Patientinnen und Patienten in der Geschichte der Medizin

Patientinnen und Patienten in der Geschichte der Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.04.2011 - 08.04.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Bruns, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Ein rundes Jubiläum feierte dieses Jahr das traditionelle Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung. Zum 30. Mal trafen sich Nachwuchswissenschaftler1 und Experten aus dem Bereich Medizingeschichte und verwandten Fachgebieten. Vom 5. bis 8. April 2011 erörterten die Teilnehmer aktuelle Perspektiven der Patientengeschichte – ein Thema, das bereits früh zu den vom Stuttgarter Institut bearbeiteten Forschungsfeldern gehörte, wie der Institutsleiter Robert Jütte in seiner einleitenden Begrüßung hervorhob.

Ein Ziel des Seminars war es, das Erleben und Empfinden der Patienten in den Fokus der lange Zeit durch den ärztlichen Blick dominierten Medizinhistoriografie zu richten. Wie um die Relevanz des Themas nochmals zu unterstreichen, hatte der Patientenbeauftragte der Bundesregierung noch kurz vor der Tagung das Jahr 2011 zum „Jahr der Patienten“ erklärt.2 Die Vielfalt der Tagungsbeiträge machte das breite Spektrum der Patientengeschichte, die der verstorbene englische Medizinhistoriker Roy Porter als Medizingeschichte „from below“ bezeichnet hatte, sichtbar.

Neben den inhaltlichen Aspekten bildete die Frage nach der Aussagekraft und Verwertbarkeit der Quellen einen Schwerpunkt des Seminars, wie bereits die Vorträge der ersten Sektion („Patientenakten“) deutlich machten. MARION BASCHIN (Stuttgart) rekonstruierte anhand von Krankenjournalen der Münsteraner Homöopathen Clemens und Friedrich von Bönninghausen eine homöopathische Praxis des 19. Jahrhunderts nicht nur in Bezug auf Diagnose und Therapie, sondern auch hinsichtlich der Aushandlungsprozesse zwischen Kranken und Heilern. Daneben ging sie auf die Bedeutung solcher Krankenjournale als wichtige, wenn auch indirekte Quelle für die Patientengeschichte ein. MELANIE RUFF (Wien) gab Einblicke in den Alltag von gesichtsverletzten Soldaten des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Österreich-Ungarn. In Briefen, autobiografischen Notizen und Patientenakten – mit jeweils unterschiedlicher Überlieferungsgeschichte – fand sie sprechende Hinweise nicht nur für die zeitgenössischen Behandlungsmethoden, sondern auch für das Selbstbild und die Lebenskonstruktionen kriegsverletzter Soldaten. Auch CHRISTOPH BARTZ (Heidelberg) führte in seinem Vortrag aus, wie Selbstbeschreibungen von Patienten ihren Niederschlag in Krankenakten finden. Die Krankenblätter eines Reservelazaretts der Psychiatrischen Klinik Heidelberg enthalten neben ärztlichen Eintragungen auch von Patienten oder deren Angehörigen verfasste Dokumente, so dass sich aus diesen Beständen Rückschlüsse auf das Erleben und die Intentionen psychisch erkrankter Soldaten ziehen lassen.

Die zweite Sektion („Briefe“) leitete ANNA URBACH (Magdeburg) ein. Sie skizzierte die Korrespondenznetze epilepsiekranker Patienten der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Uchtspringe Anfang des 20. Jahrhunderts und griff dabei auf Autographen zurück, die in den Krankenakten der Patienten überliefert sind. Urbach untersuchte die vornehmlich an Verwandte außerhalb der Anstalt gerichteten Briefe und Postkarten nicht nur hinsichtlich ihrer formalen Gestaltung, sondern entdeckte in ihnen unter anderem auch Hinweise auf Körperwahrnehmung und Krankheitsverarbeitung der Betroffenen. CHRISTOF BEYER (Hannover) gelang es, anhand der umfangreichen Schriften und Briefe eines psychiatrischen Patienten der Anstalt Klingenmünster die Rolle der sogenannten „aktiveren Krankenbehandlung“ innerhalb der Psychiatrielandschaft der 1920er- und 1930er-Jahre plastisch darzustellen – gleichsam ein Blick hinter die Kulissen der damaligen Anstaltspsychiatrie in Deutschland. Der subjektiven Perspektive auf die jeweils eigene Erkrankung ging auch PHILIPP EISELE (Stuttgart) nach, indem er erste Ergebnisse einer Auswertung von Briefen an den naturheilkundlich orientierten Verein „Natur und Medizin e.V.“ präsentierte und individuelle Strategien der Bewältigung von Krankheit nachzeichnete. Deutlich wurden dabei auch die Schwierigkeiten einer quantifizierenden Ergebnisdarstellung. MATTHIAS ZAFT (Halle) beschäftigte sich in seinem Beitrag, der gleichzeitig eine Art Zwischenfazit des ersten Seminartages bildete, auf einer Metaebene mit dem Erkenntniswert von Dokumenten, die auf den Patienten selbst oder Dritte (z.B. Ärzte) zurückgehen. Neben der Frage nach der Urheberschaft und der damit verbundenen Perspektive könne, so Zaft, für die medizinhistorische Forschung auch ein übergreifender, primär sprachlich-narrativer Zugriff auf diese Quellengattung sinnvoll sein, der unter anderem die jeweilige Motivlage der Schreibenden in den Blick nimmt.

Eingaben, Petitionen oder Bittschriften als wertvolle Quelle der Medizin- bzw. Patientengeschichte standen im Mittelpunkt der dritten Sektion („Eingaben“). Durch Sichtung und Auswertung unter anderem von Gerichts- und Entschädigungsakten gelang es SUSANNE DOETZ (Berlin), die Lebenswirklichkeiten zwangssterilisierter Frauen während des Nationalsozialismus zu rekonstruieren. Dabei wurde deutlich, mit welchen Argumenten betroffene Frauen gegenüber den gesundheitspolitischen Instanzen des NS-Staates versuchten, ihre Sterilisierung zu verhindern, und in welcher Weise sie Krankheits- und Körperkonzepte der damaligen Zeit offen in Frage stellten. JENNY LINEK (Greifswald) arbeitete vor dem Hintergrund des DDR-Gesundheitssystems, das stark auf die Prävention von Krankheiten ausgerichtet war, die Diskrepanz zwischen staatlichem Wollen und gesellschaftlich empfundener Realität heraus. Die von ihr herangezogenen Quellen, neben gedruckten Interviews, Brigadebüchern und Briefen auch Eingaben an Behörden, vermitteln einen Eindruck von der „gelebten Gesundheit“ in der DDR. Die Alltagswelt von Patienten im real existierenden Sozialismus beschäftigte auch FLORIAN BRUNS (Erlangen). Er sichtete einen umfangreichen Bestand an Eingaben, die sich an das Zentralkomitee der SED richteten, um herauszufinden, wie Patienten in der DDR ihre Beschwerden und Interessen gegenüber Ärzteschaft, Krankenhäusern oder anderen Institutionen des Gesundheitswesens zur Geltung brachten, und auf welche sprachlichen Mittel sie in ihren Eingaben zurückgriffen.

„Begegnungen“ lautete der Titel der abschließenden vierten Sektion des Seminars. FRANK KRESSING (Ulm) stellte seine Analyse des Patientenverhaltens in der bolivianischen Kallawaya-Region vor. Eine Kombination aus statistischen Erhebungen und teilnehmender Beobachtung ermöglichte ihm Einblicke in den lokalen Gesundheitsmarkt einer Region, die einerseits durch eine hohe Dichte indigener Medizinmänner und -frauen charakterisiert ist, andererseits aber auch großen Bedarf an westlich orientierter Medizin aufweist. Das Referat von CATARINA CAETANO DA ROSA (Aachen) fußte auf narrativen biografischen Interviews mit Patienten, die sich einer robotergestützten Hüftoperation unterzogen und dabei Schädigungen erlitten hatten. Inspiriert von der Methode der Akteur-Netzwerk-Theorie ging Caetano da Rosa den Wechselwirkungen zwischen Mensch und Maschine nach und lotete das jeweilige Handlungspotenzial (agency) dieser Entitäten aus.

Auf jeden der genannten Vorträge folgten intensive, kritische Diskussionen, die alle Beteiligten als konstruktiv und hilfreich für ihre jeweiligen Forschungsvorhaben empfanden – sei es, um die eigene Methode zu schärfen oder sei es, um auch inhaltlich zu profitieren. Die Abschlussdiskussion konnte, wie so oft, nur einen kleinen Teil der vielfältigen Fragen klären. Schwierige Grundsatzfragen (Was ist ein Patient? Wer definiert ihn? Brauchen wir ein neues Begriffsinventar für die Forschung?) konnten ebenso wenig erschöpfend geklärt werden, wie quellenkritische Fragen: Wie tauchen Patienten in den Quellen auf? Rücken aufgrund der Quellenlage vornehmlich speziell zugespitzte Arzt-Patienten-Verhältnisse wie etwa Zwangsbehandlungen, Kriegsmedizin oder Humanexperimente in den Blick des Historikers? Lassen sich daraus Verallgemeinerungen ableiten? Auch ethische Implikationen wurden kritisch reflektiert: Dürfen Historiker derart private Räume, wie sie sich etwa in psychiatrischen Krankenakten zeigen, überhaupt betreten? Werden Patienten, in der Regel ohne ihr Einverständnis, ein zweites Mal „erforscht“? Uneinigkeit bestand zudem in der Frage, ob in den Aushandlungsprozessen zwischen Ärzten und Patienten Letztere eine eher passive oder aktive Rolle einnehmen.

Die Welt des Patienten bleibt zweifellos ein ebenso spannendes wie vielschichtiges, in weiten Teilen aber auch noch unbekanntes Forschungsfeld. Die im Rahmen der Tagung vorgestellten Projekte gaben wichtige Anregungen für neue Ansätze und Entdeckungen in diesem Bereich der Medizingeschichte. Den Organisatoren des Seminars, Jens Gründler, Sebastian Knoll-Jung, Nadine Metzger und Stefanie Westermann, ist ebenso zu danken wie dem Team des Stuttgarter Instituts. Eine inspirierende Atmosphäre bei sommerlichen Temperaturen trug zum Gelingen der Veranstaltung bei.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Robert Jütte

Krankenakten

Marion Baschin: Von der Macht der „kleinen Leute“ – Die Patienten in den Praxen zweier Homöopathen im 19. Jahrhundert

Melanie Ruff: Gesichtsrekonstruktionen während des Ersten Weltkrieges in der k.u.k. Monarchie. Handlungsspielräume und Lebensentwürfe von Kieferschussverletzten

Christoph Bartz: Selbstbeschreibungen in Krankenakten. Soldaten und ihre Symptome im Ersten Weltkrieg

Briefe

Anna Urbach: „Grüße aus der Ferne!“ – „Im Einvernehmen mit der Kranken zurückgehalten“: Briefliche Korrespondenz der Landes-Heil- u. Pflegeanstalt Uchtspringe
um 1900

Christof Beyer: Normalität durch Arbeit? Die Patientenwahrnehmung der „aktiveren Krankenbehandlung“ in der deutschen Anstaltspsychiatrie der 1920er und 1930er Jahre

Philipp Eisele: Pluralismus in der Medizin am Beispiel der Briefe an „Natur und Medizin e. V.“ (1992-2000)

Matthias Zaft: Lebensberichte, Krankenakten, Tagebücher: Wer oder was erzählt den Patienten?

Eingaben

Susanne Doetz: „Daß uns der liebe Herrgott hat so klein bleiben lassen, nun dafür können wir ja schließlich nichts …“

Jenny Linek: „Potentielle Patienten - Krankheitsverhütung und Gesundheitsförderung in der DDR“

Florian Bruns: Sprachrohr des Unmuts: Eingaben von Patienten als Spiegel der medizinischen Versorgung in der DDR

Begegnungen

Frank Kressing: Patienten, campesinos, Heiler, Ärzte, Sanitäter – Kontrastive Analyse des Patientenverhaltens in der bolivianischen Kallawaya-Region

Catarina Caetano da Rosa: Aspekte des traumatischen Gedächtnisses

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die zusätzliche Angabe der weiblichen Form verzichtet; gemeint sind stets beide Geschlechter.
2 Vgl. Deutsches Ärzteblatt 2011;108(13):C 559.


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