Trauma, Erinnerung und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen politischer Gewalt

Trauma, Erinnerung und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Folgen politischer Gewalt

Organisatoren
Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg, Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Kulturhistorisches Museum Magdeburg
Ort
Magdeburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.02.2011 - 19.02.2011
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Von
Anja Werner, Bereich "Opfer und Gedenken", Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

„Wer die Erde zum Himmel machen will“, so zitierte WOLFGANG BÖHMER, der damalige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts, Friedrich Hölderlin, „der macht sie zur Hölle.“1 Laut Böhmer sind die Instrumente des Rechtsstaates allerdings nicht geeignet, um geschehenes Unrecht wieder gutzumachen, da der Rechtsstaat an kodifiziertes Recht gebunden ist und nicht an persönlich erlittenes Unrecht. Auch in Zukunft wird es Ungleichheit geben; der freiheitliche Staat muss mit Unterschieden leben können. Mit diesen Worten leitete Böhmer die Tagung aus Anlass des 20. Jahrestages der Gedenkstätte Moritzplatz ein, an der auch zahlreiche ehemalige politisch Verfolgte aktiv teilnahmen. Für deren besondere Belange setzte sich die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ANNA KAMINSKY (Berlin) in ihrem Grußwort ein. Ehemalige politische Verfolgte müssen bis heute ihre politische Verfolgung nachweisen. Dabei, so Kaminsky, ist auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in kurzer Zeit eine Fülle ehemaliger Haftorten in Gedenkstätten umgewandelt worden. Es waren politisch Verfolgte, die an Orte wie den Moritzplatz zurückkehrten und somit die Aufarbeitung der SED-Diktatur ins Rollen brachten. Die ehemaligen Leiter der Gedenkstätte Moritzplatz und ihre Stellvertreter – Annegret Stephan, Ulrike Groß und Sascha Möbius, die deren Auf- und Ausbau maßgeblich vorangetrieben haben, waren ebenfalls anwesend.

Eine allgemeine Einführung in das Thema der Erinnerungskultur bot ALEIDA ASSMANN (Universität Konstanz). Ihr Forschungsinteresse gilt weniger den Orten der Erinnerung an die Folgen der SED-Diktatur, sondern der Erinnerungskultur schlechthin – also nicht so sehr dem, „was ist passiert“ sondern dem, „wie […] wir damit […] in Form von Wertungen und Interpretationen“ umgehen. Assmann betrachtete Deutschland insofern als einen Sonderfall, da das Land mit der Etablierung der SED-Diktatur zum zweiten Mal „schuldig“ wurde. Im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern identifiziere man sich in Deutschland mit der Täterrolle im Sinne der Übernahme einer historischen Verantwortung für beide Diktaturen. Wenn hier über die DDR gesprochen werde, so Assmann, ist auch immer von der Zeit des Nationalsozialismus die Rede, obwohl die Unterschiede beider Diktaturen schon auf struktureller Ebene offensichtlich sind: Der Nationalsozialismus war eine selbst gewählte Diktatur, von der sich die Deutschen nicht selbst befreiten. Die SED-Diktatur war zwar nicht selbst gewählt, dafür aber befreiten sich die Menschen in der DDR von ihr aus eigener Kraft. Zum Umgang mit den beiden Diktaturen verwies Assmann auch auf die bekannte „Faulenbach-Formel“2, wobei sie klar stellte, dass es ihr nicht um eine Gleichsetzung sondern um die Vergleichbarkeit der beiden diktatorischen Systeme gehe. Aus ihrer Sicht ist die Erinnerung eine Baustelle – nicht fixiert, sondern immer in Bewegung.

Erinnerung und Zeitzeugenschaft standen im Mittelpunkt des Vortrags von ALEXANDER VON PLATO (Fern-Universität Hagen). Schon im Zuge der Aufarbeitung der NS-Zeit haben Zeitzeugen eine bedeutende Rolle gespielt, erklärte Plato. Für Themen wie die Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion stellten sie neben deutschen Akten oft die einzige Informationsquelle dar, da man beinah 50 Jahre lang in der Sowjetunion keine Archive dazu hatte einsehen können. Natürlich besteht auch ein gewisses Spannungsfeld zwischen Historikern, Zeitzeugen und wechselnden politischen Akteuren. Bis heute ist laut Plato der Themenkomplex „Haft in sowjetischen Speziallagern“ in der „alten“ Bundesrepublik Deutschland allerdings nur ungenügend aufgearbeitet worden, was die Traumata der Betroffenen weiter verstärkte.

Plato stellte fest, dass es den Betroffenen häufig schwer falle, über das Erlebte zu sprechen. Zu den Gründen dafür zählte er nicht nur Verdrängung und Schmerz, sondern auch die Angst vor der eigenen Erinnerung sowie die Angst davor, dass die Zuhörer nicht begreifen, warum das Erzählen so schwer fällt. Menschen entwickeln verschiedene Strategien, um mit dem Erlebten fertig zu werden. So gibt es Geschichten der Selbstbehauptung über die erlebte Solidarität und die Wolfsgesellschaft im Lager. Feste politische oder religiöse Überzeugungen sowie ein abgesichertes familiäres Umfeld (obwohl oft nicht über das Erlebte in Familie gesprochen wurde) halfen laut Plato ebenfalls, die politische Haft zu überstehen. Die verfügbaren Materialmengen sind noch nicht restlos ausgewertet und bieten Möglichkeiten des Vergleichs zwischen Ost und West mit Blick auf die DDR.

Zum Ausklang des ersten Veranstaltungstages gab es ein Konzert des Leipziger Barock-Consorts. SASCHA MÖBIUS, seit Januar 2011 Leiter der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn, betonte in seiner Einstimmung auf das für den Anlass ungewöhnliche musikalische Programm, dass Menschen im 17. und 18. Jahrhundert tagtäglich mit Gewalt, Krankheit und Tod leben mussten und die Schönheit der Barockmusik ihnen eine Ausflucht bot.

ANNEGRET STEPHAN resümierte am Folgetag zur Einstimmung, was in den zurückliegenden 20 Jahren an Aufarbeitung erreicht wurde. Die juristische, berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer stehe der strafrechtlichen Verfolgung der Täter gegenüber. Gerade bei der Anerkennung gesundheitlicher Schäden und den Spätfolgen politisch motivierter Haft gibt es laut Stephan jedoch noch großer Nachholbedarf. Hinzu komme, dass ehemalige politisch Verfolgte häufig zusätzliche Verwundungen empfinden durch eine falsche Behandlung bei der Antragstellung auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden. Es ist an der Zeit, dieses Thema stärker in das allgemeine Bewusstsein zu rücken.

JÖRG FROMMER (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) sprach über Langzeitfolgen politischer Traumatisierung. Wenig habe sich bezüglich deren Erkennung in den letzten 15 Jahren getan. Das Kernproblem, so Frommer, liege bei den Gutachtern. Dass Vertreter von Versorgungsämtern, Gerichten und der Politik nicht an dieser Veranstaltung teilnahmen, war ebenfalls problematisch. Der Psychiater Frommer beschäftigt sich seit seiner Berufung nach Magdeburg 1996 mit dem Thema und sieht Parallelen zur Aufarbeitung der NS-Zeit: Nach 1945 waren im Westen junge Psychiater oftmals wegen ihrer eigenen Verstrickungen in das staatliche Unrecht überfordert. Ähnliches könnte man bis heute von vielen Gutachtern sagen, die die gesundheitlichen Folgeschäden von ehemaligen Verfolgten der SED-Diktatur bewerten. Frommer stellte heraus, dass einige der heutigen Lehrmeinungen innerhalb der Psychiatrie bis in die 1920er-Jahre zurückreichten, während sich die von den Nationalsozialisten als „jüdisch“ geächtete Psychoanalyse vornehmlich in der anglo-amerikanischen Welt weiterentwickelte. Das Problem vieler Gutachter bestehe in einer Überdistanzierung, die sich in einer das Leid versachlichende Sprache ausdrückt, und die eine Abwehr bzw. Verleugnung darstellt. In der Regel klammern Gutachter ihre eigene Biographie und Sozialisierung aus der Begutachtung aus, beobachtete Frommer – das, was man sich selbst nicht eingestehen könne, entdecke man auch nicht bei anderen. In der DDR beeinflussten Bespitzelungen, Jugendwerkhöfe und Gefängnisse bei vielen Betroffenen die Persönlichkeitsentwicklung. Gleichzeitig herrschte in den alten Bundesländern die Meinung vor, dass es „so etwas“ gar nicht geben kann.

STEFAN TROBISCH-LÜTGE von der Berliner Beratungsstelle „Gegenwind“ für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur widmete sich speziell den Auswirkungen der Traumatisierung auf die zweite Generation. Ausgangspunkt seiner Analyse der Befragungen von Kindern ehemaliger politisch Verfolgter war die Beobachtung, dass Familien eigene Erinnerungen konstruierten, die von der kollektiven Erinnerung abweichen. Auf diese Weise können traumatisierte, psychisch kranke Eltern zur Gefahr für ihre eigenen Kinder werden. Innerhalb der zweiten Generation gibt es Kindheitserfahrungen, die von Heimaufenthalten und Zwangsadoptionen bis zu Verhaftungen (Sippenhaft) reichen. Trobisch-Lütge hat zehn dieser Nachkommen befragt. Alle hatten sich in der Situation befunden, herausfinden zu müssen, wie Vergangenes in der Gegenwart zu bewerten ist. Dazu war es erforderlich, sich mit der Belastung der Eltern – aber auch der eigenen Belastung – auseinandersetzen. Sie entwickelten eigene Bewältigungsstrategien.

Trobisch-Lütge unterscheidet mehrere Gruppen. Kinder, die lange nach der Haftzeit ihrer Eltern oder eines Elternteils geboren wurden, wollten sich oftmals vor neuen Erkenntnissen über das Leben ihrer Eltern schützen, um das eigene Bild von ihnen nicht zu gefährden. Daneben gibt es Kinder, die die Hafterfahrung ihrer Eltern direkt oder indirekt teilen mussten. In vielen Fällen gilt es, die Nachwirkungen der Einflussnahme durch das Ministerium für Staatssicherheit zu beachten, das sich bemühte, den Wahrheitsgehalt der elterlichen Schilderungen zu untergraben. Für die Kinder stelle sich laut Trobisch-Lütge die Frage: „Wer hat Recht – die Eltern oder die Stasi?“ Aus der Perspektive der Nachkommen entsteht somit ein „imaginärer Gerichtsaal“, in dem sie verschieden Rollen einnehmen können: die des Gutachters, des Anklägers oder des Verteidigers. Er schloss seine Ausführungen mit dem Appell, die psychosoziale Angebotsstruktur zu verbessern und Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltungen auch auf die Situation der Nachkommen hin zu sensibilisieren. Ebenso regte er an, durch verbesserte Öffentlichkeitsarbeit einer Privatisierung der Aufarbeitung entgegenzuwirken. Die Nachkommen bräuchten zudem eine verlässliche Grundlage (z.B. Schulbücher) zur Einordnung historischer Fakten.

Trobisch-Lütge war nicht der Einzige, der den Opferbegriff kritisierte und für die Bezeichnung „politisch Verfolgte“ plädierte. Auch ULRIKE POPPE, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, unterstrich, dass der Begriff „Opfer“ Passivität und Hilflosigkeit vermittele. „Opfer“ haben sich jedoch trotz Repressionen behauptet, ihre persönliche Freiheit bewahrt und sich nicht vereinnahmen lassen. Natürlich ist nicht jedes Opfer ein Widerständler und nicht jeder Widerständler ein Opfer. Eine Grobeinteilung in „Täter“-„Opfer“-„breite Masse“ ist zu einfach. Poppe plädiert für ein alternatives „Opfer“-Bild mit Vorbildwirkung im Sinne gelebter Zivilcourage, so das Bild des Verweigerers.

Poppe widmete sich dem derzeitigen Stand der gesellschaftlichen Aufarbeitung. Sie erinnerte zunächst an die Hintergründe, die vor einem Jahr dazu führten, dass die Stelle einer Landesbeauftragten in Brandenburg geschaffen wurde. Als positiv hob sie hervor, dass sie nicht nur mit der Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen, sondern mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur im weiteren Sinne beauftragt sei. Stasi-Akten allein spiegeln nicht das gesamte Ausmaß der kommunistischen Diktatur und deren Folgen wider. Aufarbeitung ist laut Poppe keine rein persönliche Angelegenheit, sondern bedarf der Akzeptanz und Empathie der Gesellschaft. In diesem Sinne ist Aufarbeitung die Bereitschaft, sich auf verschiedenen Ebenen – sowohl juristisch als auch politisch – mit der SED-Diktatur und ihren Folgen auseinanderzusetzen. Immerhin besteht in Deutschland die Möglichkeit der Einsichtnahme in die Akten des DDR-Geheimdienstes. Dank der Wiedervereinigung wurde die Demokratisierung in Ostdeutschland – im Vergleich mit anderen Ostblockstaaten – erleichtert. Poppe hob jedoch hervor, dass es für die Beurteilung einer IM-Tätigkeit keine einheitlichen Maßstäbe gebe. Dürfe es auch nicht, da alle Einzelfälle sorgfältig überprüft und individuell bewertet werden müssen.

Mit Blick auf die von vielen als ungenügend empfundene politische Aufarbeitung sind nicht so sehr die Politiker das Problem, sondern deren Wähler. Viele Wähler, so Poppes Vorwurf, interessieren sich nicht für die Vergangenheit. Im Gegenteil: Dissidenten rufen Schuldgefühle hervor. Wenn ehemalige Dissidenten heute marginalisiert und ausgegrenzt werden, erscheint es aus Sicht vieler Wähler so, als sei ihr Widerstand nicht lohnenswert gewesen. Viele Verfolgte der SED-Diktatur fühlen sich immer noch nicht voll in die Gesellschaft integriert. Poppe unterstrich, dass den meisten Betroffenen die Anerkennung des Leids, das ihnen wiederfahren ist, wichtiger als der materielle Ausgleich sei. Gutachter wissen aber viel zu wenig über die Arbeitsweise der Staatssicherheit. Politische Verfolgung fand in sehr unterschiedlicher Form statt und hinterließ mitunter ganz subtile Spuren.

Poppe wies darauf hin, dass Gutachter für Haftfolgeschäden einer speziellen Ausbildung bedürfen. Neben der Überprüfung auf eine eventuelle Stasi-Tätigkeit sollte es daher eine Zertifizierung der Gutachter geben, wobei Opferverbänden Mitspracherechte eingeräumt werden müssten.

Die Tagung endete mit einer Podiumsdiskussion, an der neben Poppe und Trobisch-Lütge auch FRITZ SCHÜTZE teilnahm. Es moderierte KAI LANGER, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt und kommissarischer Leiter der Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg. Die Themen Rehabilitierung, Gutachten und Zertifikation von Gutachtern spielten eine zentrale Rolle. Ein weiterer Schwerpunkt war die Idee der „Versöhnung“. Schütze hob hervor, dass Versöhnung auf europäischer Ebene anders gewertet werde als im Hinblick auf die Aufarbeitung des SED-Unrechts. Man sollte daher Menschen aus anderen Ländern sowie besonders auch junge Menschen stärker in die Aufarbeitung einbeziehen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Matthias Puhle (Kulturhistorisches Museum Magdeburg)
Grußworte: Wolfgang Böhmer (Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt)
Anna Kaminsky (Bundesstiftung Aufarbeitung)
Rüdiger Erben (Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt)

Panel 1

Aleida Assmann: Einführung
Moderation: Sascha Möbius

Alexander von Plato: Erinnerung und Zeitzeugenschaft

Panel 2
Moderation: Annegret Stephan

Jörg Frommer: Langzeitfolgen politischer Traumatisierung

Stefan Trobisch-Lütge: Therapie und Umgang mit Opfern politischer Gewalt

Ulrike Poppe: Gesellschaftliche Aufarbeitung

Podiumsdiskussion
Fritz Schütze
Ulrike Poppe
Stefan Trobisch-Lütge
Moderation: Kai Langer

Anmerkungen:
1 Friedrich Hölderlin, Hyperion, Erstes Buch: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte“.
2 „… dass die NS-Zeit mit ihren einzigartigen Verbrechen durch die stalinistischen Verbrechen nicht relativiert oder die stalinistischen Verbrechen mit Hinweisen auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden“ dürfen. Torben Fischer, Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, transcript Verlag 2007, S. 276.


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