Im Netz der sozialen Medien. Neue Publikations- und Kommunikationswege in den Geisteswissenschaften

Im Netz der sozialen Medien. Neue Publikations- und Kommunikationswege in den Geisteswissenschaften

Organisatoren
Gudrun Gersmann / Mareike König, Deutsches Historisches Institut, Paris; Pierre Mounier, Cléo, Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
27.06.2011 - 28.06.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Laura Ulrich, Paris/München; Sandra Schultz, Paris/Heidelberg

In den letzten Jahren ist die Anzahl neuer sozialer Netzwerke beachtlich gestiegen. Einige davon, wie zum Beispiel academia.edu oder research gate, sind speziell für die Bedürfnisse von Wissenschaftlern entworfen. Aber auch Twitter und Facebook finden immer mehr ihren Einsatz in der wissenschaftlichen Kommunikation und Information. Ob und wie sich dabei unsere Wissenschaftskultur verändert, das war neben dem Versuch einer Bestandsaufnahme das grundlegende Thema der Tagung „Im Netz der sozialen Medien: Neue Publikations- und Kommunikationswege in den Geisteswissenschaften“. Es ist die dritte Veranstaltung zum Thema „Digital Humanities“, die am Deutschen Historischen Institut in Paris stattfand.

Eher netzkritisch äußerte sich der niederländische Medientheoretiker GEERT LOVINK (Amsterdam) in seinem Eröffnungsvortrag. Er bemängelte das gegenwärtige Theoriedefizit und forderte eine größere Reflexion über unser Tun im Netz und dessen Auswirkungen auf unser Leben. Wohin führen uns die Beschleunigung in der Kommunikation und die ständige Erreichbarkeit und Online-Existenz? Als Kritiker von Facebook hatte er 2010 am „Quit-Facebook-Day“ teilgenommen und sein Konto auf der Plattform gelöscht. Lovink verwies auf bestehende dezentrale Alternativen, in denen die Nutzer ihre Daten nicht abgeben, sondern selbst verwalten können.

Eröffnet wurde der zweite Tag von MAREIKE KÖNIG (Paris) und PIERRE MOUNIER (Paris), die in ihrem Vortrag die Leitfragen des Kolloquiums vorstellten und dabei insbesondere auf gegenwärtige Tendenzen der Anerkennung, Nutzung und Bewertung von sozialen Medien seitens der Geisteswissenschaftler aufmerksam machten. In der ersten Sektion der Veranstaltung formulierte RENÉ KÖNIG (Karlsruhe), der den verhinderten Michael Nentwich (Wien) mit vertrat, Antworten auf die Frage, inwiefern diese neuen Medien funktional für die Geisteswissenschaften sein können. Den Problemen wie Zeitverlust, Unübersichtlichkeit und Kontrollverlust, welche die Anwendung sozialer Netzwerke mit sich bringen kann, stellte er das hohe funktionale Potenzial dieser Plattformen gegenüber. In der anschließenden Diskussion wurde der Vorwurf der Unübersichtlichkeit durch die Feststellung entkräftet, dass nicht nur die sozialen, sondern auch analoge Medien äußerst vielfältig, ja unübersichtlich sein können.

PATRICK PECCATTE (Paris) stellte seinerseits ein Projekt auf der Plattform Flickr vor. Bei diesem Projekt werden Fotographien aus der Zeit der Landung der Alliierten in der Normandie von unterschiedlichen Nutzern – Historikern sowie fachfremden Personen –, gesammelt, neu kommentiert, ergänzt und katalogisiert. Auf diese Weise findet eine Ausweitung der Dokumentarisierung oder auch eine redocumentarisation statt. Dabei wurde deutlich, wie sich die Arbeitsweise in der Geschichtswissenschaft zukünftig verändern könnte, wenn Forscher im Sinne einer kollaborativen Arbeitsweise ihre Quellen zugänglich machen.

Über das Potenzial des Bibliotheksbenutzers als Bibliothekar sprach anschließend PATRICK DANOWSKI (Klosterneuburg). Er führte am Beispiel der Plattform LibraryThing aus, dass Privatleute durchaus mit großer Motivation ihre eigene Bibliothek katalogisieren, jedoch eher selten Bibliotheksbestände kommentieren und indexieren, wie es das social tagging vorsieht. Sollen „crowdsourcing-Projekte“ zum Erfolg geführt werden, so sein Fazit, müssten auch die Interessen der User sowie deren Arbeitsabläufe berücksichtigt werden.

In der zweiten Sektion der Tagung wurden „best-practice-Beispiele“ aus dem Bereich der Wissenskommunikation vorgestellt. Zunächst präsentierte LILIAN LANDES (München) die von der DFG finanzierte internationale Rezensionsplattform Recensio.net. Dort werden einerseits klassische Rezensionen in Kooperation mit Fachzeitschriften veröffentlicht; andererseits können Autoren auch kurze Präsentationen eigener Werke oder Aufsätze erstellen, die anschließend von den Nutzern der Plattform kommentiert werden können. GLORIA ORRIGI (Paris) stellte in ihrem Vortrag die Plattform Liquid Publications und die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Publizierens im Netz vor. Ihre Projekte haben das Ziel, die Kommunikation im Bereich der Geisteswissenschaften zu erleichtern und auch bausteinartiges Veröffentlichen zu ermöglichen. Für die Publikation von Textfragmenten und Vorabversionen von Texten sprach sich auch KLAUS GRAF (Aachen) aus, der mit Archivalia einen der ältesten und bekanntesten deutschen Wissenschaftsblogs betreibt. Es zeigte sich in der Diskussion, dass in Frankreich – anders als in Deutschland – mit dem Blogportal hypotheses.org eine Strukturhilfe für relevante Wissenschaftsblogs besteht, von denen einige seit kurzem auch eigene ISSN zugewiesen bekommen.

Die erste Nachmittagssektion beschäftigte sich mit sozialen Medien an der Universität. Der Geschichtsdidaktiker MARKO DEMANTOWSKY (Bochum) erläuterte Vor- und Nachteile des E-Learnings in der Geschichtswissenschaft und vertrat dabei die These, dass es kein E-Learning an sich, sondern nur ein „Human-Learning“ gebe. Mit 10.000 Nutzern ist das soziale Netzwerk der Universität Paris Descartes, vorgestellt von SOPHIE MAHÉO (Paris), ein echtes Erfolgsprojekt. Die Plattform umfasst alle Mitglieder dieser Universität und bietet ihnen die Möglichkeit, soziale Kontakte zu pflegen, eigene Blogs zu betreiben und die Plattform für den wissenschaftlichen Unterricht zu nutzen. Das Projekt liegt ganz im gegenwärtigen Trend weg von den großen hin zu lokalen, kleineren Netzen.

ANTOINE BLANCHARD (Paris) regte in seinem Vortrag zum „Wildern in den Geisteswissenschaften“ an. „Bottom-up-Projekte“ junger Wissenschaftler könnten akademische Hürden ins Wanken bringen und bieten Potenzial, die Geisteswissenschaften weiterzubringen. Die Diskussion beschäftigte sich mit der Frage, wie lange man als „Wilderer“ überleben kann und ob nicht letztlich immer die Institution für die Anerkennung eines Projekts benötigt wird.

Die vierte und letzte Sektion der Tagung behandelte die Frage nach den Auswirkungen der sozialen Medien auf die Wissenschaftskultur. ANDRÉ GUNTHERT (Paris) stellte dabei die offene und partizipative Arbeitskultur als zukunftsweisend in den Vordergrund seiner Äußerungen und zeigte dies anhand der Plattform Culture visuelle, erstellt von Studierenden eines Seminars. Mit „Kultur des Indexes“ und „Kultur der Reputation“ umriss MILAD DOUEIHI (Québec) anschließend unsere gegenwärtige digitale gesellschaftliche Kultur. Er plädierte dafür, mit dem Mythos der „digital natives“ aufzuräumen. Viel Zeit vor dem Computer zu verbringen bedeute noch nicht automatisch, dadurch eine besondere Kompetenz zu erwerben.

Den letzten Beitrag stellte PETER HABER (Basel) mit einem Überblick über die bisherige und die zu erwartende Entwicklung in den neuen Medien und ihre Nutzbarmachung für die Geschichtsschreibung im 21. Jahrhundert. Aus seiner Sicht gehören die sozialen Medien schon fast wieder der Vergangenheit an. Als Trends für die Geschichtswissenschaft sieht er in den nächsten Jahren vor allem „Data Driven History“, Visualisierung und kollaboratives Arbeiten.

Mit diesem Ausblick leitete er in die Abschlussdiskussion über, in der viele der angesprochenen Themenfelder erneut aufgegriffen wurden. Als Zusammenfassung hob zum Abschluss Mareike König fünf Themenbereiche hervor: Neben (1) der großen Vielfältigkeit und Dynamik des Phänomens soziale Medien stand dabei (2) die Diskussion um Anwendungen und Werkzeuge im Fokus (Stichwort „Plattform in Zwängen“). Des Weiteren stellte sich die Frage (3) sowohl nach dem Verhältnis Individuum – Institution als auch (4) nach der Veränderung der Wissenschaftskultur (Tendenz zur „Häppchenwissenschaft“, kollaboratives Arbeiten, Anerkennung von zum Beispiel Wissenschaftsblogs bei Berufungsverfahren). Als letzter Punkt wurde hierbei (5) die Ernüchterung nach dem Hype und die damit verbundene Kritik an den sozialen Medien erwähnt, die durch fundierte Forschungen weiter entemotionalisiert werden sollte. Wenn auch viele Fragen offen blieben, so waren sich doch die meisten Teilnehmer über die zunehmende Bedeutung der sozialen Medien einig; einige präsentierten ihre Gedanken zur Tagung sogleich auf Twitter. Die Vorträge sollen als podcasts und Filme auf dem Blog des DHI Paris http://dhiha.hypotheses.org veröffentlicht werden.

Konferenzübersicht:

Gudrun Gersmann, Paris: Begrüßung

Geert Lovink, Amsterdam: Kulturpolitik der sozialen Medien – von der Kritik zu Alternativen

Mareike König, Paris und Pierre Mounier, Paris: Eröffnung und Einleitung

I. Neue Publikations- und Kommunikationsmittel: Facebook, Twitter, flickr etc. in den Geisteswissenschaften

René König, Karlsruhe: Social Network Sites – Ein Trend für die Wissenschaft?

Patrick Peccatte, Paris: Flickr als Bildarchive nutzen: das Projekt Photos Normandie

Patrick Danowski, Klosterneuburg: Was Bibliotheken von LibraryThing lernen können

II. Wissenschaftspublikation und das Web 2.0: Wissen teilen, Texte kommentieren

Lilian Landes, München: Rezensieren im Web 2.0: Die Zukunft der wissenschaftlichen Buchbesprechung?

Gloria Orrigi, Paris: Liquid Publications: wissenschaftliches Publizieren im Web

Klaus Graf, Aachen: Das wissenschaftliche Potential von Wissenschaftsblogs

III. Soziale Medien an der Universität: Ausbildung, Lehre und studentische Netze

Marko Demantowsky, Bochum: Digitale Geschichtswissenschaft – E-Learning – Digitale Geschichtsdidaktik? Vom Nutzen und Nachteil des Internets für das geschichtsbezogene Lernen

Sophie Mahéo, Paris: Das universitäre soziale Netz Carnets2Descartes: Veröffentlichung, Gruppendynamik und studentisches Engagement

Antoine Blanchard, Paris: Wildern in den Geisteswissenschaften: wenn die Digital Natives institutionelle Grenzen im Netz ins Wanken bringen

IV. Welche Auswirkungen haben die sozialen Medien auf unsere aktuelle Wissenschaftskultur?

André Gunthert, Paris: Soziale Medien in der Forschungspraxis: Erfahrungen, Befunde und Herausforderungen

Milad Doueihi, Québec: Geisteswissenschaften oder digitaler Humanismus?

Peter Haber, Basel: Zwischen Methodologie und Praxis: Geschichte schreiben im 21. Jahrhundert

V. Abschlussdiskussion


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Französisch, Deutsch
Sprache des Berichts