Francesco Bianchini (1662 - 1729) und die europäische gelehrte Welt um 1700

Francesco Bianchini (1662 - 1729) und die europäische gelehrte Welt um 1700

Organisatoren
Prof. Dr. Valentin Kockel und Brigitte Soelch M.A., Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.09.2003 - 13.09.2003
Von
Anke Sczesny, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Der italienische Universalgelehrte Francesco Bianchini (1662-1729), der unter Papst Clemens XI. zu einträglichen Positionen an der römischen Kurie gelangte, stand im Zentrum der internationalen und fächerübergreifenden Tagung "Francesco Bianchini (1662-1729) und die europäische gelehrte Welt um 1700", die vom 11.-13. September 2003 am Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg stattfand. Die Tagung wurde von dem Archäologen Prof. Dr. Valentin Kockel sowie der Kunsthistorikerin Brigitte Sölch M.A. ausgerichtet und von der Gerda Henkel Stiftung finanziert. An den drei Konferenztagen verfolgten etwa 40 Teilnehmer insgesamt 14 Vorträge. Die Diskussionsleitung übernahmen der Archäologe Prof. Dr. Henning Wrede (Berlin), der Kunsthistoriker Prof. Dr. Andreas Tönnesmann (Zürich), der Historiker Prof. Dr. Wolfgang E.J. Weber (Augsburg) und die Kunsthistorikerin Prof. Dr. Gabriele Bickendorf (Augsburg). Begleitend zur Tagung wurden Francesco Bianchinis Publikationen aus den Beständen der Bayerischen Staatsbibliothek in München und ein begehbares Modell des virtuellen Museums von Giuseppe Bianchini (s.u.) in den Räumen des Instituts für Europäische Kulturgeschichte ausgestellt.

Eröffnet wurde die Tagung vom Prorektor der Universität Augsburg Prof. Dr. Thomas M. Scheerer, dem Geschäftsführenden Direktor des Instituts für Europäische Kulturgeschichte Prof. Dr. Theo Stammen und dem Archäologen Prof. Dr. Valentin Kockel. Nach den Begrüßungsworten des Prorektors unterstrich Theo Stammen die heutige Bedeutung von Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, die nicht zuletzt auch im Mittelpunkt des am Institut für Europäische Kulturgeschichte angesiedelten Graduiertenkollegs "Wissensfelder der Neuzeit. Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur" stehen. Die Vielfalt von Theorie und Praxis der Wissenschaftsgeschichte wird zwar heute auf Thomas S. Kuhns Studie zur "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" zurückgeführt. Der Institutsdirektor rief jedoch überzeugend das ältere, von Goethe entworfene personenorientierte Konzept der Wissenschaftsgeschichte in Erinnerung; der Ansatz der Tagung – ausgehend von der Person Francesco Bianchini – böte die Chance einer Kombination beider Konzepte und damit auch erweiterter interdisziplinärer Perspektiven.

Nach seiner Begrüßung der Teilnehmer entwickelte der Tagungsleiter Valentin Kockel einige Grundperspektiven der Veranstaltung. Er teilte ferner einige aktuelle Programmänderungen mit. Sowohl Alain Schnapp (Paris), der zu ‚Universalgeschichte und Antiquarianismus bei Bianchini’ hatte vortragen wollen, als auch Tamara Griggs (Stanford), die sich des Themas ‚Bianchini's "Storia Universale" in the Context of Seventeenth-Century Universal Histories and in Relation to Early Modern Ideas about Memory and Proof’ hatte annehmen wollen, hätten aus persönlichen Gründen kurzfristig absagen müssen.

Mit einer thematischen Einführung eröffnete Brigitte Sölch das wissenschaftliche Programm. Sie stellte das intellektuelle Profil des Universalgelehrten Francesco Bianchini vor. Bianchinis Werk, das von astronomischen Beobachtungen über eine reich bebilderte Universalgeschichte bis zu aufwendig gestalteten archäologischen Publikationen reichte, fand schon zu seinen Lebzeiten internationale Beachtung. Im Gegensatz zu seinem nur wenige Jahre jüngeren Landsmann Scipione Maffei ist er bislang allerdings nicht ins Zentrum der Forschung gerückt. Zwar hatte schon um 1900 eine erste "Forschungswelle" in Italien eingesetzt, doch fanden Bianchinis Antikenrekonstruktionen sowie die forschungspraktische und mnemotechnische Bedeutung der Bild- und Schriftquellen im Sinne eines neuen kritischen Wissenschaftsverständnisses erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Beachtung. Die Tatsache, dass Bianchini in den historischen Wissenschaften vor allem in Deutschland bislang eher eine Randfigur war, dürfte in erster Linie an der Heroisierung Winckelmanns und seiner Rolle in der Wissenschaftsgeschichte liegen. Die ihm zugeschriebene Größe warf einen langen Schatten auf das wissenschaftliche Denken und die methodischen Errungenschaften seiner Vorgänger. Dabei hatte Winckelmann wesentlichen Anteil an der Konstruktion seines eigenen Mythos, indem er die sog. "Antiquare" mit spitzer Zunge als ameisengleiche Forscher kritisierte, die durch ihren Fleiß, nicht aber durch kritische Fragestellungen hervorgetreten seien.

In ihrem Vortrag ‚"Ogni genere d'erudite anticaglie...": Francesco Bianchini e l'ambiente veronese’ gab Irene Favaretto (Padua), Archäologin und Spezialistin für Sammlungsgeschichte in Oberitalien, Einblick in das vielschichtige kulturelle Beziehungsnetz der Serenissima und in das fruchtbare intellektuelle Ambiente, in dem Bianchini seine Ausbildung erfuhr. Bianchini pflegte regen Kontakt mit renommierten Gelehrten des Veneto wie Girolamo Correr, Kardinal Davia, Charles Patin, Iacopo Pighi, Scipione Maffei und später Apostolo Zeno sowie Antonio Vallisneri. Darüber hinaus ermöglichte ihm sein Studium an der Universität von Padua den Aufenthalt in einer Stadt, die von beeindruckender geistiger Offenheit geprägt war. Auch die Kenntnis lokaler Sammlungen mit ihrem weit gefächerten Spektrum an Sammlungsgegenständen, von Antiken über Münzen und Inschriften bis hin zu naturwissenschaftlichen und optischen Geräten, hatte wesentlichen Anteil an der historischen und naturwissenschaftlichen Interessensbildung des Gelehrten. Bianchini blieb dem Veneto zeitlebens verbunden und hielt die Kontakte auch noch während seiner Zeit in Rom, vor allem zu Scipione Maffei aufrecht, auf den er großen Einfluss ausübte.

Dem ersten großen Werk Bianchinis, der Universalgeschichte, wandte sich der Kunsthistoriker Werner Oechslin (Zürich) in seinem Beitrag ‚Universalgeschichte: "Memorie", "Pruove" und "Metodo"’ zu. Er konzentrierte sich dabei auf das Konzept der "Verità", das während der Tagung ausgiebig diskutiert wurde. Bianchini akzeptierte, so Oechslin, die profane Geschichte, die der Göttlichen nicht widersprechen dürfe, als Fragment und versuchte bei seiner Rekonstruktion von Geschichte größtmögliche Plausibilität zu erreichen. Seine "pruove" sind "simboli". Diesen Begriff verwendete Bianchini für Symbole und Monumente gleichermaßen. Bianchini versuchte Geschichte innerhalb eines heilsgeschichtlichen Systems zugleich verständlich und verfügbar zu machen, indem er mit "simboli" - im Sinne von Bildern - argumentierte, die den einzelnen Kapiteln der Universalgeschichte voranstehen. Dabei suchte Bianchini keine philosophische Wahrheit zu erlangen, sondern Verlässlichkeit und einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit. Die Beweisfunktion seiner Bilder unterstreicht er durch Hinzufügen von Ziffern, die auf die beigegebene Legende und somit auf den Text verweisen. Intellekt und Phantasie widersprechen sich nicht, bilden vielmehr eine Einheit. Wenn Bianchini außerdem von einem "Modell" spricht, so liegen dessen Grenzen analog zu Alberti dort, wo es zwar eine Vorstellung, aber noch keine konkrete Erfassung ermöglicht. Selbst Vico verdankt Bianchini einiges, wenn er sein Modell der "Gewissheit des Wissens" damit rechtfertigte, dass Memoria und Phantasie das Gleiche bedeuten und vom Intellekt bewältigt werden konnten.

Der Musikwissenschaftler Erich Tremmel (Augsburg) stellte in seinem Vortrag Bianchinis "Tria genera instrumentorum" vor, ein Traktat von etwa 50 Seiten und 8 Bildtafeln mit Rekonstruktionen "antiker" Instrumente. Der zugleich in der Musikgeschichte und der Musikpraxis ausgewiesene Forscher bezweifelte, dass sich Bianchini seines Gegenstandes sicher fühlte. Zur Erforschung der Instrumentengeschichte wertete Bianchini zwar erstmals antike Bildquellen aus und erfasste diese auch terminologisch weitgehend exakt. Seine bildliche Rekonstruktion hat jedoch mit dem Ursprungsgegenstand, so Tremmel, kaum mehr etwas gemein, wohl auch, weil sie weitgehend auf Athanasius Kircher rekurrierte. Viele der Instrumente wären allein ihrer Darstellung nach kaum funktionstüchtig gewesen. Sie seien deshalb mehr der Vorstellung, wie derartige Instrumente in der Antike hätten aussehen können, als einer tragfähigen Überlieferung entsprungen. Der Archäologe Henning Wrede (Berlin) wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es nicht zuletzt bei Montfaucon eine Reihe antiker Musikinstrumente gebe. Bianchinis Interessen seien archäologischer Natur gewesen und hätten der wissenschaftlichen Erfassung der bildlichen und schriftlichen Überlieferung antiker Musikinstrumente gegolten.

Henning Wrede eröffnete zum Abschluß des ersten Veranstaltungstages einen breiten Vergleichshorizont, indem er den Blick auf ‚Die antiquarische Vision der Antike um 1700 in Holland’ lenkte. In dem noch nicht eingehend erforschten Zeitraum um 1700 haben - aufgrund von technischen Verbesserungen der Drucktechnik - nicht nur die Texte, sondern auch die Abbildungen der damaligen archäologischen Forschungen zugenommen. In Rom folgte die insgesamt dokumentarische Annäherung an die Antike einem zeitbedingt klassizistischen Stil, der maßgeblich durch die Idealvorstellung G.B. Belloris geprägt war. Holland erzielte allein schon dadurch innovative Bildergebnisse, dass nicht mehr die Monumente aus der eigenen Anschauung, sondern nach Schnitten und Stichen des 15.-16. Jahrhunderts abgebildet wurden. Die älteren Vorlagen wurden gesammelt, geordnet, dekontextualisiert und in neuem Ambiente übertragen. Indem die Denkmäler an fingierten Aufstellungsplätzen in fürstlichen Galerien und Antikengärten wiedergegeben oder maßstäblich vergrößert an einen locus amoenus versetzt wurden, erschienen sie entschieden verlebendigt. Ferner konnten sie in intaktem, restauriertem Zustand, aber in der Manier von Augentäuschern auf vermeintlich beschädigten, eingerissenen Blättern dargestellt werden. Auf diese Weise wurde nicht das hohe Alter der Denkmäler, sondern das hohe Alter der sie erforschenden Wissenschaft visualisiert.

Der zweite Konferenztag wurde von dem Archäologen François de Polignac (Paris) mit einem Beitrag über ‚Bianchini et les "cardinaux antiquaires": archéologie, politique et diplomatie’ eröffnet. Bianchinis enge Verbindung zu dem jüngeren Kardinal Alessandro Albani sowie den Kardinälen gleichen Alters - Gualtieri, Davia und Polignac - spiegeln nicht nur das gemeinsame Interesse an der scienza nuova, sondern auch deren Rückbindung an die Antike und Integration in die kirchenhistorische Forschung wider. Sie nahm zugleich eine interne Konkurrenzsituation auf, die aus unterschiedlichen politischen und diplomatischen Interessen der beteiligten Gruppen und Individuen resultierte und die archäologisch- antiquarische Forschung des frühen 18. Jahrhunderts in Rom maßgeblich prägte. Die von Kardinal Davia initiierte Publikation des Columbariums durch Bianchini dokumentiert z.B. eine spezifische Form und Methode der Wahrheitssuche: Inschrift, Text, Grabungsbefund. Im Gegensatz dazu erachtete Kardinal Davia, der sich während des Spanischen Erbfolgekrieges auf die Seite des frankophilen Clemens XI. stellte, Bianchinis postum publizierten und König Ludwig XV. gewidmeten Palazzo de'Cesari als einen Palais des Français. Die Publikation fungierte mithin als diplomatischer Spielball zwischen Paris und Rom.

In seinem Beitrag über ‚Bianchinis Palazzo de' Caesari und die Antikenrekonstruktionen seiner Zeit’ stellte sich der Kunsthistoriker Meinrad von Engelberg (Darmstadt) die Frage, von welcher idea Bianchini bei den hypertrophen Rekonstruktionen des Palazzo de'Caesari geleitet war und welche architektonischen Ideale die Zeit prägten. Denn nur dort, wo Bianchini selbst "den Spaten ansetzen konnte", erscheinen seine Rekonstruktionsergebnisse zufrieden stellend. Die übrigen, nach den Gesetzen vitruvianischer Symmetrie vorgestellten Teile des Palastes, entsprachen der Vorstellung eines vollkommenen Palastes der Antike, der in weitgehender Übereinstimmung mit der spätbarocken Baukunst gedacht worden war. Erst als eine asymmetrisch ausponderierte Wiedergabe symmetrischer Bauten (Juvarra) bevorzugt wurde und Piranesi schließlich andeutete, dass sich die Antike nicht an Vitruv gehalten habe und eher den Modernen gleiche, konnte die für universell gehaltenen Axiome - Spiegelsymmetrie und Axialität - überwunden und eine Neudefinition antiker magnificenza erreicht werden. Für Bianchini war, so von Engelberg, das Gedankenexperiment von Interesse. Dieses würde bereits in Richtung "utopische Architektur" weisen.

Mit dem Problem der Darstellungsweisen antiker Architektur beschäftigte sich der Archäologe Valentin Kockel (Augsburg) in seinem Beitrag ‚Wie soll man eine Ausgrabung publizieren? Die drei Veröffentlichungen des Columbariums der Liberti der Livia und des Augustus und ihre Wirkung’. Am Beispiel des sowohl von Bianchini, als auch von Ghezzi und Gori publizierten Columbariums konnte der Tagungsleiter belegen, dass Bianchinis Tafeln ganz im Sinne des vitruvianischen Regelkatalogs konzipiert wurden: ichnographia, orthographia und scenographia (Plan, Schnitt, perspektivische Ansicht), aus denen sich zusammen die dispositio, d.h. die idea (= Konzeption) ablesen läßt. Darüber hinaus verkörpern die in der Vedute sichtbaren vier Figuren unterschiedliche Phasen des Umgangs mit dem Monument: Die Ausgrabung selbst ebenso wie verschiedene Wahrnehmungsstufen der ispezione oculare. Während Bianchini sowohl die Inschriften als auch den unmittelbaren architektonischen Kontext berücksichtigt, dokumentiert Gori nahezu jedes Fundstück und lässt die Architektur dahinter zurücktreten. Ghezzis prachtvolle Publikation - eine Art "Coffee Table Book" - ermöglicht keine Auseinandersetzung mehr mit der Architektur. In seiner Präzision und den einen geschulten Betrachter voraussetzenden Illustrationen erweist sich Bianchinis Werk als das "modernste" aus heutiger archäologischer Sicht. Kockel stellte zudem eine Reihe von ebenso nüchtern wie detailreich angelegten Zeichnungen aus Windsor vor, die allein die Architektur des Grabbaus dokumentierten. Eine freie Nachahmung der Rückwand des Columbariums aus dem späten 18. Jahrhundert war noch bis zum 2. Weltkrieg im Japanischen Palais in Dresden zu besichtigen.

Die Kunsthistorikerin Hildegard Wiegel (Schwabach) berichtete über ‚Francesco Bianchini und Oxford’, denn Bianchini hatte sich im Jahre 1713 während einer einmonatigen Englandreise für eine Woche in Oxford aufgehalten. Trotz der schwierigen Quellenlage konnte die Kunsthistorikerin ermitteln, dass Bianchini von dem Bibliothekar Thomas Horn durch die Universitätsstadt geführt wurde und ein Stipendium erhalten hatte. Ferner traf Bianchini, der ein Reisetagebuch geführt hatte, in Greenwich und Oxford mit den beiden Astronomen John Flamsteed und Edmond Halley sowie in London mit Isaac Newton zusammen, wovon gleichfalls Bianchinis Biograph Mazzoleni berichtet.

Die Kunsthistorikerin Susan Dixon (University of Tulsa) konzentrierte sich in ihrem Vortrag über ‚Bianchini's Legacy in Mid-Eighteenth-Century Rome’ auf Bianchinis reich bebilderte, 1697 erschienene Universalgeschichte, die von Oechslin bereits geistesgeschichtlich verankert worden war. Dixon setzte den Schwerpunkt auf die komplexen Bildfindungen des Universalgelehrten. Bianchinis Universalgeschichte sei wegen ihres chronologischen Konzepts und der visuellen Vermittlung von Wissen in direktem Zusammenhang mit seinem 1695 publizierten Kartenspiel zu sehen. Die Abbildungen in der Universalgeschichte, die zumeist Pasticci von Reproduktionen unterschiedlicher gedruckter Werke sind, entstammen jedoch nicht dem Zeitraum ("uncertain ages"), dem sie als Beleg zugeordnet sind. Auch machte Bianchini nur in wenigen Fällen einen Unterschied zwischen dem Artefakt bzw. Fragment und den im Bild selbst konstruierten, kulturelle Phänomene aufzeigenden Zusammenhängen. Dennoch fand gerade die komplexe visuelle Narration von Geschichte, die auch die Capricci von Giovanni Battista Piranesi beeinflußte, große Anerkennung. Die Universalgeschichte wurde deshalb auch als Lehrbuch für den Unterricht an der Accademia di San Luca verwendet. Die memoriale Funktion der Universalgeschichte kulminierte in der 1752-54 in Rom publizierten "Demonstratio Historiae Ecclesiasticae..." des Neffen Giuseppe Bianchini, einem virtuellen Museum, das antike Kunstwerke in einem imaginären, architektonischen Rahmen präsentierte (s.u.).

Mit seinem Vortrag ‚Bianchini as Astronomer’ setzte der Wissenschaftshistoriker John L. Heilbron (Burford) einen naturwissenschaftlichen Schwerpunkt. Mit größter Perfektion hatte Bianchini den berühmten Meridian, die sog. Linea Clementina, in S. Maria degli Angeli konstruiert, der in seiner Funktion als Sonnen-Observatorium eine europäische Vorrangestellung einnahm. Wenn sich auch Bianchini einer dezidierten Stellungnahme zum kopernikanischen System enthielt, unterstützte er dieses dennoch mit seiner Beobachtung einer geringfügigen Verschiebung der Erdachse in ihrer jährlichen Rotation. Bianchini war einer der wenigen Wissenschaftler, der den Einsatz hochkomplizierter Teleskope mit einer Länge von mehr als 20 Metern beherrschte. Große Aufmerksamkeit erregten so auch seine Beobachtungen der - vermeintlichen - Oberfläche und der Parallaxe der Venus. Anlass zur Spekulation über das Verhältnis von Kirche und Wissenschaft gibt vor allem das Frontispiz der Venus-Publikation: Das Zentrum eines astronomischen Modells, das die Kreisbahnen der Planeten veranschaulicht, bleibt leer.

Der Kunsthistoriker Christopher Johns (Nashville) knüpfte am Ende des zweiten Tages an die von Heilbron aufgeworfene Frage nach der Beziehung zwischen Wissenschaft und Kirche an. Sein Beitrag ‚Papa Albani and Francesco Bianchini: Intellectual and Visual Culture in Early Eighteenth-Century Rome’ galt der kunst- und kulturpolitischen Situation der römischen Kurie um 1700. Vor dem Hintergrund des Spanischen Erbfolgekriegs und einer angespannten politischen Situation lässt sich eine kulturelle und intellektuelle Reform auf institutioneller Ebene beobachten, die zwischen Schutz und Wahrung päpstlicher Privilegien und Immunitäten und grundlegenden kirchenpolitischen Veränderungen angesiedelt ist. Der geistige und weltliche Herrschaftsanspruch der päpstlichen Wahlmonarchie war im Rahmen europäischer Staatspolitik auf einem Tiefpunkt angelangt. Die engagierte Reform Clemens XI. galt der Demonstration der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion und fand ebenso in der traditionellen (Universalgeschichte) wie experimentellen Ausrichtung (Meridian, Museo Ecclesiastico) des Universalgelehrten Bianchini ihre Entsprechung.

Die Vorträge des letzten Tages setzten einen Schwerpunkt auf die Sammlungsgeschichte. In ihrem Beitrag ‚Das "Museo Ecclesiastico" von Francesco Bianchini. Beginn einer neuen Sammlungsära im Vatikan’ stellte die Kunsthistorikerin Brigitte Sölch (Augsburg) die Planung des ambitionierten päpstlichen Museumsprojektes in unmittelbarer Nähe der Vatikanischen Bibliothek vor. In mindestens drei Räumen brachte Bianchini archäologische Zeugnisse des frühen Christentums und der römischen Kaiserzeit in ein gattungsübergreifendes und historisch-chronologisches Ordnungssystem. Erstmals wurden Architektur und Ausstattung eines Museums - auf der Folie einer posttridentinischen Bildpraxis - aufeinander bezogen. Der Vorrang der römischen Kirche wurde durch die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Religion demonstriert. Nicht mehr nur gemalte und gestochene Bilder, sondern die Antiken selbst sollten in das Gedächtnis der Betrachter eingehen, sinnlichen Genuss gewährleisten und von der unumstößlichen Wahrheit überzeugen.

Der Archäologe Paolo Liverani setzte die Geschichte des päpstlichen Museumsprojektes bis zur Einrichtung des Museo Sacro unter Papst Benedikt XIV. fort. In seinem Beitrag ‚Il Museo Ecclesiastico e la sua continuazione fino alla metà del '700’ sah Liverani erste Vorläufer eines kirchenhistorischen Ordnungssystem in den Grotte Vaticane. Darüber hinaus konnte Liverani anhand von Quellen zum Vatikanischen Palast den unmittelbaren Kontext und den Einfluß des nicht vollendeten Museo Ecclesiastico verfolgen. So lässt sich z.B. für den letzten Abschnitt der heutigen Galleria dei Candelabri eine Sammlung von Philosophen-, Dichter- und Kaiserporträts nachweisen, deren Präsentation von Bianchinis Konzept unmittelbar beeinflusst war. Weitere archäologische Funde wurden unter Clemens XI. im Casino del Belvedere vereint.

Abschließend berichtete die Kunsthistorikerin Petra Thomas (Hamburg) über ‚Bilder einer Ausstellung. Das Museo Capitolino und die wissenschaftliche Illustration über Visualisierungsstrategien der Bildtafeln archäologischer Kataloge und ihre doppelschichtige Lesart’. In Bottaris Katalog des 1734 eröffneten Museo Capitolino kommt den Kupferstichen nicht nur die Funktion einer visuellen Vermittlung des im Text bereits Erläuterten zu. Sie enthalten vielmehr eine über den Text hinausgehende eigenständige, inhaltliche Dimension. Neben präzisen, mit Hilfe der Camera Obscura erfolgten Bildaufnahmen durch den Zeichner, die "objektiven" wissenschaftlichen Ansprüchen genügten, wurden in der Wiedergabe der antiken Plastiken zeitgenössische Idealvorstellungen und Wahrnehmungsgewohnheiten des Betrachters berücksichtigt. Die Kataloge stellten einerseits Arbeitsmaterial für den wissenschaftlichen Forscher zur Verfügung und wurden andererseits von Laien wie Künstlern als vorbildhafte künstlerische Ausdrucksformen rezipiert.

Die Tagung beleuchtete den Universalgelehrten Francesco Bianchini aus unterschiedlichen Blickwinkeln und nutzte die Möglichkeit zum Dialog der Disziplinen. Es wurde deutlich, dass Bianchini, der seine universalwissenschaftlichen Interessen mit dem internationalen Aktionsradius eines Diplomaten in päpstlichem Dienst vereinen konnte, als ein glänzender Reflektor des vielfältigen wissenschaftlichen Aufbruchs der Zeit um 1700 zu verstehen ist. Anlass zu reger Diskussion gab vor allem die Tatsache, dass Bianchini in all seinen Werken mit dem Medium Bild - als "Symbol und Beleg" - operierte, um das Erforschte sichtbar und verständlich zu machen, dabei aber eine neue Wirklichkeit generierte, die sich aus der Autopsie der Bildgegenstände ebenso speiste wie aus bildlichen Traditionen, wissenschaftlichen Modellen und Theorien sowie zeitgenössischen Idealvorstellungen. Ausgelöst durch die vermeintlichen Widersprüche von Text und Bild drängte sich deshalb auch am Ende der Tagung die entscheidende Frage nach einer Klärung der Konzepte von Objektivität, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Kritik im frühneuzeitlichen Wissenschaftsverständnis auf.

Die Publikation der Beiträge in einem Sammelband ist geplant.

http://www.uni-augsburg.de/institute/iek
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