Über die Ordnung. Museum, museales Wissen und kulturelle Praxis im europäischen Kontext

Über die Ordnung. Museum, museales Wissen und kulturelle Praxis im europäischen Kontext

Organisatoren
Roland Cvetkovski; Zentrum für Vergleichende Europäische Studien, Universität Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.05.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Helena Weber, Abteilung für osteuropäische Geschichte, Universität zu Köln

Ein Museum sei, laut Maurice Blanchot, „ein Tempel der Kulturen, der Religionen, der geschichtlichen Herrlichkeiten“, und das Museum, das wir lieben sollten, sei „das Museum der Inhalte, das Museum der Geschichten und der Zeiten“.1 Dieser Anspruch scheint in der heutigen Realität der musealen Praxis oft in Vergessenheit geraten zu sein. In einem Museum, in dem alle 30 Minuten 180 neue Besucher eingelassen werden, wie im Falle der Londoner National Gallery anlässlich der Leonardo Da Vinci-Ausstellung, hat der Besucher statistisch gerechnet schätzungsweise vier Minuten pro Ausstellungsgegenstand. Viel Zeit für die Betrachtung der Inhalte und Geschichten bleibt da nicht, Effizienz steht hier klar im Vordergrund, Müßiggang wird zur Betriebsstörung. Dabei steht die Blockbuster-Ausstellung in der Londoner National Gallery nicht alleine da, der Trend zur Verkürzung der Aufenthaltsdauer ist in vielen Museen inzwischen Programm und wird durch subtile Mittel in der Gebäude- und Innenarchitektur auch lange schon erreicht. Neu daran ist, dass der ehemals verpönte „Kultur-Konsument“, der im Eilschritt durchs Museum huschte, inzwischen zum Idealbesucher avanciert ist.2 Befindet sich deshalb diese ehrwürdige alte Institution, die sich als Wissensspeicher und Wissensvermittler in der Gesellschaft etabliert hat, in einer Krise, verrät sie gar ihre ursprünglichen Ideale?

Im Kontext dieses vermeintlichen Umbruchs, der sowohl die definitorische als auch inhaltliche Dimension des Museums bezeichnet, traf der am 27. Mai 2011 von Roland Cvetkovski am Zentrum für vergleichende europäische Studien der Universität zu Köln organisierte Workshop mit einem interdisziplinären Zugang zum Forschungsgegenstand möglicherweise den Puls der Zeit. In seiner Einführung richtete der Veranstalter den Blick auf das Museum als kulturelle Schnittstelle, die klassischerweise mehrere Praktiken in sich vereint: die des Sammelns, Konservierens, Klassifizierens und Ausstellens. Dabei bezeichne der Topos „Ordnung“ insofern die eigentliche Wirkmacht des Museums, als darin gesellschaftlich relevante Kategorien geschaffen und nach außen getragen werden. Als drei übergreifende Perspektiven wurden dabei der Blick ins Museum, auf die Ausstellungsobjekte und der Blick aus dem Museum vorangestellt, die den Zusammenhang zwischen Museum und Gesellschaft deutlicher machen sollten. Zentral sei dabei das Wechselspiel zwischen Form und Inhalt genauso wie zwischen den Ordnung Schaffenden und den Ordnung Rezipierenden. Allgemein stelle sich für den Workshop die Frage, wie hoch eigentlich das kritische Potential des Museums überhaupt einzuordnen sei.

Mit dem ersten Vortrag über die „Ansätze zu einer Theorie des Museums“ stellte MICHAEL FEHR (Berlin) die dem Thema zugrunde liegende Frage, was ein Museum heute vor dem Hintergrund der massenmedialen Gesellschaft eigentlich darstelle. Damit schuf er gleich zu Beginn sowohl das theoretische als auch kritische Rahmengerüst für den Umgang mit dem Begriff Museum.

Er verwies zunächst auf die Trennung zwischen Museumsgehäuse und der Museumssammlung. Während ersteres vom Repräsentationsinteresse geleitet sei, liege der Sammlung vor allem ein Erkenntnisinteresse zugrunde. Da die Ausstellungsobjekte des Museums nicht aus ihm selbst stammen, bringe das Museum eine andere Realität in die Welt, indem es die Definitionen von Dingen festlege und sie zugleich als eigene Entitäten betrachte. In dieser Funktion nehme es eine bedeutende Rolle für unser Selbstverständnis ein. Dennoch befinde sich das Museum in einer Krise, da es als Wissensort nicht mehr aktuell sei und der Trend zur Vereinzelung oder zur bloßen Markierung von Highlights gehe. Es werde nicht mehr betrachtet, sondern vielmehr nur noch beobachtet. So werde das Museum zum bloßen Showroom umgewandelt, denn die Form des Displays stehe im Vordergrund, Wissen und Interesse rücke dabei in den Hintergrund. Um dem vorzubeugen, müsse ein sogenanntes „mission statement“, also eine eindeutige Definition des Museumsauftrags formuliert werden. Da das Museum nicht länger als Wissensspeicher wahrgenommen werden könne, müsse es seinen naiven Positivismus aufgeben und sich zu einem Ort entwickeln, an dem die Konstituierung von Realitäten beobachtet werden kann und sich Beobachter als Beobachter erfahren. Sein Vorschlag, das Museum als autopoetisches System zu beschreiben, zielt darauf ab, den universellen und zugleich dynamischen Charakter des Museums zu verstehen, denn über eine kulturelle Praxis hinaus sei es auch ein kommunikatives System, das eine eigene Geschichte in seinem Umgang mit den Gegenständen entwickele.

Mit der historischen Dimension des Museums beschäftigte sich LISA REGAZZONI (Frankfurt am Main) in ihrem Vortrag über das Musée des Monuments Français (1795-1816). Das aus der Revolution hervorgegangene Museum entwickelte sich unter Alexandre Lenoir von einem Zwischenlager zu einer eigenständigen Institution, in der Denkmäler und Monumente gesammelt, restauriert und ausgestellt wurden. Auch königliche Grabmäler und kirchliche Güter, die als Erbe der Monarchie galten, wurden von Lenoir als Zeugen der Geschichte bzw. Kunstgeschichte funktionalisiert, indem sie in die Ausstellung integriert und in einer chronologischen Reihenfolge geordnet wurden. Ihrer Sakralität beraubt und zu bloßen Ausstellungsobjekten verdinglicht erhielten sie zugleich eine gesellschaftlich-pädagogische Funktion, indem sie unablässig die Geschichte der französischen Nation thematisierten. So verwandelte sich das Museum bald zum Ort des gesamten Volkes, zum Anschauungsort der französischen Geschichte, aber zugleich auch zu dem Ort, der die Niederlage der Monarchie repräsentierte. Dass dies aber überhaupt möglich geworden war, liege, so Regazzoni, im Epochencharakter begründet, in der sich die Geschichte als die Größe sowie als serielle Ordnung etablierte und zugleich durch den Fokus auf die Nation eine etymologische Umdeutung vollzog. Dadurch gewann sie einen klassenübergreifenden Charakter und generierte ein neues Geschichtsverständnis. Genau für diesen Umbruch sei das „merkwürdigste Museum der Nation“ zum Anschauungsort avanciert und damit unmittelbar mit dem Louvre in Konkurrenz getreten.

Über die Ordnung der Revolution in der Museumslandschaft der frühen Sowjetunion sprach der Organisator des Workshops ROLAND CVETKOVSKI (Köln). Das Museum, nunmehr zu einem utopischen Ort erklärt, ordnete sowohl die Vergangenheit, die Gegenwart als auch die Zukunft in der Gesellschaft nach 1917. Gekennzeichnet durch das „faktische Wissen“ sollten Museumsgegenstände so nah wie möglich an die Wirklichkeit heranreichen und sie zugleich abbilden. Ab 1928 zeigte sich zudem der politische Anspruch des Revolutionsmuseums, vornehmlich politisch relevante Fakten darzustellen und im Rahmen des Fünfjahresplans am Aufbau des Landes mitzuwirken.

Die pädagogische Aufgabe einer explizit sowjetischen Ausstellungspraxis lag, so Cvetkovski, im Aufzeigen zum einen der Revolution selbst und und zum anderen in der Offenlegung der damit verbundenen ökonomischen, politischen und kulturellen Grundlagen. Das Wissen sollte durch Führungen vermittelt werden, in welcher Museumsdinge an sich nicht vorkamen, sondern größtenteils nur Bilder, Texte, Grafiken, Modelle des wirtschaftlichen Aufschwungs und Propaganda, die sich selbst erklären und das Museum zu einem „selbstsprechenden“ Ort machen sollten.

In den Augen der Sowjets war das Museum ein Sachzeuge, das Ambivalenzen ausmerzen und zugleich die revolutionäre Ideologie stützen müsse, und genau diese Linie systematisierte die Museumswissenschaft. Dadurch bildete sie aber nicht die revolutionäre Wirklichkeit bloß ab, sondern ordnete den revolutionären Diskurs grundlegend.

SANDRA VACCA (Köln) stellte ihr Dissertationsprojekt zum Thema der Immigrationsmuseen und -ausstellungen in Deutschland, Frankreich und England vor. Im Hinblick auf die Postcolonial Studies stellt sich bei den heutigen Immigrationsmuseen die Frage, wie man Einwanderung erinnern, erzählen und repräsentieren und damit zugleich die Migranten erreichen kann. Wer aber, so lautet die grundlegende Frage, bildet die eigentliche Zielgruppe solcher Immigrationsmuseen?

Der Vortrag verwies zunächst auf den Unterschied zwischen dem Status der Immigration nach Europa einerseits, das gerade in der frühen Vergangenheit immer wieder mit Konflikten zwischen Einheimischen und Einwanderern zu kämpfen hatte, und den USA (aber auch Kanada und Australien) andererseits, deren Selbstbild im Wesentlichen durch die Einwanderung definiert war. Gerade im Hinblick auf die USA sei genauer darauf zu achten, welche Rolle das Migrationsmuseum im Prozess des Nation- und Citizenship-Building eingenommen hatte. Doch der Inhalt des Migrationsmuseums selbst, das nicht selten Geschichte, Anthropologie und Kunst miteinander verbindet, hinterlasse Definitionslücken. Und auch hier tauche der Verweis auf die Inszenierung des Museums als die Inszenierung der Nation auf, und dies obwohl die nationale Meistererzählung sich eigentlich in einer Krise befinde. Abschließend ließ sich feststellen, dass die Aktualität des Migrationsmuseums offenbar mit den aktuellen politischen Konflikten verbunden ist, wodurch sich laut Vacca in den Migrationsmuseen ein deutlich pädagogischer Auftrag manifestiere, der entgegen aller Unkenrufe die Migration in das Nationalnarrativ einzubetten versucht.

Was der Blick auf und in das Museum über die Kulturkonzepte der Aussteller zu verraten vermag, stellte SARAH MAUPEU (Köln) in ihrem Vortrag über die Inszenierung des Museums als Ort von „primitiver Kunst“ am Beispiel des Musée du Quai Branly vor. Obschon es schwierig sei, die sogenannte „primitive Kunst“ präzise zu definieren, da sie mehrere Kulturen und Jahrhunderte umfasst, ergäben sich bezüglich des Ausstellungsprinzips zwei Möglichkeiten, die sich entweder an ethnografischen oder an ästhetischen Gesichtspunkten orientierten.

Anhand des Musée du Quai Branly zeigte Maupeu, wie durch die Inszenierung vor allem des Ausstellungsorts selbst das Bild einer vorzivilisierten Kultur entworfen und damit zugleich ein klarer Rahmen aufgespannt wird, in dem primitive Kunst stattfinden soll. Dabei verbinden sich das Konzept der Mystifizierung mit dem der Ästhetik; beide existierten nebeneinander und überlappten sich teilweise. Auch die Beleuchtung tauche als Narrationsprinzip auf. Hierbei stehen die dunkel gestalteten kultischen Räume den hellen, schon fast klinisch ausgeleuchteten Ausstellungsräumen von Museen zeitgenössischer Kunst gegenüber. Gerade durch diesen inszenatorischen Charakter, der ein vermeintlich authentisches Setting für primitive Kunst erzeugen soll, verrate die Ausstellungsweise viel eher etwas über die Welt der Aussteller als über die ausgestellte Welt.

Im letzten Vortrag sprach GUDRUN M. KÖNIG (Dortmund) abschließend in kulturanthropologischer Perspektive über den Schauwert der Dinge. In ihrem Vergleich zwischen der Ausstellungspraktik im Museum und im Warenhaus um 1900 kulminierten die schon in den vorangegangenen Vorträgen in den Raum getretenen Topografien der Bedeutung von Medialität und Materialität.

Museum und Warenhaus als Orte des Sammelns und Ausstellens stellten beide einen Demokratisierungsprozess dar: das Warenhaus im Hinblick auf Konsum und das Museum wiederum im Hinblick auf Wissen. In beiden basiere der Schauwert auf der ökonomischen oder ästhetischen Wertschätzung, und diese Schauorte machten als Zonen der Bedeutungsaufladung spezifische Stimmungen möglich. Doch ließen sich auch Überschneidungen beobachten. Auch im Museum begegnet man dem Konsum, allein durch die Integration von Museumshops oder Cafés im selben Gebäude, aber auch durch den Einsatz bestimmter Lichtspots oder durch die Museumsarchitektur selbst. Umgekehrt werden durch die Heraushebung und Vereinzelung von Verkaufsgegenständen Techniken des musealisierten Ausstellens auch in den Geschäften angewandt. So lasse sich postulieren, dass die Eventisierung und Sexappealisierung der Ware keine Demarkationslinie zwischen dem Warenhaus und dem Museum zulässt. Somit gebe es auch keine absolute Trennung zwischen Kommerz und Kultur. Als möglichen Startpunkt dieses Austauschverhältnisses zwischen Warenhaus und Museum, das eine Schulung des Betrachters und zugleich des Konsumenten im Betrachter auslöse, sieht König die Industrialisierung. Wie damals gebe es auch heute eine Analogie zwischen dem Museum und dem Verkaufsladen, die sich beide an Marketingkonzepten und -lücken orientierten und dadurch voneinander profitierten.

Im Schlusskommentar fasste ALEXANDER KRAUS (Münster) die Vorträge des Workshops in zwei grundlegenden Fluchtlinien zusammen: zum einen in eine auch in der Forschung deutlich zu erkennende Fixierung auf die museale Praxis, also auf die Inszenierung von Geschichte. Zum anderen aber bestehe offenbar noch Bedarf an Untersuchungen zu den Konzepten über den jeweiligen Objektcharakter der Ausstellungsstücke.

Die zahlreichen Verknüpfungspunkte, die zwischen den Vorträgen und in den anschließenden Diskussionen aufgezeigt wurden, schafften es, einen weiten Bogen zwischen dem historischen und aktuellen Spielraum des Museums zu spannen und unterschiedliche Figurationen des Musealen innerhalb der Gesellschaft aufzuzeigen. Gleichzeitig wurde aber auch deutlich, wie sehr das Museum im gesellschaftlichen Diskurs an Randschärfe verloren hat. Die Wege und Alternativen, die dem Museum bleiben, seien, so Kraus, unklar. Ist es überhaupt noch zeitgemäß, vom „Museum“ zu sprechen? In der Abschlussdiskussion formulierten sich zudem die Sachzwänge, die die Funktion der Museen heute verändern. Das Erleben scheint inzwischen dem Verstehen den Rang abgelaufen zu haben, wie auch die Finanzierungsnotlage von der Institution Museum ihren Tribut fordert und es zusehends in die (geldbringende) Unterhaltungsecke drängt. Ist die Rede von einer Krise des Museums aber nicht einfach Ausdruck eines tiefen Kulturpessimismus?

Es erscheint daher mehr als ratsam, das Museum stets im Plural zu denken, sowohl in seinen gesellschaftlichen Verankerungen als auch in seinen unterschiedlichen Arbeits- und Funktionsweisen, denn nur so lässt sich die Bedeutung der Museen in einem vielfältigen und dynamischen Verhältnis angemessen beschreiben.

Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung (Roland Cvetkovski)

Michael Fehr (Berlin)
Ansätze zu einer Theorie des Museums

Lisa Regazzoni (Frankfurt a.M.)
Arbeit an der französischen Meistererzählung. Die Aufstellung der Vergangenheit im »Musée des monuments français« (1795-1816) und ihr Einfluss auf die nouvelle école historique

Roland Cvetkovski (Köln)
Die Ordnung der Revolution. Museumswissenschaft in der frühen Sowjetunion

Sandra Vacca (Köln)
Einwanderung erinnern, erzählen und repräsentieren. Immigrationsmuseen und -austellungen in Deutschland,Frankreich und Großbritannien

Sarah Maupeu (Köln)
Konzeptionalisierungen von »primitiver Kunst«. Visuelle und schriftliche Diskurse im Vergleich

Gudrun M. König (Dortmund)
Der Schauwert der Dinge

Alexander Kraus (Münster)
Schlusskommentar

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Blanchot, Maurice: Museumskrankheit. Das Museum, die Kunst und die Zeit, Köln 2007, S. 35.
Ersterscheinung in: Critique, Nr 43, Paris 1950, S. 195-208.
2 Voss, Julia: 4 Minuten, 17 Sekunden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2011, S. 27.


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