Europäische Perspektiven der Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit – ein deutsch-polnischer Austausch

Europäische Perspektiven der Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit – ein deutsch-polnischer Austausch

Organisatoren
Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in Nordrhein-Westfalen; Bildungswerk der Humanistischen Union; Landeszentrale für politische Bildung NRW; Museum und Gedenkstätte Lublin-Majdanek
Ort
Gelsenkirchen
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.06.2011 - 03.06.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Norbert Reichling, Bildungswerk der Humanistischen Union

Geschichtskulturelle und geschichtspolitische Debatten haben in Deutschland und Polen einen hohen Stellenwert; zugleich gibt es eine intensive Praxis des Austauschs von Schülergruppen zwischen beiden Seiten sowie von Gedenkstättenfahrten und fachlichen Kontakten. Grund genug, im Rahmen des NRW-Polen-Jahres Gedenkstättenpraktiker/innen aus beiden Ländern zu einem näheren Kennenlernen und dem Ausloten zukünftiger Chancen der Kooperation einzuladen. Der Fachtagung ging ein dreitägiges Programm intensiver Erkundung der Gedenkstättenlandschaft in Nordrhein-Westfalen voraus: Ausgewählte Erinnerungsorte im Rheinland und in Westfalen konnten 15 Kolleginnen und Kollegen aus Majdanek, Auschwitz, Bełżec, Danzig, Stutthof, Treblinka und anderen polnischen Gedenkorten ihre Konzepte und Praxis vorstellen.

Die Tagung stellte zum einen allgemeine Linien geschichtskultureller Entwicklung im Vergleich vor; zweitens präsentierte sie ausgewählte Praxisprobleme der Gedenkstättenpädagogik und der Profilierung neuer und alter Lernorte in Polen. Für die Veranstalter stellte Guido Hitze die noch junge historische Chance heraus, eine komplexe europäische Entwicklung 1914 bis 1990 insgesamt thematisieren zu können, ohne dies sogleich in eine neue lineare Erzählung münden zu lassen. ALFONS KENKMANN (Leipzig/Münster), Sprecher der Gedenkstätten und Erinnerungsorte in NRW, resümierte am Beispiel Nordrhein-Westfalens die allmähliche „Verfeinerung“ pädagogischer und darstellerischer Ansätze von den „brachialpädagogischen“ Zügen der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Entstehung und arbeitsteiligen Professionalisierung von Lernorten. Eine Phase der Aufgabenkritik und Selbstreflexion sei gegenwärtig notwendig, um demografisch veränderten Lerngruppen, aber auch den disparaten Hintergründen heutiger Besucher/innen allgemein gerecht zu werden. Über die Gedenkstättenentwicklung in Polen informierte MARCIN ZABORSKI (Warschau). Er unterstrich die grundlegende Zweiteilung zwischen dem offiziellen Gedächtnis der Volksrepublik – Kampf, Martyrium und Sieg akzentuierend - und den anderen, im Hintergrund schwebenden Erinnerungen, wies aber auch auf Veränderungen der dominanten Narrative bereits vor 1989 hin. Dieser Weg „von der Huldigung zur offenen Debatte“, auch über Instrumentalisierungsgefahren und die heutigen Beziehungen der Besucher zum Ausgestellten, sei weiter zu verfolgen. Die Diskussion des Vortrags verdeutlichte, dass neuere und multimedial inszenierte Geschichtsorte wie das Museum des Warschauer Aufstands viel Aufmerksamkeit von den etablierten Orten „negativer Geschichte“ ablenken und dass es in Polen – auch angesichts existenzieller Akzeptanz- und Kostenprobleme - noch kaum Ansätze einer Historisierung der Gedenkstättenentwicklung gibt.

Die Grundtrends beider Geschichtskulturen zusammenzufassen, unternahmen anschließend CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) und ZOFIA WÓYCICKA (Brüssel). Goschlers These: die bundesrepublikanische Gesellschaft hat sich von frühen Opferkonkurrenzen (zwischen Kriegsopfern und Völkermord-Opfern) über eine identifikatorische Phase des stellvertretenden Opfergedenkens zu einer allmählich gelasseneren Aussöhnung mit der Kriegsgeneration und ihren Erfahrungen durchgerungen. Christlich-universalistischen Eskapismus vor der konkreten Geschichte, die langjährige Derealisierung der Verbrechen, die polarisierenden Kontroversen der 1980er- und 1990er-Jahre wurden als Fluchtbewegungen aus der Schuldgemeinschaft angesprochen; letztlich waren sie jedoch auch Wegstationen hin zur heutigen Entdramatisierung, die Goschler vor allem auf die erweiterte europäische Wahrnehmung zurückführte. Er plädierte für einen pragmatisch-leidenschaftslosen Begriff von Europäisierung, der unter anderem schlicht bedeuten könne, dass die Bundestags-Abgeordnete Steinbach ohne großes Echo ihren Geburtsort besuchen könne. In der Diskussion erwies sich allerdings, dass die skizzierte „Entkrampfung“ keinen einhelligen Konsens darstellte – die Versöhnung mit der Großväter-Soldaten-Generation kann nicht nur mit Altersmilde und gereiftem Geschichtsverständnis erklärt werden, sondern wird doch von Manchem mit militärischen Aktivitäten der heutigen Bundesrepublik in Verbindung gebracht. Das ergänzende Porträt der polnischen Gemengelage konzentrierte sich auf die Erfahrungen seit den 1980er-Jahren. Zofia Wóycicka arbeitete heraus, dass es seither einen großen Meinungsumschwung und Wissenszuwachs in der polnischen Gesellschaft gegeben habe, die insbesondere mittels Kunstprojekten ihre Perspektiven erweitert habe. Gerade das jüdische Leben werde heute in ungleich größerem Maße wahrgenommen als noch vor 20 Jahren. Bei aller notwendigen Kritik an patriotischen Erziehungsarrangements gelte es zu konstatieren, dass die zivilen Geschichtskulturen anderer europäischer Länder ein grundsätzlich individualisierend-irritierendes Moment aufwiesen. Die polnischen Befürchtungen vor „Revisionismus“ und Entkontextualisierung etwa der Vertreibung reagierten auf solche Verunsicherungen.

Das „Lernen in Gedenkstätten“ unterzog BERT PAMPEL (Dresden) einer kritischen Befragung im Licht verschiedener Evaluationsstudien. Dass den Besucher/innen Erlebnis meist wichtiger ist als Information, dass mehr Bestätigung als Verunsicherung und Veränderung zu verzeichnen ist, weise pädagogische Allmachtsträume in enge Schranken. Die Differenzierung vorhandenen Wissens, die Veranschaulichung des Gewussten scheinen nicht nur in den NS-Gedenkstätten, sondern auch in denen für die Opfer des Kommunismus und Stalinismus das Geschehen zu bestimmen; weitergehend überzogene Erwartungen zu dämpfen könnte die Aufmerksamkeit für die wirklichen Stärken der Lernorte schärfen. Solche Chancen dürften – so unzureichend die empirischen Befunde auch seien – in der differenzierten Aufklärung über diese historischen Orte und in der Dimension der Empathieförderung liegen. Pädagogische Erfahrungen auf polnischer Seite, vorgestellt von WIESŁAW WYSOK (Lublin), machten auf die Frage aufmerksam, wie viel die meist jugendlichen Besucher/innen eigentlich von den historischen und geografischen Differenzen in der Geschichtskultur wissen – und wissen sollten. Er plädierte für multiperspektivische Begegnungen, in denen sich unterschiedliche Gedenktraditionen und -bedürfnisse ausdrücken können. Versuche eines gemeinsamen Gedenkens seien auch ohne ein vereinheitlichtes Narrativ möglich und sinnvoll; sie könnten es den Teilnehmenden auch – ungeachtet des in der Diskussion problematisierten eventuell entstehenden Homogenisierungsdrucks auf die „nationalen“ Teilgruppen – ermöglichen, sich als eigenständige und individuelle Akteure des Gedenkens wahrzunehmen. Aus der Praxis deutsch-polnischer Seminare berichtete anschließend ZBIGNIEW WILKIEWICZ (Vlotho). Die gemeinsame Arbeit an der Dekonstruktion historischer Mythen sei in solchen Kontexten möglich, wenngleich das Wissen und der „Kanon“ bei den polnischen Teilnehmenden ungleich präsenter und das Zusammenhangsdenken bei beiden Teilnehmergruppen immer weniger ausgebildet sei. Exemplarisches Vorgehen erlaube es dennoch, nicht nur aktuelle Divergenzen, sondern auch Rezeptionsgeschichten zu untersuchen und zu reflektieren.

Noch stärker in die Empirie und pädagogische Praxis der Gedenkstätten gingen die Beiträge des zweiten Tages. Aus der Arbeit ihrer Institution, der städtischen Mahn- und Gedenkstätte, stellte ASTRID WOLTERS (Düsseldorf) einige Beispiele vor: Insbesondere Projekttage und -wochen bzw. Ferienworkshops bieten Möglichkeiten anspruchsvoller Arbeit; als Produkte solcher Arbeit kommen Theateraufführungen, Skulpturen und mehr in Betracht. Weiter verwies sie auf die intergenerationellen Begegnungen im Rahmen der Besuchsprogramme für ehemalige Zwangsarbeiter/innen, die jeweils von Jugendlichen mehrere Tage lang begleitet und anschließend in einer langsam wachsenden Ausstellung porträtiert wurden, sowie auf eine Kooperation mit Düsseldorfer Unternehmen, die in den Rahmen ihrer Ausbildungstätigkeit Studienreisen nach Auschwitz integrieren und diesem Ansatz der „social responsibility“ auch betriebsintern weiteren Raum geben.

Drei Gedenkstätten und Museen in Polen wurden von deren Mitarbeiter/innen in Entstehungsgeschichte und Konzept präsentiert. „Der pädagogische Umgang mit der Leere des Ortes“, so war der Beitrag von EWA KOPER (Bełżec) überschrieben, in dem sie neben der Bedeutung des Ortes Bełżec die Vorgeschichte und Entstehung der Gedenkstätte umriss – heute ein „gestalteter Ort“ mit einer interaktiven Ausstellung, der allerdings größere Aufmerksamkeit durch polnische und internationale Gruppen vertragen könnte. ANDRZEJ KACORZYK und EWA MATLAK (Oświęcim/Auschwitz) referierten über neuere pädagogische Strategien in ihrer Institution. Dazu zählten unter anderem ein E-Learning-Projekt zum Holocaust mit einer guten altersübergreifenden Resonanz sowie Projekte für Strafgefangene und Menschen mit geistiger Behinderung. Besonders stach in diesem Beitrag hervor, dass diese Gedenkstätte sich auch über die Vielfalt ihrer Guides sowie deren biografische Motive und Ressourcen für die Ausstellungsbegleitung systematisch Gedanken macht. Des Weiteren stellte DANIEL LOGEMANN (Gdańsk/Danzig) eine noch in der Entstehung befindliche Einrichtung ohne „historischen Ort“ vor: Dieses Haus wird ab 2014 versuchen, seinen Gästen auch aus den Nachbarländern eine multiperspektivische Sicht auf den Weltkrieg zu bieten. Anhand einzelner (möglicher) Exponate bot er einen Blick auf eine (im Vergleich zum Warschauer Aufstands-Museum) eher zurückhaltende Annäherung an die Aussagekraft von Dokumenten, Fotos und anderen Relikten.

Über den Umgang mit Biographien in deutschen und besonders in nordrhein-westfälischen Gedenkstätten referierten HEIDI BEHRENS und NORBERT REICHLING (Essen); sie verknüpften diese Frage mit den Entwicklungsschritten der Einrichtungen hin zu multiperspektivischen Ansätzen. Am Beispiel verschiedener pädagogischer Ansätze – z.B. Erzählcafés, Gedenkbüchern, Erarbeitung elektronischer Ressourcen in Web und Datenbanken – wurde das Potenzial der biografischen Arbeit für die Vermittlung geschichtlicher Komplexität verdeutlicht. ANNETTE EBERLE (Leipzig) unternahm es, das schwierige Verhältnis zwischen historisch-politischem Lernen und Menschenrechtspädagogik zu analysieren. Auf der Basis einer Befragung von Bildungseinrichtungen und Gedenkstätten plädierte sie für einen klaren Vorrang der ortsbezogenen geschichtlichen Themen in den Gedenkorten, obwohl die Förderpolitik immer häufiger die enge Verknüpfung beider Dimensionen zu erzwingen versuche.

„Europäische Perspektiven und demokratiepädagogische Schlussfolgerungen“ waren Thema des abschließenden Podiums, das an die Fragestellung von Eberle anschloss und zugleich ein Resümee versuchte. Es kreiste um die Überkomplexität aller Bemühungen, europäische Gesamtbilder zu entwerfen, mühte sich an der These JAN PISKORSKIs (Szczecin/Stettin), dass (auch) in Westeuropa eine Renationalisierung zu beobachten sei, und der Frage, ob „Europäisierung“ eigentlich eine Norm oder ein bereits ablaufender Prozess sei. CLAUDIA KRAFT (Erfurt) verwies auf die unbezweifelbaren Modernitätsunterschiede auch im organisierten Europa, um für Geduld und Gelassenheit zu werben. Und in kritischem Abstand zu eilfertigen Universalisierungsvorschlägen historischer „Lektionen“ beharrte WOLF KAISER (Berlin) auf dem Eigenrecht eines historischen Lernens.

Das diskursive „Durcharbeiten“ des Kontroversen und die langsame Gewöhnung an dekonstruktives Denken wird wohl in Publizistik, Wissenschaft und Pädagogik zu diesem Themenfeld mindestens noch auf absehbare Zeit überwiegen, die Zeit hierarchisch geordneter Geschichtskonzepte ist vielleicht auch generell verstrichen – so kann man die Ungleichzeitigkeiten resümieren, die nicht nur in der Schlussdebatte sichtbar wurden. Die Veranstaltung demonstrierte aber auch, dass dennoch genug zu tun bleibt für eine gemeinsame Reflexion der nicht immer sachgeprägten Themenkonjunkturen und einer experimentierenden pädagogischen Praxis an den Gedenkorten, die in beiden Ländern offener, vielfältiger und moderner ist als öffentliche Vermutungen über das dortige Lerngeschehen manchmal suggerieren.

Konferenzübersicht:

Guido Hitze (Landeszentrale für politische Bildung NRW, Düsseldorf)
Eröffnung und Begrüßung

Alfons Kenkmann (Vorsitzender des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten NRW und Universität Leipzig)
Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen: historische Entwicklungen, Aufgaben und Arbeitsschwerpunkte heute

Marcin Zaborski (Instytut Politologii UKSW, Warzsawa)
NS-Gedenkstätten in Polen – Entwicklungen, Aufgaben und aktuelle Perspektiven

Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum)
An den Nationalsozialismus erinnern – Trends und Konfliktlinien in der deutschen Geschichts- und Erinnerungskultur

Zofia Wóycicka (Brüssel/Warschau)
Trends und Konfliktlinien in der polnischen Geschichts- und Erinnerungskultur

Bert Pampel (Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Dresden)
Lernen in deutschen Gedenkstätten – Thesen auf Basis von Befunden der Besucherforschung

Wiesław Wysok (Museum/Gedenkstätte Majdanek)
Der Umgang mit unterschiedlichen Erinnerungen an Holocaust und II. Weltkrieg – Erfahrungen aus der Gedenkstätte Majdanek/Lublin

Zbigniew Wilkiewicz (Gesamteuropäisches Studienwerk Vlotho)
Empathisch und multiperspektivisch erinnern – Erfahrungen aus deutsch-polnischen Seminaren

Astrid Wolters (Mahn- und Gedenkstätte der Landeshauptstadt Düsseldorf)
Beispiele pädagogischer Ansätze aus der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf

Ewa Koper (Gedenkstätte Bełżec)
Der pädagogische Umgang mit der Leere des Ortes – Das Beispiel der Gedenkstätte Bełżec

Andrzej Kacorzyk/Ewa Matlak (Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau)
Beispiele pädagogischer Arbeit aus der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Heidi Behrens/Norbert Reichling (Bildungswerk der Humanistischen Union, Essen)
Konkretion – Perspektivität – neue Fragen. Biographieorientierte Bildung in Gedenkstätten

Daniel Logemann (Museum des II. Weltkrieges, Gdańsk/Danzig)
Die Ausstellung über die Konzentrationslager vor dem Hintergrund des Ausstellungskonzepts des Museums des II. Weltkrieges

Annette Eberle (Universität Leipzig)
Zur Integration von historischer Bildung und Menschenrechts- und Demokratielernen

Europäische Perspektiven und demokratiepädagogische Schlussfolgerungen der Gedenkstättenarbeit – eine Podiumsdiskussion
mit Claudia Kraft (Universität Erfurt), Jan M. Piskorski (Universität Szczecin/Stettin) und Wolf Kaiser (Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz Berlin)


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