Inanspruchnahme von Deutungsmacht. Aber auch Versuche interdisziplinärer Verständigung und Aktivierung von Lösungsmöglichkeiten sind zu verzeichnen. Im besten Fall entstanden aus beiden Disziplinen gespeiste „Regulierungsrationalitäten“, also Vorschläge zur gesamtwirtschaftlichen Koordination, nicht nur zum Austarieren von Einzelinteressen. Durch ein breites Tableau von Kommunikationsebenen (Wissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung) und Institutionalisierungen in Vereinigungen sowie Zeitschriften exemplifizierte Peter Collin Ermöglichung und Verhinderung von Verständigung zwischen den beiden Wissenschaften.

Den Blick auf die inneradministrative Steuerreformdebatte in Preußen ab 1879 richtete ANDREAS THIER (Zürich) und analysierte den Diskurs in Verwaltung und Parlament. Fast ohne ökonomischen Bezug sei die damalige Debatte ausgekommen, auch wenn der preußische Finanzminister Johannes von Miquel Gesetzesentwürfe an Nationalökonomen wie Gustav Schmoller und Adolf Wagner versandte. Eine ökonomische Befruchtung des Diskurses ist nicht nachzuweisen. Sogar als preußischer Abgeordneter der Deutsch-Konservativen Partei blieb Wagners Einfluss gering. Dieser Befund in Bezug auf die Gesetzgebung werde auch durch den Abgleich mit der Rechtsprechung bekräftigt. Auch das Schweizerische Bundesgericht übte sich exemplarisch in richterlicher Zurückhaltung in einer kartellrechtlichen Frage zu Beginn der 1930er-Jahre. Die ökonomische Rechtsfolgenabschätzung gehe über die Kompetenz der Richter hinaus. Dies liege, so Andreas Thier, in dem epistemischen Unterschied zwischen der auf die Zukunft gerichteten Ökonomie und der auf vergangene bzw. gegenwärtige Tatbestände konzentrierten Rechtswissenschaft. In der planenden Gesetzgebung, also der Zukunftsgestaltung durch Gesetz, könne ein Treffraum beider Disziplinen liegen.

In die Zeit der Liberalisierung der Zunftverfassungen führte der Vortrag von KLARA DEECKE (Marburg) zurück. Sie verglich die unterschiedliche Entwicklung in den preußischen Kammer- bzw. Regierungsbezirken von Ostpreußen und Vorpommern. In Königsberg setzte sich bei Verwaltungsbeamten und Professoren früh ein wirtschaftsliberales Denken durch. Die Forderung nach Gewerbefreiheit sowie die Kritik des Zunftsystems waren interdisziplinäre Vorstöße von Ökonomen und Juristen sowie Gegenstand eines Diskurses zwischen Königsberger Universität und ostpreußischer Verwaltung. Preußens Leistungsfähigkeit sollte erhöht werden bei gleichzeitiger Beachtung alter Rechte als auch unter Vermeidung ökonomischer Anpassungsschwierigkeiten. Anders stellte sich die Situation im bis 1815 schwedischen, danach preußischen, Vorpommern dar. Dort wurde völkerrechtlich die Zunftverfassung garantiert und hier griffen ökonomische und juristische Argumente ineinander, um die alte Wirtschaftsordnung zu bewahren. Erst allmählich setzte sich in den 1830er-Jahren wirtschaftsliberales Denken durch, indem einzelne „Zunftmissbräuche“ geahndet wurden bei gleichzeitig wirtschaftsliberaler Auslegung des geltenden Rechts. In Königsberg wurde zur selben Zeit aufgrund der Pauperisierung schon wieder vorsichtig über mögliche Staatsinterventionen nachgedacht.

Der Steuererhebung als konstitutivem Merkmal moderner Staatlichkeit widmete sich ULRICH JAN SCHRÖDER (Münster). Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, das Äquivalenzprinzip, erfuhr im Blick auf die Steuer besonders im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts starke Kritik. Die Finanzwissenschaftler des Kaiserreichs favorisierten den „Opfergedanken“ und legitimierten diese Verhältnis von Bürger und Staat eklektizistisch mit rechts- und staatsphilosophischen Denkfiguren. Das Äquivalenzprinzip blieb allerdings von Bedeutung für die Entgeltabgaben, also die Gebühren und Beiträge. Die Diskussionen um die Höhe der Gebühr wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert in der finanzwissenschaftlichen Literatur geführt. Die spätere juristische Literatur hätte hier auf einen reichen Fundus zurückgreifen können. Doch blieb die Bezugnahme nur punktuell. Erst mit der Entstehung der Steuerrechtswissenschaft bildete sich von rechtswissenschaftlicher Seite ein potenzieller disziplinärer Treffraum heraus. Als Arenen des interdisziplinären Austausches erwiesen sich die verschiedenen staats- und kommunalwissenschaftlichen sowie volkswirtschaftlichen Handwörterbücher um 1900.

MONIA MANÂA (Bonn) fragte nach dem Zusammenhang von Krisen und Rechtsentwicklung am Beispiel der 1931 vom Reichspräsidenten erlassenen „Verordnung über Aktienrecht, Bankenaufsicht und über eine Steueramnestie“. Handelt es sich hierbei um ein „bubble law“, also ein schnelles Krisengesetz? Durch einen Rückgriff auf die Diskussion um das Aktienrecht seit 1870 zeigte Monia Manâa eindrucksvoll, wie die Stärkung der Informationsrechte des Aufsichtsrats, die Begrenzung der Aufsichtsratsmitglieder sowie die der Aufsichtsratsmandate, die Pflichtrevision des Jahresabschlusses sowie die Prüfung der Bilanzen durch externe Revisoren Themen der Auseinandersetzungen zwischen Nationalökonomie und Rechtswissenschaften seit Jahrzehnten waren. Die Krise von 1931 war folglich nur Anlass und nicht Grund für die Novellierung des Aktienrechts.

Den „Deutschen Handelstag“, wo die Handelskammern und private Wirtschaftsvereine wesentliche Normierungsprogramme von gesamtwirtschaftlicher Bedeutung diskutierten, untersuchte BORIS GEHLEN (Bonn). Viele Kammersekretäre und Syndizi der Handelskammern waren juristisch vorgebildet. Gleiches galt auch für eine Vielzahl von Unternehmern und Managern, die im Tagesgeschäft ökonomisch agierten. Detailliert zeichnete Gehlen die Kritik des Handelstages an der Eisenbahngesetzgebung in den 1870er-Jahren nach, wie auch die eigenen ökonomischen und juristischen Vorschläge zur Ausgestaltung des Eisenbahnwesens, sei es die Trennung von Netz und Betrieb oder die Frage nach der Staatsaufsicht durch ein Reichseisenbahnamt. Ebenso intensiv wurde die Regulierung des Versicherungswesens verfolgt. Konzessions- und Aufsichtssystem wurden für einzelne Versicherungen (Lebens-, Transport- und Feuerversicherung) nach subtilen ökonomischen und juristischen Abwägungen diskutiert. Schließlich nahm Gehlen auch die Rückwirkungen der Politik, des Lobbyismus` sowie des politischen Massenmarktes auf den Handelstag selbst in den Blick.

Ebenfalls eine institutionelle Ausgestaltung ökonomischer und juristischer Diskussion, nämlich das Jenaer „Institut für Wirtschaftsrecht“, analysierte HEINZ MOHNHAUPT (Frankfurt am Main). Nach einem kurzen Rückgriff auf die beginnende Diskussion zwischen Nationalökonomie und Rechtswissenschaften im 19. Jahrhundert als „imaginärer Treffraum“, wandte sich Mohnhaupt den „konkreten Treffräumen“ im frühen 20. Jahrhundert zu, welche den interdisziplinären Diskurs durch Gründung verschiedener „wirtschaftsrechtlicher“ Institute in Kiel, Münster, Breslau, Königsberg, Halle und Heidelberg verstetigen sollten. Dazu gehörte auch das 1919 in enger Verbindung mit der „Carl-Zeiss-Stiftung“ eröffnete Institut in Jena unter Leitung des Juristen Justus Wilhelm Hedemann. Trotz der dort unternommenen Versuche zur Konkretisierung des Begriffs „Wirtschaftsrecht“ fehlt eine handhabbare Definition bis heute. Die Bemühungen um Konkretisierung spiegeln sich in den Mitteilungen des Instituts wider, insgesamt 32 Hefte, welche die Initiativen, Forschungsfragen und Beziehungen zur Wirtschaft aufzeigen. Zu den Untersuchungsfeldern gehörten das „Organisationswesen“, also das Recht der Verbände, das Arbeitsrecht sowie Einzelprobleme der Wirtschaft aufgrund der Kriegswirtschaft bzw. der Nachkriegsentwicklung. Nach 1933 wandte sich Hedemann dem Vergleich nationalsozialistischer und faschistischer Wirtschaftspolitik zu.

WILFRIED RUDLOFF (Kassel) stellte sich die Aufgabe, in den sozialreformerischen Vereinen des Kaiserreichs die verschiedenen Denkstile und Denkkollektive im Sinne von Ludwik Fleck zu identifizieren und darüber hinaus den Einfluss auf die politische Diskussion und Niederschlag in Gesetzgebung und Verwaltungspraxis nachzuzeichnen. Dazu verglich er den eher nationalökonomisch ausgerichteten „Verein für Socialpolitik“ sowie den durch Juristen geprägten „Deutschen Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit“. Anhand der Diskussion um das Koalitionsrecht sowie den Armutsbegriff weist Wilfried Rudloff nach, dass die historische Forschung den „Verein für Socialpolitik“ in seinen Auswirkungen auf Gesetzgebung und Verwaltung überschätzt hat, während der „Verein für Armenpflege“ durch seine Mitglieder, praxisnahe Verwaltungsjuristen, einen größeren Einfluss hatte. Häufig findet sich in den Diskussionen keine klare Trennlinie zwischen Ökonomen oder Juristen, beispielsweise in der Debatte um das Koalitionsrecht. Anders stellt sich der Befund in der Auseinandersetzung um den Armutsbegriff dar. Während die Nationalökonomen den Begriff der Schuld aus der Diskussion verabschiedeten, hielten die Juristen am Binärsystem verschuldete/nicht verschuldete Armut fest und verbanden damit Konsequenzen für das Wahl- und Polizeirecht. Die beginnende Fürsorgewissenschaft synthetisierte dann ihren Armutsbegriff aus den verschiedenen Erklärungsmustern.

Einen blinden Fleck der rechtswissenschaftlichen Diskussion im ausgehenden 19. Jahrhundert diagnostizierte VERA HIERHOLZER (Frankfurt am Main). Die Nahrungsmittelregulierung fand fast unter völligem Ausschluss der rechtswissenschaftlichen Diskussion statt. Als Nebenstrafrecht und wenig ergiebige Rechtsmaterie für dogmatische Forschung blieb die Lebensmittels(recht-)wissenschaft den aufsteigenden Medizinal- und Naturwissenschaften überlassen. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde diese Materie vor allem durch Entscheidungen des Reichsgerichts geprägt, welches über Streitfälle aufgrund des 1879 verabschiedeten Nahrungsmittelgesetzes entschied. Aufgrund der Wichtigkeit von Sachverständigen in naturwissenschaftlichen Fragen, verlor das Gericht faktisch seine Entscheidungskompetenz an die Experten, welche auch entscheidend bei der pluralen Normsetzung durch staatliche Rahmengesetzgebung und unternehmerischer Selbstverpflichtungen mitwirkten. Es bildete sich eine „regulierte Selbstregulierung“ durch Staat und Akteure heraus, welche von der Rechtswissenschaft fast völlig ignoriert wurde.

CHRISTIAN HENRICH-FRANKE (Siegen) unterstrich die Möglichkeit der Mehrdimensionalität von juristischen und ökonomischen Treffräumen am Beispiel der Eisenbahngesetzgebung. Die Debatte fächerte sich durch die föderale Komponente wiederum um juristische und ökomonomische Regulierungsrationalitäten aus Sicht der Bundesstaaten auf. Je nach Gang der Gesetzgebung traf ein Gesetzesprojekt auf die konfligierenden Interessen von Reich und Bundesstaaten (Initiative durch den Bundesrat) bzw. einen hitzigen Meinungskampf des politischen Massenmarktes (Initiative durch den Reichstag). Das 1873 gegründete Reichseisenbahnamt sollte neben dem Aufsichtsrecht über das Eisenbahnwesen vor allem einen Gesetzesvorschlag zur Ausfüllung der Reichskompetenz auf dem Gebiet der Eisenbahngesetzgebung erarbeiten. Widerstand gegen die Reichsaufsicht ging vor allem von Preußen und den Privatbahnen aus. Auch die Fragen nach dem Aufbrechen von Monopolen, nach Schienenkonkurrenz sowie der Tariffestsetzung waren heftig umstrittene Punkte. Die Entscheidungsdimension variierte je nach föderalen, juristischen oder ökonomischen Überlegungen. So scheiterten in diesem Dreieck zwei Entwürfe eines Reichseisenbahngesetzes bis 1879.

PETER BECKER (Wien) stellte die drei österreichischen Verwaltungsreformen (1910, 1920 und ab den 1960er-Jahren) als Treffräume vor, die nicht ausschließlich ein verwaltungstechnisches oder politisches Projekt waren, mit denen sich ministerielle Planungsstäbe, reformfreudige Verwaltungspraktiker oder wissenschaftliche Experten befassten, sondern in diesem Rahmen trafen sich auch immer die Wunsch- und Angstprojektionen der Bürgerinnen und Bürger. Der „anthropologische Raum“ (Pierre Lévy), also die Möglichkeit, solche Planungs- und Exekutivbehörden mit ihren identitätsstiftenden Funktionen zu untersuchen, wurde damit als weitere perspektivische Alternative für die Trefforte ökonomischer und juristischer Regulierungsrationalitäten in die Diskussion eingeführt. Die Strukturen der Expertengremien durch eigene Geschäftsordnungen, eigene Bibliotheken sowie eine eigene Diskussionskultur, die Kopplungen zur immer stärker partizipierenden und rezipierenden Öffentlichkeit und die Rückwirkungen der öffentlichen Meinung auf die Experten und Enqueten wurde illustrativ und breit aufgefächert dargestellt.

Anhand der Kartelldebatte in der Weimarer Republik verdeutlichte ROMAN KÖSTER (München) den Bedeutungsverlust des nationalökonomischen Wissens nach dem Ersten Weltkrieg. Kartelle und Monopole waren schon 1893 und 1905 wichtige Tagesordnungspunkte auf den Tagungen des „Vereins für Socialpolitik“ gewesen. Die vor dem Ersten Weltkrieg dominierende Historische Schule war intensiv an der Debatte über eine Kartellgesetzgebung beteiligt. Diese Partizipation war auch das Ergebnis der damals noch vorhandenen fachlichen Nähe von Rechts- und Staatswissenschaften, von Jurisprudenz und Nationalökonomie. Mit der dirigistischen Kriegswirtschaft, der Niederlage der Mittelmächte, der Demokratisierung sowie durch Reparationen und Inflation konnte der historische Evolutionismus der Historischen Schule nicht weiterbetrieben werden. Eine Ordnung aus der Kontinuität zu konstruieren, war mit dem epistemischen Anspruch verbunden, die historischen Fakten zu beherrschen. Mit dem Ersten Weltkrieg brachen aber das alte Europa und seine Ordnung zusammen. Die Nationalökonomie flüchtete sich in skurrile Methodendebatten und Selbsthistorisierung. Ihre Vertreter begrüßten teilweise die zunehmende Kartellierung als organische Ordnung aus der wirtschaftlichen Entwicklung, teils bekämpften sie die Kartelle aus ordoliberaler Perspektive. Auf die konkreten Gesetzesprojekte (Kartellverordnung 1923 oder Kartellgesetz 1933) konnte sie aber aufgrund ihrer Konzentration auf das Grundsätzliche nicht mehr einwirken.

Die Abschlussdiskussion steckte die vielen Koordinaten möglicher Trefforte ab. Unterschieden wurde zwischen verschiedenen Arten und Modi von Trefforten, welche abhängig von Einstellungen der Akteure und unterschiedlichen Zieldimensionen sowie von Rahmenbedingungen und Kommunikationsebenen ermöglichen und verhindern, dass ökonomische und juristische Regulierungsrationalitäten aufeinander treffen und synthetisch ein Problem lösen. Die Entstehung des modernen Interventions- und Sozialstaates aus dem Geist ökonomischer und juristischer Regulierungsrationalitäten, dies zeigte die Tagung, ist eine weitwinkelige und deshalb aufschlussreiche rechtshistorische Perspektive.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Peter Collin (Frankfurt am Main)

Vorüberlegungen/Vorformen

Peter Collin (Frankfurt am Main): Treffräume von Regulierungsrationalitäten: Anlässe, Ebenen, Instrumente und Stimmungslagen juristisch-ökonomischer Kommunikation

Andreas Thier (Zürich): Überlegungen zu den Treffräumen ökonomischer und rechtswissenschaftlicher Diskurse

Klara Deecke (Marburg): Die Liberalisierung der Zunftverfassung im frühen 19. Jahrhundert. Ökonomische und juristische Argumentationsstrategien bei Verwaltungsbeamten und Professoren aus Ostpreußen und Vorpommern

Brückendisziplinen

Ulrich Jan Schröder (Münster): Steuerstaatlichkeit auf dem Prüfstand. Die Rezeption finanzwissenschaftlicher Konzepte der Abgabenfinanzierung in den juristischen Diskursen zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Weimarer Republik

Monia Manâa (Bonn): Verändern Wirtschaftskrisen staatliche Regulierungskonzepte? Der Einfluss juristischer und ökonomischer Forschung auf das Aktienrecht im Vorfeld der Wirtschaftskrise von 1931

Begegnungsorte

Boris Gehlen (Bonn): Der Deutsche Handelstag als Treffraum ökonomischer und juristischer Regulierungsrationalitäten (1861 bis 1914)

Heinz Mohnhaupt (Frankfurt am Main): Das Jenaer „Institut für Wirtschaftsrecht“ (1919-1936) als Treffraum zur Erforschung des Rechts im Wirtschaftsleben

Wilfried Rudloff (Kassel): Sozialpolitische Vereine als Treffpunkt unterschiedlicher wissenschaftlicher Problemsichten: Der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit

Interaktionsfelder

Sebastian Felz (Münster): Auszug aus der Mietskaserne, Einzug in die Heimstätte? Der „Bund deutscher Bodenreformer“ und die Regulierung des Wohnungsmarktes

Vera Hierholzer (Frankfurt am Main): Rückzug des Rechts? Die Nahrungsmittelregulierung in der Rechtswissenschaft des Kaiserreichs

Christian Henrich-Franke (Siegen): Mehrdimensionale Treffräume? Juristische und ökonomische Regulierungsrationalitäten in der Eisenbahngesetzgebung des Kaiserreichs in den 1870er Jahren

Peter Becker (Wien): Die Debatte um die Verwaltungsreform als interdisziplinärer Treffraum

Roman Köster (München): Die nationalökonomische Kartell-Diskussion in der Weimarer Republik

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Peter Collin, „Gesellschaftliche Selbstregulierung“ und „Regulierte Selbstregulierung“ – ertragreiche Analysekategorien für eine (rechts-) historische Perspektive?, in: Ders. u. a. (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, Frankfurt am Main 2011, S. 3-31; Ders., Privatisierung und Etatisierung als komplementäre Gestaltungsprozesse. Ein historischer Rückblick auf „regulierte Selbstregulierung“, in: Juristenzeitung 2011, S. 274-282.


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