Die Syrische Steppe: Innen- und Außenansichten eines Geschichtsraums. Werkstattgespräch des Sonderforschungsbereichs 586 „Differenz und Integration“ in Zusammenarbeit mit der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies

Die Syrische Steppe: Innen- und Außenansichten eines Geschichtsraums. Werkstattgespräch des Sonderforschungsbereichs 586 „Differenz und Integration“ in Zusammenarbeit mit der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies

Organisatoren
Sonderforschungsbereich 586, „Differenz und Integration“, Universität Leipzig /Universität Halle-Wittenberg
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.05.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Johann Büssow, Orientalisches Institut, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Christian Hoffmann, Freie Universität Berlin

Am 16. Mai 2011 kamen auf Einladung des Sonderforschungsbereichs 586 und der Organisatoren JOHANN BÜSSOW (Halle) und THORSTEN SCHOEL (Leipzig) neun Wissenschaftler verschiedener Disziplinen zusammen, um in einem ganztägigen Werkstattgespräch, aufgeteilt in drei Arbeitsblöcke neue Forschungsergebnisse aus dem Bereich der ländlichen Geschichte Syriens zu präsentieren. Der Titel der Veranstaltung: „Die Syrische Steppe als Geschichtsraum“ war programmatisch gedacht. So wurde der Begriff „Steppe“, wie die Organisatoren in ihrer Einleitung darlegten, bewusst in Abgrenzung zum Terminus „Wüste“ gewählt, bei dem Assoziationen zu vollariden Wüstengebieten wie der Sahara Nordafrikas mitschwingen. Die Syrische Steppe hingegen ist kein „Meer ohne Wasser“ (Fernand Braudel) sondern, dem Wortsinn des arabischen Terminus badiya entsprechend, ein „offenes Land“, in dem es seit alters her Weidewirtschaft, Handel und Ackerbau gegeben hat. Das zentrale Thema des Tages war das Zusammenspiel von Konstanten und Variablen im Geschichtsraum „Syrische Steppe“. In der historischen Langzeitperspektive, so die Organisatoren, zeige sich nämlich eine hohe Konstanz von Identitätskonstruktionen, sozialen Institutionen und Herrschaftsformen in diesem Raum. Zu nennen seien hier unter anderem beduinische Wertvorstellungen und Beduinen-Stereotypen, Genealogien, Gewohnheitsrecht und Stammeswesen. Diesen dauerhaften Diskursen und Institutionen stehe allerdings eine große Vielfalt von konkreten Lebensformen gegenüber, die nur in Einzelstudien erfasst werden könnten. Der Raum „Syrische Steppe“ wurde im Zusammenhang des Werkstattgesprächs primär als Aktions- und Interaktionsraum verstanden. Somit wurden auch Gebiete mit einbezogen, die im Allgemeinen nicht zum geographischen Gebiet der Syrischen Steppe gezählt werden, wie die irakische Jazira oder die libanesische Bekaa-Ebene.

Der Tag wurde mit zwei Überblicksvorträgen eröffnet. Den ersten Beitrag lieferte STEFAN LEDER (Beirut / Halle an der Saale). Am Beispiel der letzten großen „Nordwanderung“ von Beduinengruppen aus der Arabischen Halbinsel nach Syrien zwischen dem ausgehenden 17. und der Mitte des 19. Jahrhunderts stellte er seinen Ansatz vor, die, so wörtlich, „Flut beduinischer Literatur“, die in den letzten Jahrzehnten auf den Markt gekommen ist, auszuwerten, ernst zu nehmen und als Quelle für die historische Forschung zugänglich zu machen. Dadurch, so Leder, erfahre man viel über die beduinische Selbstsicht - ja, die Geschichte dieser „Völkerwanderung“ sei ohne die zeitgenössische beduinische Historiographie gar nicht zu schreiben. Die Schwierigkeit bei dieser Arbeit bestehe darin, bruchstückhafte Überlieferungen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen und die in diesen Texten verwendeten Topoi zu identifizieren. Im zweiten Vortrag ging es KURT FRANZ (Halle) um Perioden und Stimuli der syrischen Beduinengeschichte. Er arbeitete heraus, dass Beduinen nicht ausschließlich sekundär in Erscheinung getreten seien, sondern hervorgerufen durch die innere Dynamik ihrer Gesellschaften selbst Akzente gesetzt hätten. Ausgehend vom Kriterium des „Wandels“ teilte er die beduinische Geschichte in neun Epochen ein und kam zu dem Ergebnis, dass kaum eine von ihnen mit der üblichen dynastischen Periodisierung der arabischen Geschichte zusammenfiele. Nicht zuletzt wurde deutlich, dass das hartnäckige Vorurteil, beduinische Gesellschaften hätten sich von der Antike bis in die Moderne kaum verändert, nicht zu halten ist.

Im zweiten Panel ging es um die Syrische Steppe als Rechtsraum. Obwohl in Damaskus zehntausende von Gerichtsakten archiviert sind, konnte ASTRID MEIER (Halle an der Saale) nur etwa 30 Fälle aus dem 17. bis 19. Jahrhundert finden (vorwiegend aus den Gerichtshöfen von Hama und Damaskus), in denen Beduinen eine Rolle spielen. Um diese seltenen und oft erratischen Zeugnisse der Interaktion zwischen Beduinen und ihren sesshaften Nachbarn besser kontextualisieren zu können, zog sie juristische Schriften heran. Darunter befand sich eine Fatwa des einflussreichen palästinensischen Gelehrten Khayr al-Din al-Ramli aus dem 17. Jahrhundert, welche eindrücklich die in der Literatur seiner Zeit vorherrschende negative Außensicht auf die Beduinen veranschaulicht und mit der klaren Botschaft endet, man müsse diese „bekämpfen wie Ungläubige“. Die Gerichtsdokumente zeigen aber, dass auch Beduinen ihr Recht vor dem Gericht geltend machen konnten. In diesem Zusammenhang warf Meier die Frage auf, warum und zu welchen Gelegenheiten Beduinen osmanische Gerichte nutzten. CHRISTIAN SAßMANSHAUSEN (Berlin) präsentierte ein ähnliches Sample von Fällen aus den Akten des Schariagerichtshofes von Tripolis für das ausgehende 19. Jahrhundert. Auch hier wird bereits durch die geringe Zahl der Fälle deutlich, dass die beduinische Bevölkerung vorwiegend andere Formen der Rechtsprechung genutzt haben muss. Ein besonders auffälliges Ergebnis war, dass man anhand der Akten oft gar nicht beantworten kann, ob es arabischsprachige Beduinen waren, die dort als ‘arab bezeichnet wurden, denn es gab Fälle, in denen auch Turkmenen, Bewohner von Tripolis oder Ackerbauern aus dem Umland mit dieser Markierung belegt wurden. Abgeschlossen wurde der Arbeitsblock durch einen Beitrag von AHMED ABDELSALAM (Kairo), der darlegte, dass beduinisches Gewohnheitsrecht ein Konzept ist, dass sich sowohl von islamischem als auch von staatlichem Recht abgrenze. Letztlich ginge es dabei immer um Wiedergutmachung im Sinne der Wiederherstellung des alten Zustandes, nicht um Bestrafung. Basierend auf einer Verbindung von Textstudium und ethnologischer Beobachtung formulierte Abdelsalam einige Hypothesen, die die selektive Nutzung der osmanischen Schariagerichtshöfe erklären könnten. So sei es sinnvoll, anzunehmen, dass mindestens in einigen der beschriebenen Streitfälle um Eigentum bereits eine Vermittlung auf Basis des Gewohnheitsrechts stattgefunden habe. Die Streitparteien hätten anschließend ihren Rechtsstreit als „Inszenierung“ vor Gericht aufgeführt, um eine schriftliche Urkunde zu erwerben, die die Eigentumsverhältnisse dokumentierte.

Im letzten Arbeitsblock stellten KATHARINA LANGE (Berlin), THORSTEN SCHOEL (Leipzig), CHRISTOPH LANGE (Leipzig) und JOHANN BÜSSOW (Halle) die syrischen Beduinenstämme der Welde, der Hasana, der Nu‘aym und der Sba‘a aus ethnologischer und historischer Sicht vor und verglichen sie miteinander. Untersucht wurden die Stämme unter den Gesichtspunkten der politischen, ökonomischen und sozialen Ordnung. Kaum eine Beobachtung traf auf alle Stämme gleichermaßen zu, so dass sich schlagend zeigte, dass „Stamm“ eine Kategorie ist, die sich nur in konkreten Kontexten definieren lässt. Verstärkt wird dies dadurch, dass sogar Selbstbezeichnung und Selbstwahrnehmung höchst unterschiedlich sind. In Syrien wird die Lage noch dadurch komplizierter, dass es seit 1958 offiziell keine Stämme mehr gab, die Regierung jedoch faktisch trotzdem ein Interesse an Stammesstrukturen hatte und diese politisch instrumentalisierte. Diese Ambivalenz zeigt sich auch im syrischen Volksaufstand des Frühjahrs 2011, in denen die Stämme auf sehr unterschiedliche Weise involviert waren.

Wie es sich für ein Werkstattgespräch von selbst versteht, konnten kaum Fragen abschließend geklärt werden. Ganz im Gegenteil dürfte jeder Teilnehmer am Ende des Tages mehr Fragen als Antworten mit aus dem Raum genommen haben. Doch dies spricht für, nicht gegen die Qualität der Veranstaltung. Neben der Präsentation ungewöhnlicher Fallstudien zur ländlichen Geschichte Syriens bestand der Hauptertrag des Tages darin, eine ganze Reihe Selbstverständlichkeiten und Mythen in Frage gestellt zu haben. Dies begann bereits mit der Einführung, in der „Steppe“ bzw. „offenes Land“ als neue Termini eingeführt wurden. Durch den ganzen Tag hindurch wurde dann aufgezeigt, wie beduinische Gesellschaften vom Mittelalter bis in die Gegenwart vielerlei Transformationen unterworfen waren.

Bis auf Weiteres dürfte die Hauptschwierigkeit weiterhin darin bestehen, wie man Kategorien wie ‚Stamm‘ oder ‚Beduine‘ fassen soll. Einerseits wurde während des Werkstattgesprächs deutlich, dass es zwischen beduinischen Gemeinschaften oft mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten gibt, andererseits wurde genauso klar, dass wir die Geschichte der Syrischen Steppe ohne diese Begriffe nicht schreiben können. Es wurde wiederholt positiv angemerkt, dass keiner der Teilnehmer/-innen auf den postmodernen Zug aufgesprungen ist, Termini aus Gründen der political correctness aus der wissenschaftlichen Diskussion zu verbannen. Vielmehr sei durchgehend versucht worden, diese Terminologie grundlegend zu hinterfragen und neu zu fassen. Dies sei mit Sicherheit wesentlich arbeitsintensiver, dafür aber auch ertragreicher. Hierbei sei es wichtig, von statischen Definitionen Abstand zu nehmen, sondern genau zu beobachten, wie ein Referenzsystem einschlägiger Kategorien Begriffe flexibel in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt wird. Eine Konsequenz hieraus ist, dass fast nie exklusive Zugehörigkeiten gibt. Beispielsweise stellt es keinerlei Widerspruch dar, sich wie die von Thorsten Schoel beschriebenen Hasana-Scheichs gleichzeitig als Beduine und Bürger der Stadt Homs zu definieren. Dass diese Ambivalenzen nicht erst ein neuzeitliches Phänomen darstellen, ließ sich gut an den Gerichtsakten von Tripolis nachvollziehen, die demonstrieren, dass der Begriff ‘arab im 19. Jahrhundertsehr flexibel gehandhabt wurde.

Die mit etwa fünfzig Zuhörern gut besuchte Tagung bot somit zahlreiche Denkanstöße. Ein wesentlicher Grund dafür war die interdisziplinäre Anlage der Veranstaltung, die einen Dialog zwischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern unterschiedlicher Spezialisierung ermöglichte. Deutlich wurde auch, dass die Thematik nicht nur von historischem und akademischem Interesse ist, sondern gravierende Auswirkung auf die jüngsten politischen Ereignisse in der Region hat. Wer sind die Scheichs im Parlament von Damaskus? Wer demonstriert auf den Straßen und in welchem Verhältnis steht Stammeszugehörigkeit zu politischer Positionierung? Hierzu würde man sich eine Fortsetzung der Veranstaltung wünschen, vielleicht mit einem Politikwissenschaftler unter den Referenten.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Gudrun Krämer (Freie Universität Berlin).

Einführung: Johann Büssow (Halle) und Thorsten Schoel (Leipzig)

Die Syrische Steppe als Geschichtsraum

Stefan Leder (Orient Institut Beirut / Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Die Steppen Syriens: Beduinische „Landnahmen“ und ihre Legitimation

Kurt Franz (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Perioden und Stimuli der syrischen Beduinengeschichte seit 600

Schariagerichtshöfe als Orte der Interaktion zwischen nomadischen und sesshaften Akteuren

Astrid Meier (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Die Syrische Steppe als Rechtsraum: Außensichten

Christian Saßmannshausen (Freie Universität Berlin): Beduinen vor dem Schariagerichtshof von Tripolis

Ahmed Abdelsalam (Orient Institut Beirut, Büro Kairo): Das beduinische Rechtssystem und Voraussetzungen seiner Praxis

Die Vielfalt lokaler Gemeinschaften und Lebensformen: Vier Beduinenstämme im Vergleich

Katharina Lange (Zentrum Moderner Orient, Berlin): Die Welde.

Thorsten Schoel (Universität Leipzig): Die Hasana

Christoph Lange (Universität Leipzig): Die Nu’aym

Johann Büssow (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg): Die Sba‘a