2. Zürcher Werkstatt: 'Historische Bildungsforschung'

2. Zürcher Werkstatt: 'Historische Bildungsforschung'

Organisatoren
Carla Aubry/Michael Geiss/Anne Bosche, Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich; Andrea De Vincenti-Schwab, Universität Bern
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
28.04.2011 - 29.04.2011
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Von
Katharina Schneider, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Zum zweiten Mal trafen sich junge Bildungshistorikerinnen und Bildungshistoriker in Zürich, um ihre Dissertationsprojekte einem diskussionsfreudigen und kritischen Forum vorzustellen. Wie bereits vor zwei Jahren wurde auch in diesem Jahr jungen WissenschaftlerInnen Raum gegeben, die eigene Arbeit vorzustellen und die damit verbundenen Fragen zu artikulieren. Diese Möglichkeit wurde von neun ReferentInnen genutzt, die vor der Aufgabe standen, ihre Dissertation fokussiert auf den Zusammenhang von Fragestellung, Methode und Quellenwahl darzustellen und zu überprüfen. Professionell begleitet wurden die ReferentInnen von Francisca Loetz (Zürich) und Karin Priem (Luxembourg). Nach der Begrüßung und Einführung durch die Organisatoren hieß LUCIEN CRIBLEZ (Zürich) die ReferentInnen und DiskutantInnen mit einem Blick auf die historische Bildungsforschung in Zürich willkommen.

Der erste Block wurde von DANICA BRENNER (Trier) eröffnet, die in ihrem Vortrag „Spätmittelalter und Microsoft-Access. Zur Methodik der Auswertung frühneuzeitlicher Quellen zur Maler-Ausbildung in Augsburg“ zeigte, wie sie in ihrer Dissertation anhand von seriellen und normativen Quellen den zünftisch organisierten Ausbildungsweg von Malern in Augsburg zwischen 1368 und 1548 rekonstruiert. Hier interessiere die Historikerin besonders die Relation von normativen Vorgaben, die sie über Zunftsatzungen der Malerzunftbücher zu fassen suche, und konkreter Praxis, die sich nur schwer über serielle Quellen wie Steuer-, Bürger- und Achtbücher ergreifen ließe. Mit der Hilfe von Microsoft- Access sollen die seriellen Quellen quantitativ ausgewertet werden, wobei sich der Umgang mit unklaren Personenbezeichnungen und nicht eindeutigen Zuordnungen der Handwerksdisziplinen innerhalb der Zünfte in den Quellen als Schwierigkeit erweise. Angeregt wurde in der Diskussion, das Begriffspaar „Ideal und Wirklichkeit“ in historischen Arbeiten eher kritisch zu betrachten.

Einen Zeitsprung in das 17. und 18. Jahrhundert unternahm KRISTINA HARTFIEL (Düsseldorf). Sie untersuche in ihrem Projekt an die Jugend gerichtete historische Lehrwerke dieser Zeit auf die Fragen, inwiefern Geschichte Heranwachsenden vermittelt wurde und historische Lehrwerke Geschichtswissenschaft generierten. Grundlegend sei hier die Auseinandersetzung mit dem damals zeitgenössischen Jugendbegriff. So sei zu fragen, was die Quellen über die Adressaten aussagen können. Auch ein Begriff der Geschichte solle über die geschichtsvermittelnden Texte ermittelt werden. Schließlich stand die Frage nach den Kriterien für die Quellenwahl zur Diskussion. Auch die methodische Ausrichtung der Arbeit wurde reflektiert, wobei der Nutzen und Nachteil der historischen Diskursanalyse angesprochen wurden.

Das Medium Lehrbuch thematisierte auch KERRIN KLINGER (Jena), die ihre fortgeschrittene Dissertation über mathematische Lehrwerke in staatlich beaufsichtigten Schulinstitutionen Weimars zwischen 1770 und 1830 besonders im Blick auf die Herangehensweise an das Material darstellte. Anhand von Lehrbüchern und Verwaltungsakten rekonstruiere sie den Verwendungskontext der Lehrmittel auch im Hinblick auf schichtspezifische Anforderungsprofile. Damit solle die Frage reflektiert werden, wie der mathematische Unterricht schulspezifisch gestaltet wurde. Dabei setzte sich Klinger in ihrem Vortrag offensiv mit der Frage der Aussagekraft ihrer Quellen und deren Auswahl auseinander.

SABINE KRAUSE (Wien) verband bildungsphilosophische- und historische Aspekte in ihrem Beitrag „Performativität und Reflexivität – Methodische Annäherung an Tradierung“, indem sie Bildung in Anlehnung an Moses Mendelssohn als Performativität und Reflexivität interpretierte. Diese bildungsphilosophischen Überlegungen sollen in ihrer Dissertation anhand von Erlebnisberichten jüdischer Wandergruppen in Berlin zwischen 1913 und 1917 geprüft werden mit dem Ziel, jüdische Formen des Erlebens und Tradierens zu ergründen. Fahrtenberichte einzelner Jugendlicher des jüdischen Wanderbundes „Wanderbund Blau-Weiß Berlin“ seien hier wichtige Quellen, die Krause exemplarisch vorführte und in Bezug auf den vorgestellten Bildungsbegriff analysierte. Seitens des Plenums wurde auf die Schwierigkeit der Kombination von bildungsphilosophischen und -historischen Ansätzen hingewiesen und angeregt, von einem normativen Bildungsbegriff Abstand zu nehmen, um vielmehr den überaus interessanten Quellenkorpus in das Zentrum der Arbeit zu stellen.

Mit der Frage, wie der Prüfling und seine Leistung als Gegenstand der Erkenntnis entstanden seien, setzte sich NILS LINDENHAYN (Mainz) im abschließenden Vortrag des ersten Tages auseinander. Dabei untersuche er in seiner Dissertation die Frage, wie sich die Idee, die Kulturtechnik des Prüfens als zentrales Mittel der Differenzierung zu nutzen, im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert durchsetzen konnte. Er fokussiere die Frage aus zwei Perspektiven: Zum einen rekonstruiere er Debatten, die über Prüfungen als Medium schulischer Differenzierung geführt wurden, andererseits die konkreten schulischen Praktiken, um letztlich den Prozess der „Entdeckung der Prüfung“ als nicht linearen Prozess darzustellen. Quellen der Arbeit seien pädagogische Veröffentlichungen des 18. und 19. Jahrhunderts, Zeugnisse, Schülerakten, Prüfungsprotokolle und Klassenarbeiten. In der Auseinandersetzung über die Definition des Gegenstandes „Prüfung“ wurde vorgeschlagen, den Fokus stärker auf konkrete Rituale des Prüfens an spezifischen Schulformen zu lenken und zeitliche und regionale Eingrenzungen vorzunehmen.

Mit einem Beitrag zu „Bildung in den jüdischen Ghettos im zweiten Weltkrieg“ eröffnete HANNA SCHLECHTER (Hamburg) den folgenden Tag. Nach einer ersten Sichtung von Literatur und Quellen gehe sie über Annahmen der Literatur hinaus, indem sie thesenhaft formuliere, dass Bildung und Erziehung nicht nur geistigen Widerstand, Eskapismus und Überlebenssicherung bedeuteten, sondern auch im Ghetto in ihrer gesellschaftlichen Funktion betrachtet werden müssen. Die damit zusammenhängende Beantwortung der Frage, inwiefern unter den Extrembedingungen in einem Ghetto von einer gesellschaftlichen Funktion von Bildung und Erziehung gesprochen werden könnte, stelle eine besondere Herausforderung dar. Auf dem Hintergrund ihrer These entwarf sie ein Interpretationsschema, das der Quellenanalyse dienen solle und dem Plenum vorgestellt wurde. Hier wurde gefragt, inwiefern die analytischen Kategorien dem Gegenstand gerecht werden könnten.

VERONIKA WABNITZ (Potsdam) hingegen lenkte den Blick auf die Nachkriegszeit und stellte sich dem Anspruch einer ungeteilten Berliner Nachkriegsgeschichte am Beispiel der Schulpolitik zwischen 1948 und 1961. So eröffnete sie ihren Vortrag mit einem Blick auf die geteilte und kooperierende Geschichtsschreibung, wobei sich im letzteren Gebiet eher ein Forschungsdesiderat aufzeigen ließe dem sie entgegenwirken möchte. So stellte sie zwei Konzepte, die „asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“ nach Kleßmann und die „histoire croisée“ von Werner und Zimmermann zur Diskussion mit der Frage, inwiefern diese nutzbringend sein könnten für den Versuch einer integrierten Berliner Schulgeschichte. Dabei möchte Wabnitz sich weniger für einen Ansatz entscheiden, als vielmehr beide kombinieren. So ermögliche das Konzept der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“ die Verbindung von systematischen und chronologischen Elementen anhand spezifischer Leitlinien der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die „histoire croisée“ hingegen ermögliche mit ihrem Ansatz einer „induktiven Pragmatik“ den Blick auf die individuelle Beobachter- und Akteursebene.

Z. ECE KAYA (Frankfurt a.M.) stellte ihre Dissertation unter dem Vortragstitel „Weiße Grenzen – Bildungsinstitutioneller Umgang mit ideengeschichtlich-politischen Konflikten als Frage humanistischer Bildung am Beispiel des Verhältnisses von Europa zu Afrika“ vor. Sie setze sich damit auseinander, wie deutsche, „weiße“ Institutionen der politischen Bildung mit menschenrechtlichen Normen in ihrer Darstellung von Flüchtlingen aus Afrika umgehen. Dabei fokussiere sie insbesondere die Widersprüche zwischen Menschenrechten und deutschen Institutionen politischer Bildung. Quellenbasis seien zwischen 2005 und 2010 erschienene Publikationen der Institutionen der Bundeszentrale für politische Bildung und Pro-Asyl, die sie anhand der kritischen Diskursanalyse untersuche. Anliegen ihres Vortrags war die Diskussion der historischen Kontextualisierung ihrer Arbeit, die Kaya besonders auf die NS-Kolonialpolitik und die damit verbundenen pädagogischen Konzepte konzentrieren wolle. Hier wurde vorgeschlagen, den historischen Rekurs nicht selektiv auf eine Phase und hervorstechende Akteure zu konzentrieren, sondern den Blick auf das breitere Spektrum der Kolonialvergangenheit und den Postkolonialismus zu weiten.

Das abschließende Referat hielt LUKAS MÖLLER (Kassel), der seine weit fortgeschrittene biographische Forschung zum Theologen und Pädagogen Hermann Schafft (1883-1959) als „Mann aus der zweiten Reihe“ präsentierte. Als wichtigen Teil seiner Arbeit stellte er seinen Umgang mit der Fragestellung der Bedeutung der Lebensführung für das pädagogische Engagement Schaffts vor, wobei besonders methodische Aspekte in den Blick genommen wurden. Dabei gehe es ihm um das Auffinden von Denk- und Handlungsmaximen, die den Zusammenhang von Lebensführung und pädagogischem Handeln ergründen könnten. Quellenbasis sei der nicht lückenlos vorhandene Nachlass Schaffts und von ihm verfasste Artikel in der Zeitschrift Neuwerk zwischen 1923 und 1935. Dabei betonte Möller ausdrücklich, über Brüche zugunsten einer biographischen Kontinuität keinesfalls hinwegsehen zu wollen. Vielmehr könne es sich lediglich um eine biographische Annäherung handeln.

Weniger einen Rückblick als vielmehr den Versuch eines Vorblicks unternahm FRANCISCA LOETZ in ihrem abschließenden optimistischen Resumée der Tagung. Sie ermutigte die ReferentInnen und DiskutantInnen zu eigenen Entscheidungen und Durchhaltevermögen. Auch warnte sie davor, einen eher abstrakten Bildungsbegriff als analytische Kategorie an das historische Material heranzutragen. Insgesamt regte sie an, den Schritt zur Quellenanalyse bereits früh zu wagen und in deren Auswahl bewusste Entscheidungen zu treffen. Dabei lohne es sich, den gewohnten Blick zu ändern und sich von „Darlings“ zu verabschieden, was oftmals zu einer ertragreichen Änderung der Perspektive führe. Angst vor neuen Problemen solle man dabei nicht haben – denn auch die Erkenntnis und Offenlegung von Problemen seien lohnenswerte Forschungsergebnisse.

KARIN PRIEM kommentierte die Tagung eher aus inhaltlicher Perspektive der Historischen Bildungsforschung. Bemerkenswert sei, dass weniger große institutionengeschichtliche Arbeiten vorgestellt wurden als vielmehr mikrohistorische Projekte. Dabei habe es eine Bewegung hin zur neueren Kulturgeschichte gegeben. Medien, Textträger, Praktiken und Techniken der Berufsbildung standen im Fokus vor dem Hintergrund der Bemühung, große Meisternarrative aufbrechen zu wollen und ideologische Schablonen zu vermeiden. Auch sie machte Mut, bereits früh mit der Quellensichtung zu beginnen und lobte die thematische Vielfalt der vorgestellten Projekte.

Auch dieses Jahr erwies sich die Werkstatttagung als sehr erfolgreiches Unternehmen. Der kleine Rahmen des Plenums wurde von den ReferentInnen und DiskutantInnen für ertragreiche und offene Diskussionen ausgiebig genutzt. Dabei wurde wiederkehrend die Frage der Auswahlkriterien für die Quellen, die Relation von Theorie und Praxis und die Gefahren analytischer Kategoriebildungen diskutiert. Besonders problemorientiert wurde debattiert, inwiefern philosophische und soziologische Fragen historisch beantwortet werden könnten. Hier war der interdisziplinäre Charakter der Tagung hilfreich. Denn so wurde besonders deutlich, dass jede Disziplin unterschiedliche Fragen stellt, die manchmal nur schwer oder nicht miteinander zu kombinieren seien, jedoch den Blick weiten und ein Bewusstsein schaffen würden für die Vieldimensionalität, die im jeweiligen Gegenstand angelegt sei. Abschließender Tenor des Plenums war das Lob der Tagungsorganisation und die Forderung, das Werkstattformat auch künftig beizubehalten.

Der ehrliche Umgang mit Problemen und die Möglichkeit, andere Arbeiten in dieser Weise kennenzulernen, sorgte für eine überaus angenehme Arbeitsatmosphäre, wozu besonders die hilfreichen und kritischen Kommentare der Expertinnen Francisca Loetz und Karin Priem beitrugen. Auch die ReferentInnen und DiskutantInnen zeigten sich engagiert, so dass die TeilnehmerInnen insgesamt motiviert für ihre eigenen Forschungsprojekte die Heimreise antraten.

Konferenzübersicht:

Danica Brenner (Trier): Spätmittelalter und Microsoft-Access. Zur Methodik der Auswertung frühneuzeitlicher Quellen zur Maler-Ausbildung in Augsburg

Kristina Hartfiel (Düsseldorf): Historia magistra vitae? Geschichtsauffassung und Geschichtsvermittlung in historischen Lehrwerken für die Jugend (17. und 18. Jahrhundert)

Kerrin Klinger (Jena): Das Mathematikbuch im Gebrauch. Mathematische Lehrwerke an Weimarer Schulen um 1800

Sabine Krause (Wien): Performativität und Reflexivität – Methodische Annäherung an Tradierung

Nils Lindenhayn (Mainz): Die Entdeckung der Prüfung. Zur historischen Soziologie der schulischen Differenzierung

Hanna Schlechter (Hamburg): Bildung in den ‚jüdischen’ Ghettos im zweiten Weltkrieg

Veronika Wabnitz (Potsdam): „Asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte“ oder „histoire croisée“? Der Versuch einer ungeteilten Berliner Nachkriegsgeschichte am Beispiel der Schulpolitik zwischen 1948 und 1961

Z. Ece Kaya (Frankfurt a.M.): Weiße Grenzen – Bildungsinstitutioneller Umgang mit ideengeschichtlich-politischen Konflikten als Frage humanistischer Bildung am Beispiel des Verhältnisses von Europa zu Afrika

Lukas Möller (Kassel): Die Bedeutung der Lebensführung für das pädagogische Engagement – Eine biographische Annäherung an Hermann Schafft

Francisca Loetz (Zürich) und Karin Priem (Luxembourg): Kritischer Tagungsrückblick


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