„Die Bereinigung des Personalkörpers“ - Biografische, personalpolitische und strukturelle Auswirkungen der Vertreibung jüdischer und politisch missliebiger Ärztinnen und Ärzte aus dem öffentlichen Gesundheitswesen im Nationalsozialismus

„Die Bereinigung des Personalkörpers“ - Biografische, personalpolitische und strukturelle Auswirkungen der Vertreibung jüdischer und politisch missliebiger Ärztinnen und Ärzte aus dem öffentlichen Gesundheitswesen im Nationalsozialismus

Organisatoren
Historische Kommission zu Berlin e.V.; Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin; Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Universität Potsdam
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.06.2011 -
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Von
Wolfgang Rose, Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin

Dass die Machtübernahme der NSDAP mit umfangreichen rassistisch und politisch motivierten „Säuberungen“ des Personalbestandes staatlicher, kommunaler und öffentlich-rechtlicher Institutionen verbunden war, gehört zum Grundwissen über das NS-System. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 diente einerseits der Sicherung der politischen Herrschaft der Nationalsozialisten und markierte andererseits den Beginn der juristisch fixierten rassistischen Verfolgung von Juden und „Nicht-Ariern“ in Deutschland. Angesichts der Bedeutung des biologistischen Rasseparadigmas als Kern der NS-Ideologie verwundert es kaum, dass der Zugriff auf das Gesundheitswesen als Mittel zur Formung des „Volkskörpers“ für die neuen Machthaber hohe Priorität hatte. Die Vertreibung missliebiger Personen aus diesem Sektor entsprach demnach in besonderem Maße der nationalsozialistischen Herrschaftslogik.

Um „durch den vergleichenden Blick auf verschiedene Regionen und unterschiedliche biographische Verläufe weitergehende Erkenntnisse und neue Impulse für künftige Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet“ zu erhalten, luden die veranstaltenden Institutionen zu einem eintägigen Workshop am 24. Juni 2011 in das Landesarchiv nach Berlin ein. Hintergrund und Anlass der Tagung ist das bei der Historischen Kommission zu Berlin e.V. angesiedelte Gedenkbuchprojekt „Verfolgte Ärztinnen und Ärzte des Berliner öffentlichen Gesundheitsdienstes (1933 bis 1945)“ (Arbeitstitel).

Nach der Begrüßung durch HEIKE SCHROLL (Landesarchiv Berlin) und Grußansprachen von Staatsekretär BENJAMIN HOFF (Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz, Berlin) und PETER BRÄUNIG (Vivantes Kliniken) führte THOMAS BEDDIES (Berlin) in die Veranstaltung ein. Als einer der Initiatoren des erwähnten Forschungs- und Publikationsprojektes, widmete er sich der Biographie des Stadtarztes und Leiters des Gesundheitsamtes von Berlin-Reinickendorf Max Hodann (1894-1946), der als Sexualpädagoge und Eugeniker schon zu Lebzeiten überregional bekannt war und als parteiunabhängiger Sozialist aus dem Amt getrieben wurde. Obwohl es sich bei ihm um einen der bekannteren Fälle der „Bereinigung des Personalkörpers“ durch die Nationalsozialisten handelte, ist über das konkrete Wirken Hodanns als Stadtarzt und Amtschef nur wenig bekannt.

Im Rahmen des Berliner Gedenkbuchprojektes soll das ganze Spektrum von Verfolgungs- und Reaktionsformen (Verhaftung, Exil, eigene Kündigung, Anpassung, Selbstmord) dokumentiert werden. Ebenso stehen die Auswirkungen der Vertreibungsmaßnahmen im Fokus des Interesses: die medizinische Unterversorgung in Berlin, vor allem in qualitativer Hinsicht und die Umformung des Berliner Gesundheitswesens, insbesondere in Hinblick auf die in der Weimarer Republik entstandenen gruppenspezifischen Versorgungseinrichtungen (Mütterberatung, Suchtvorsorge usw.). Zugleich soll der Blick auf demokratische und soziale Traditionen des Berliner Gesundheitswesens gelenkt werden. Im Unterschied zu anderen wissenschaftlichen Projekten über niedergelassene ÄrztInnen sowie Medizinische Gesellschaften steht im Mittelpunkt des Berliner Forschungsvorhabens das öffentliche – besser: das kommunale – Gesundheitswesen. Dieses lässt sich einerseits durch einen geringeren Handlungsspielraum hinsichtlich des Umgangs mit dem neuen Regime charakterisieren und andererseits durch eine eindeutige hierarchische Struktur.

SUSANNE DOETZ und CHRISTOPH KOPKE (Berlin) stellten in einem Werkstattbericht das seit November 2010 laufende Forschungs- und Gedenkbuchprojekt „Verfolgte Ärztinnen und Ärzte des Berliner öffentlichen Gesundheitsdienstes (1933 bis 1945)“ (Arbeitstitel) vor. Angestrebt wird die Erfassung und biografische Dokumentation – in einem Gedenkbuch – aller MedizinerInnen die 1933 als Juden und/oder aus politischen Gründen aus einem der von der Stadt Berlin unterhaltenen Krankenhäuser oder einer der Wohlfahrtseinrichtungen entlassen worden sind. Damit knüpft das Gedenkbuch an das Projekt von Rebecca Schwoch und Judith Hahn an, die die Lebenswege der Berliner jüdischen Kassenärztinnen und Kassenärzte in einem Gedenkbuch festhielten.1

Die angestrebte gleichwertige Berücksichtigung jüdischer und politisch missliebiger Ärztinnen und Ärzte in der Publikation begründen Doetz und Kopke mit der engen Verknüpfung von Antisemitismus und Antikommunismus in der NS-Ideologie. Außerdem zielten gerade die Paragraphen des neuen Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums auf beide Gruppen ab, wobei zahlreiche Überschneidungen zwischen den beiden Gruppen existierten.

UDO SCHAGEN (Berlin), der mit seinem Beitrag zu den Entlassungen an der Berliner Charité ab Frühjahr 1933 den engeren regionalen Bezug herstellte und den Blick auf die institutionelle und universitäre Praxis richtete, betonte zunächst, dass sein Fokus – anders als der des Forschungsprojektes – auf dem Verhalten der Institution, in diesem Fall der Berliner medizinischen Fakultät, gegenüber den politischen Anmutungen lag. Er verband seine Ausführungen mit einer Kritik des mangelnden Engagements der Charité für die Erforschung und Erinnerung an die Schicksale Verfolgter, Vertriebener und Ermordeter. So gäbe es bisher, trotz vorhandener Akten, noch keine Übersicht über aus rassistischen und politischen Motiven erfolgte Kündigungen nach 1933. Verlässlichere Angaben ließen sich über Entziehungen der Lehrbefugnis machen. Demnach waren mindestens 161 Lehrende an der gesamten medizinischen Fakultät betroffen; fast alle waren Juden und „Nichtarier“, weniger hoch als im kommunalen Gesundheitswesen Berlins lag der Anteil politisch Verfolgter. Die Entlassungen an der medizinischen Fakultät begannen bereits vor dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das Hauptinteresse der Verantwortlichen galt dem schnellen und reibungslosen Ablauf und der Bekundung von Loyalität gegenüber dem NS-Regime. Letztlich wurde fast 50 Prozent der Hochschullehrerschaft der medizinischen Fakultät entfernt. Nur von einzelnen Überlebenden existieren autobiographische Aufzeichnungen, über die meisten Lebenswege ist bis heute nichts bekannt.

DANIELA ANGETTER und CHRISTINE KANZLER (Wien) berichteten über das Vorhaben, in die Datenbank des Österreichischen Biographischen Lexikons (ÖBL) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Lebensdaten und – wo möglich - Kurzbiographien der mehr als 3.000 jüdischen Ärzte und Ärztinnen einzupflegen, die noch 1938 in Wien praktizierten. Das Projekt beschäftigt sich auch mit den Folgen ihrer Vertreibung für die Gesundheitsversorgung in der Stadt sowie mit der Rolle des der israelitischen Kultusgemeinde unterstellten Gesundheitswesens, insbesondere seiner erzwungenen Hilfestellung bei der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Anhand biographischer Einzelbeispiele sollen Handlungsoptionen jüdischer Gesundheitsfunktionäre und derjenigen Ärzte und Ärztinnen, die noch als „Krankenbehandler“ praktizieren durften, beleuchtet werden. Mit der Datenbank wird ohne Zweifel ein nützliches und leicht zugängliches Instrument für weitergehende Forschungen geschaffen. Kritisch anzumerken bleibt, dass im Vortrag der beiden Wissenschaftlerinnen der Zusammenhang zu den Säuberungen im „Altreich“ zu kurz kam.

RONALD LAMBRECHT (Dresden) zeigte am Beispiel der acht nach 1933 von der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig vertriebenen jüdischen Hochschullehrer das ganze Spektrum möglicher biographischer Entwicklungen zwischen Selbstmord, Vernichtung im Lager und wissenschaftlicher Karriere im Exil, nachdem die berufliche Existenz in Deutschland zerstört worden war. Zugleich verdeutlicht sich am Vorgehen der Nationalsozialisten in Leipzig der polykratische Charakter des Regimes, indem verschiedene politische Gruppen aufgrund eigener Machtinteressen teils radikalisierend (NS-Studentenbund, Gauleiter Mutschmann), teils mäßigend (sächsisches Wissenschaftsministerium) auf den Vertreibungsprozess Einfluss nahmen.

URSULA FERDINAND (Münster) schilderte den Konflikt, in dem sich die NS-Politik zur Gestaltung der internationalen Wissenschaftsbeziehungen befand, wenn das Renommee eines Fachgebietes wesentlich von Wissenschaftlern jüdischer Herkunft getragen wurde, wie im Fall des Ophthalmologen Aurel von Szily. Sie konnte zeigen, dass Szilys Karriere 1933 nicht abrupt endete, nicht zuletzt weil die internationale Forschergemeinde auf seiner Teilnahme in maßgebender Position an den entsprechenden Fachkongressen bestand. Letztlich war auch Szilys beamtenrechtlich abgesicherter Rückzug erzwungen und zeigt, dass der Prozess der rassistischen und politischen Säuberungen nicht als eindimensionaler, nach einem Schema verlaufender Vorgang zu verstehen ist.

IRIS RITZMANN (Zürich) stellte ihren Vortrag unter die Frage nach der Konstruktion des Bildes vom „Vertriebenen“. Die Biographie des deutsch-nationalen jüdischen Arztes Emanuel Firnbacher, der 1935 nach Palästina emigrieren musste und 1956 in die Bundesrepublik zurückkehrte, führte die Referentin als Beleg für eine weit verbreitete konservative Grundhaltung jüdischer Vertriebener an. Diese stünde im Gegensatz zu einer von ihr konstatierten verbreiteten Stilisierung der rassisch Verfolgten als WiderstandskämpferInnen, wie sie beispielsweise im Biographischen Handbuch der deutschen Emigration stattfinde. Ihrer These von der „linkspolitischen Instrumentalisierung“ des Schicksals der Vertriebenen wurde in der Diskussion mit Hinweis auf die Entstehungsbedingungen der frühen Forschungsliteratur zur Vertreibung vehement widersprochen. Zugleich werteten die Anwesenden die vorgestellte Biographie als gelungenes Beispiel für die Darstellung der inneren Zerrissenheit der Emigrantinnen und Emigranten und plädierten für die Wahrnehmung der Brüche und Widersprüchlichkeiten ihrer Lebenswege durch die Biographieforschung.

ALEXANDER FRIEDMANN (Heidelberg) beleuchtete das Theaterstück „Professor Mamlock“ des jüdisch-kommunistischen Dichters Friedrich Wolf (1888-1953) als eine der ersten zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit dem Thema der Vertreibung aus rassistischen Gründen und seine Adaption an die Bedürfnisse der sowjetischen Propaganda durch die 1938 erfolgte Verfilmung des Stoffes. Am Beispiel der Pressereaktionen in der weißrussischen Sowjetrepublik erläuterte er die propagandistische Instrumentalisierung des Stückes und insbesondere des Films in der Sowjetunion in Abhängigkeit von den außenpolitischen Beziehungen zu Deutschland.

Abschließend bleibt festzustellen, dass es trotz zahlreicher Publikationen zum Thema nach wie vor einige Lücken im Kenntnisstand über die rassistisch und politisch motivierten Vertreibungen im Gesundheitswesen des nationalsozialistischen Deutschlands gibt und weiterführende Forschungen dringend nötig sind. Darauf verweist unter anderem der Umstand, dass im biographischen Teil der Tagung fast ausschließlich Einzelschicksale der Vertreibung an medizinischen Fakultäten referiert wurden. Ebenso fiel auf, dass es sich ausschließlich um Biographien von Männern handelte. In Bezug auf die Vertreibung von Frauen – so wurde es auch in der Diskussion thematisiert – besteht noch großer Forschungsbedarf, zumal gerade im kommunalen Gesundheitswesen eine Vielzahl von Frauen tätig war.

Die Chance des biographischen Ansatzes – so demonstrierten es eindrucksvoll die entsprechenden Vorträge – besteht dabei darin, die vielfältigen Identitäten der einzelnen Vertriebenen sichtbar zu machen und der rassistisch-politischen Kategorisierung durch die Nationalsozialisten entgegenzustellen.

Das kommunale Gesundheitswesen als Ort von Vertreibung und Ausgrenzung im Nationalsozialismus bleibt vorerst ein Desiderat; insofern ist die Anregung für ein Treffen von Interessierten, bei dem ausschließlich dieser Bereich behandelt werden sollte, zu begrüßen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Uwe Schaper (Direktor des Landesarchivs Berlin und Vorsitzender der Historischen Kommission zu Berlin e.V.)
Benjamin Hoff (Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz in Berlin)
Peter Bräunig (Vivantes Humboldt-Klinikum, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Berlin)

Thomas Beddies (Berlin): Einführung

Susanne Doetz (Berlin) / Christoph Kopke (Berlin): Die Verfolgung von jüdischen und politisch missliebigen Ärztinnen und Ärzten des Berliner öffentlichen
Gesundheitswesens 1933-1945.

Udo Schagen (Berlin): Die Entlassungen an der Berliner Charité ab Frühjahr 1933.

Ronald Lambrecht (Dresden): Die Entlassung und Verfolgung medizinischer Hochschullehrer an der Universität Leipzig 1933-1937. Strukturelle Rahmenbedingungen, Verlauf, biographische Implikationen.

Ursula Ferdinand (Münster): Zum Schicksal des Ophthalmologen Aurel von Szily (1880-1945) – Gründungsdirektor der Klinik für Augenheilkunde der Universität Münster.

Daniela Angetter (Wien) / Christine Kanzler (Wien): Das Schicksal der in Wien verbliebenen jüdischen Ärzte von 1938 bis1945 und die Versorgung ihrer jüdischen Patienten - Bericht über ein Forschungsprojekt.

Iris Ritzmann (Zürich): Gutachter mit Unterbrechung – eine deutsch-jüdische Arztbiografie.

Alexander Friedmann (Heidelberg): Ein jüdischer Medizinprofessor im „Dritten Reich“: Der sowjetische Spielfilm Professor Mamlock und seine Rezeption in der UdSSR und im Ausland (1938 bis 1991).

Anmerkung:
1 Rebecca Schwoch / Judith Hahn, Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus, Berlin 2009.


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