Entstehung der Regionalismen in Niedersachsen im 19. Jahrhundert

Entstehung der Regionalismen in Niedersachsen im 19. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.03.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Im März 2011 kam der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen zu seiner 25. Sitzung zusammen. Das Thema „Entstehung der Regionalismen in Niedersachsen im 19. Jahrhundert“ bot dabei durchaus nicht nur die Gelegenheit für einen historischen Rückblick, sondern eröffnete an der einen und anderen Stelle durchaus auch die Möglichkeit, auf Folgewirkungen hinzuweisen, die bis in die Gegenwart andauern. Niedersachsen bietet sich als Untersuchungsgegenstand für solche Fragestellung an, gerade weil – vor allem von der Heimatbewegung – mit einem Niedersachsenbewusstsein operiert wurde, lange bevor es nach dem Zweiten Weltkrieg zur Gründung dieses Bundeslandes kam, und weil der Landesname – anders als Baden-Württemberg oder Nordrhein-Westfalen – in den Hintergrund treten lässt, aus welchen Territorien und Regionen dieses Gebilde geformt wurde.

JOACHIM KUROPKA (Vechta) sprach über das Thema „Verbunden im Bewusstsein der Verschiedenheit. Das Oldenburger Münsterland im Großherzogtum Oldenburg“. Er skizzierte, dass das Herzogtum Oldenburg seit 1773 aus zwei räumlich getrennten Teilgebieten – Oldenburg selbst und dem Hochstift Lübeck mit der Residenzstadt Eutin – bestanden habe. 1803 seien als „Entschädigung“ für den Verlust des Elsflether Weserzolls das hannoversche Amt Wildeshausen sowie aus dem aufgelösten Hochstift Münster die Ämter Vechta und Cloppenburg hinzu gekommen. Der Wiener Kongress habe Oldenburg dann als weitere Exklave das Fürstentum Birkenfeld an der Nahe zugesprochen. 1818 habe Oldenburg schließlich die Herrschaft Jever vom russischen Zaren zurück erhalten. Es sei also ein in drei Teile gespaltenes Staatsgebiet entstanden, bei dem zudem noch der zusammenhängende größte Teil in einen protestantischen, liberal geprägten Norden und einen katholischen, christlich-demokratisch orientierten Süden gespalten gewesen wäre. Herzog Peter Friedrich Ludwig habe danach gestrebt, auch die katholische Kirche in Oldenburg unter Staatsaufsicht zu stellen und sie weitgehend dem Einfluss des Bischofs in Münster zu entziehen. Es sei eine Kommission für römisch-katholisch-geistige Angelegenheiten gegründet worden, der die Zuständigkeit für Vermögens- und Schulangelegenheiten oblegen hätte, während geistliche Angelegenheiten vom Generalvikariat bzw. dem Bischof in Münster geregelt worden seien. In Vechta sei eine eigenständige Behörde entstanden, der ein bischöflicher Offizial vorgestanden hätte. Auch wenn damit eine Abgrenzung des katholischen Landesteils gegenüber dem protestantischen Norden erfolgt sei, die Klammer, die das Großherzogtum bildete, sei dadurch nicht gesprengt worden.

GERHARDT SCHILDT (Braunschweig) hob in seinen Ausführungen „Die Braunschweiger. Benachteiligte Radikale“ hervor, dass Radikalität die Braunschweiger mindestens für die Jahre 1830 bis 1933 ausgezeichnet habe. Ausschlaggebend für das selbstbewusste Handeln der Stadt Braunschweig dürfte gewesen sein, dass sie 14 % der Gesamtbevölkerung des Gesamtstaates stellte. Die kritische Einstellung der Braunschweiger habe sich in der Revolution von 1830 manifestiert, bei der das Schloss erstürmt und niedergebrannt worden sei und der Herzog habe außer Landes fliehen müssen. 1848 sei die braunschweigische Regierung mit ihrem Ministerpräsidenten im Amt geblieben und die Braunschweiger hätten vom Herzog eine Huldigung an den Reichsverweser erzwungen. In Braunschweig habe es eine wesentlich radikalere, sich in der Sozialdemokratie organisierende Arbeiterschaft als in den Nachbarstaaten gegeben. Bei der Spaltung der SPD seien 2.900 Mitglieder zur USPD und nur 100 zu den Mehrheitssozialdemokraten gewandert! Benachteiligt habe sich Braunschweig vor allem gegenüber Hannover gefühlt. Die Vorgehensweise der hannoverschen Eisenbahn habe man in Braunschweig als schikanös empfunden, verlief die immer wichtiger werdende Ost-West-Verbindung doch über Wolfsburg. Diese Empfindlichkeiten bestünden bis heute fort und kämen bei Themen wie der Norddeutschen Landesbank oder der Behandlung der Museen wieder zum Tragen.

KARL-HEINZ SCHNEIDER (Hannover) sprach über „Verkehrsverbindungen als Basis regionalen Selbstbewusstseins? Schaumburg und Schaumburg-Lippe“. Mit der von Kassel aus regierten Graftschaft Schaumburg und dem Fürstentum Schaumburg-Lippe hätten sich zwei auch geografisch unterschiedliche Regionen gegenübergestanden. Beide hätten gemeinsame Unternehmungen (Steinbrüche), aber unterschiedliche wirtschaftspolitische Konzeptionen und unterschiedliche Möglichkeiten, sich an das Verkehrsnetz anzuschließen, gehabt. Die erste Eisenbahnlinie, die 1847 eröffnete Verbindung zwischen Hannover und Minden, sei aufgrund verkehrsgeografischer Bedingungen durch Schaumburg-Lippe gelaufen und habe einen frühen Anschluss an wichtige andere Bahnlinien hergestellt. In der Folge habe insbesondere Stadthagen einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, während das industrielle Zentrum der Grafschaft Schaumburg, Obernkirchen, „abgehängt“ worden sei. Das Wesertal sei erst 1874 durch die Verbindung Hameln-Rinteln-Löhne erschlossen worden. Daraufhin habe eine der beiden in Obernkirchen ansässigen Glashütten nach Rinteln gewechselt. Erst 1900 sei Obernkirchen durch die Rinteln-Stadthagener Eisenbahn an das überregionale Eisenbahnnetz angeschlossen worden. Eine Verbindung unterschiedlicher wirtschaftlicher Aktivitäten durch ein Eisenbahnnetz hätte die Region stärken können, doch das sei nicht geschehen. So habe zwischen der Grafschaft Schaumburg und dem Fürstentum Schaumburg-Lippe nicht nur eine mentale Grenze, sondern eine, die wirtschaftliches und politisches Handeln beeinflusste, bestanden.

JOHANNES LAUFER (Göttingen) betrachtete „Die Kehrseite des Regionalismus. Globale Verflechtung niedersächsischer Unternehmen im 19. Jahrhundert“. Im 19. Jahrhundert hätten die Auswirkungen des technischen Fortschritts wie Dampfschiff und Telegrafie eine Transport- und Kommunikationsrevolution ausgelöst. Es habe eine neue Suche nach Rohstoff-, Kapital- und Absatzmärkten stattgefunden. Niedersächsische Firmen wären mit speziellen Produkten auf dem Weltmarkt präsent gewesen. Im Zuge ihres Auslandsengagements hätten zahlreiche Firmen bedeutende Marktanteile gewinnen können. So seien für die Deutsche Spiegelglas AG die USA zum wichtigsten Absatzgebiet für optische und Spezialgläser geworden. Ein direktes Engagement im Ausland selbst habe es jedoch anders als bei der Firma Wolff Walsrode nicht gegeben. Diese habe im Aufwind des Kolonialismus verstärkt in Afrika und China Fuß gefasst und dadurch einen Rückgang des Marktanteils in Deutschland kompensiert. Im Allgemeinen hätten Import und Export dominiert, weniger jedoch der Austausch von Know How, Patenten oder Personal. Kapitalverflechtungen und Direktinvestitionen hätten – wie grundsätzlich im Kaiserreich – die Ausnahme gebildet. Es stelle sich mithin die Frage, ob die globale Überwindung des Raumes das Ende der Regionalität gewesen sei oder ob sie neue Formen der Regionalität gefördert habe? Habe sie den Provinzialismus entzaubert oder regionale Kulturen und Umwelt und Identitäten zerstört? Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts sei die „Globalisierung“ aber mit wohlstandsfördernden Effekten selbst für ungelernte Arbeitskräfte gerade für strukturschwache Regionen Niedersachsens von Vorteil gewesen.

CHRISTINE VAN DEN HEUVEL (Hannover) referierte über „Regionalismus als Anti-Parlamentaris­mus. Die Instrumentalisierung der Provinzialstände im Königreich Hannover“. Sie charakterisierte Regionalismus als einen zwiespältigen Begriff. Stehe er zum einen für föderale Strukturen, für Subsidiarität mit dem Ziel demokratischer Partizipation, so verbänden sich mit dem Begriff des politischen Regionalismus auch ethische und kulturelle Abgrenzung und engstirniger Partikularismus. Das Königreich Hannover biete ein Szenarium für einen ständisch-partikularen Regionalismus, bei dem es ein Zusammenspiel zwischen Monarchie und restaurativem Ständetum zwecks Abwehr eines frühkonstitutionellen Parlamentarismus gegeben habe. Die Koalition von reformfeindlichem hannoverschem Adel und autokratischem Königtum habe einen provinzialständischen Regionalismus gestärkt, der sich gegen die hannoversche Ständeversammlung als gesamtstaatliche Bewegung gerichtet habe und nicht unwesentlich dazu beitrug, dass politische Rahmenbedingungen entstehen konnten, die die Entwicklung liberaler, demokatischer Institutionen, die Einführung von Rechtsgleichheit und wirtschaftlicher Freiheit im hannoverschen Staat wesentlich erschwert und im Vergleich zum Südwesten des deutschen Bundes nachhaltig verzögert hätten. So sei das 1814/15 gegründete Königreich Hannover bis zu seinem Ende 1866 ein zusammengesetzter Staat geblieben, dessen Bürger sich auch zu preußischer Zeit zuforderst als Regionalisten verstanden hätten, obwohl sie in den Nationalstaat in den folgenden Jahrzehnten hineinwachsen sollten.

HARALD LÖNNECKER (Koblenz) sprach zum Thema „‚Erfinder’ des regionalen Selbstbewusstseins? Studentenverbindungen als Vorreiter“. Anfang des 19. Jahrhunderts bestanden in Göttingen Landsmannschaften, in denen sich Studenten identischer Herkunft zusammengeschlossen hätten. Die Landsmannschaften hätten als Erbe des 18. Jahrhunderts eine ungewöhnlich starke Stellung ihres Führers, des Seniors, in ihren Konstitutionen festgelegt. Erst nach 1810 habe sich in den „Corps“ die Gesamtheit der Mitglieder als Schwerpunkt einer Verbindung durchgesetzt. Landsmannschaften wie Corps stellten einen älteren Korporationstyp dar, korporativ-regionalistisch mit unpolitischer, geselliger Orientierung. Ihnen sei zuerst in Jena, dann aber 1820 auch in Göttingen mit den Burschenschaften ein neuer, assoziativ-nationaler Organisationstypus mit außeruniversitärer Orientierung an Nation und bürgerlicher Freiheit entgegengestellt worden. Als Unterscheidungsmerkmal sei die Region ein Faktor gewesen, der Abgrenzung ermöglichte, Inklusion und Exklusion verdeutlichte. Am Beginn des 19. und weit bis in das 20. Jahrhundert hinein wären Studentenverbindungen per se regionalistische Vereinigungen, Ausdruck und Beförderer, wenn nicht „Erfinder“ und Konstrukteure des regionalen Selbstbewußtseins gewesen. Dieses regionale Moment, das bei den landsmannschaftlichen Verbindungen wichtig gewesen sei, sei von den Burschenschaften grundsätzlich und ausdrücklich als Ausdruck des vaterlandsfeindlichen und kleinstaatlichen Partikularismus bekämpft worden.

MANFRED VON BOETTICHER (Hannover) widmete sich dem Thema „Landschaftliche Identitätsbildung im 19. Jahrhundert in Niedersachsen“. Er fragte, ob von einem Jahrhunderte überdauernden gemeinsamen Bewusstsein der Bevölkerung in den Territorien ausgegangen werden könne, die 1815 zum Königreich Hannover bzw. 1946 zum Land Niedersachsen vereinigt wurden? Bei Betrachtung der Geschichte des vor 175 Jahren gegründeten Historischen Vereins von Niedersachsen müsse die Antwort „Nein“ lauten. So mache die Herkunft der dem Verein im 19. Jahrhundert überlassenen Bodenfunde deutlich, dass der Begriff Niedersachsen für den Verein zu einer geografischen Größe geworden sei, die den ungefähren Blick auf die eigene Forschung bestimmte, dabei aber ältere territoriale Grenzziehungen als Begrenzung der eigenen Forschung bewusst ausgeschlossen habe. Dagegen habe der Heimatbund Niedersachsen im Zuge der Regionalbewegung um 1900 auf eine niedersächsische Identität zurückgegriffen, wie sie bis dahin von der Historiographie kaum postuliert worden sei. Es sei zu einem Rückgriff auf Begriffe wie Heimat, Stamm und Volk gekommen. Im Zuge dieser Gegenbewegung seien auch viele regionsbezogene Geschichtsvereine gegründet worden. Bei der Betrachtung der von ihnen initiierten Publikationen, aber letztlich auch der Geschichte Niedersachsens sei festzustellen, dass die Region a priori gesetzt werde und die Forschungsfragen präge. Ein vorgegebener territorialer Rahmen könne aber ohne Hinterfragen nicht über Jahrhunderte hinweg ein seriöses Forschungsvorhaben bestimmen. Es bestehe die Gefahr, dass Regionen innerhalb Niedersachsens entsprechend den heutigen lokalen Interessen allzuleicht eine historische Legitimation erhielten und ihnen angeblich uralte Strukturen und ein tradiertes Selbstverständnis zugeschrieben würden. Langzeitindentitäten seien jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen. Sie könnten nicht Ausgangspunkt historischer Forschung sein, sondern wären von ihr erst im Einzelnen nachzuweisen.

Die Referate stellten beispielhaft prägende Formen zur Ausbildung eines Landes- bzw. Provinzialbewussteins im Gebiet des heutigen Niedersachsens vor. Dabei wurde deutlich, dass auch 65 Jahre nach Bildung des Landes Niedersachsen die Territorien und Regionen, die in diesem Bundesland aufgegangen sind, weiterhin ihr Eigenbewusstsein, in unterschiedlicher Weise, insgesamt aber deutlich erkennbar pflegen. Regionales Selbstbewusstsein verdankt sich nicht nur pfiffigen Tourismusvermarktern, sondern spiegelt – wie die Tagung zeigte – oft auch ältere politische oder gesellschaftliche Strukturen wider und die dazugehörigen Erfahrungen. Sich mit diesen „Nachwirkungen“ auf Ebene des Landes Niedersachsen zu beschäftigen, bietet sich als erster Schritt an, um vergleichend auch in anderen Bundesländern nach dem Vorhandensein von Regionalismen und deren Entstehung zu fragen. Die Bedeutung dessen, was Region für den Einzelnen umfasst, scheint dabei durch den Wandel, der sich vollzogen hat, sogar noch gestärkt worden zu sein. In einem „Europa der Vaterländer“ scheint Region einerseits für das Individuum zu einem – geschichtlich weniger vorbelasteten – Surrogat für Heimat geworden zu sein, andererseits orientieren sich nicht nur Forschungsvorhaben an einem von den Geldgebern vorgegebenen regionalen Zuschnitt, sondern „Metropolregionen“ stellen Förderkulissen für EU-Programme dar.

Konferenzübersicht:

Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen

„Die Entstehung der Regionalismen in Niedersachsen im 19. Jahrhundert“

Joachim Kuropka (Vechta): Verbunden im Bewusstsein der Verschiedenheit. Das Oldenburger Münsterland im Großherzogtum Oldenburg

Gerhardt Schildt (Braunschweig): Die Braunschweiger. Benachteiligte Radikale

Karl-Heinz Schneider (Hannover): Verkehrsverbindungen als Basis regionalen Selbstbewusstseins? Schaumburg und Schaumburg-Lippe

Johannes Laufer (Göttingen): Die Kehrseite des Regionalismus. Globale Verpflechtung niedersächsischer Unternehmen im 19. Jahrhundert

Christine van den Heuvel (Hannover): Regionalismus als Anti-Parlamentarismus. Die Instrumentalisierung der Provinzialstände im Königreich Hnnover

Harald Lönnecker (Koblenz): „Erfinder“ des regionalen Selbstbewusstseins? Studenverbindungen als Vorreiter

Manfred von Boetticher (Hannover): Landschaftliche Identitätsbildung im 19. Jahrhundert in Niedersachsen


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts