Exil und Netzwerke. Die politische und gewerkschaftliche Emigration in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs

Exil und Netzwerke. Die politische und gewerkschaftliche Emigration in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs

Organisatoren
Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn; Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.04.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Kristina Blömer, Kassel

Am 18. April 2011 veranstalteten die Friedrich-Ebert-Stiftung und die Hans-Böckler-Stiftung in Berlin die Tagung „Exil und Netzwerke. Die politische und gewerkschaftliche Emigration in Großbritannien während des Zweiten Weltkrieges“. Ziel der Veranstaltung war es, die deutschsprachige, politische, kulturelle und gewerkschaftliche Emigration erneut in den Fokus der Forschung zu rücken. Die politischen Gruppen und Einzelpersonen wurden nicht im engen Zeitfenster der Migration analysiert. Vielmehr wurden auch die sozialen, lebensgeschichtlichen, kulturellen und politischen Erfahrungen vor und nach der Emigration beachtet. Im Vordergrund standen dabei drei Fragen: Unter welchen Voraussetzungen entstanden die politischen Netzwerke? Wie waren die Netzwerke organisiert und wie können die Wirksamkeit und Grenzen der Netzwerke gemessen werden? Untersucht wurden ebenfalls die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Emigranten, der Ideentransfer zwischen der Labour Party und der Sozialdemokratie sowie zwischen den deutschen und britischen Gewerkschaften. Und schließlich die Nachhaltigkeit und das Fortbestehen der Netzwerke nach 1945. PATRIK VON ZUR MÜHLEN (Bonn) eröffnete die Tagung und sprach im Namen der Internationalen Gesellschaft für Exilforschung ein Grußwort.

LUDWIG EIBER (Augsburg) stellte in seinem Impulsvortrag zusammenfassend Großbritannien als Gast- und Exilland für deutschsprachige politische Flüchtlinge während der nationalsozialistischen Diktatur vor. Er zeigte die Möglichkeiten und Grenzen von Gruppenbildungen, Selbstorganisation und Partizipation im Widerstand gegen Hitler in einem Land auf, dass unter den Sonderbedingungen des Krieges und in seiner Rolle als Kriegspartei eine ambivalente Flüchtlingspolitik betrieb. Flüchtlinge wurden einerseits als Partner im Aufklärungs- und Propagandakampf gegen den Nationalsozialismus begriffen und eingesetzt, andererseits wurden sie als „innere Feinde“ oder „feindliche Fremde“ stigmatisiert. Die Organisations- und Handlungsspielräume des politischen Exils hingen insofern nicht nur von der Bereitschaft ab, sich international zu vernetzen, sondern auch von der Bereitschaft, mit den britischen Behörden zu kooperieren. Die „Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien“ und die „Landesgruppe der deutscher Gewerkschafter in Großbritannien“ bildeten die wichtigsten Zusammenschlüsse von deutschsprachigen Migranten. Die Arbeit in der Union und der Landesgruppe war von Konflikten gekennzeichnet, da jede Partei und Organisation ihre Eigenständigkeit bewahren wollte und inhaltliche Differenzen zwischen den Protagonisten bestanden. Obwohl sich viele Netzwerke der Emigranten nach 1945 auflösten oder zerbrachen, konstatierte Eiber, dass der Einfluss der Remigranten aus Großbritannien auf das Nachkriegsdeutschland nicht zu unterschätzen sei, da diese viele Schlüsselpositionen in der SPD und den Gewerkschaften besetzten.

Der erste Themenblock behandelte Probleme der Selbstorganisation und -behauptung und der Fremdbestimmung politischer Flüchtlinge in Großbritannien. Durch Jennifer Taylor und Peter Pirker wurde der internationale Forschungsstand vorgestellt. SWEN STEINBERG (Dresden) stellte die Konflikte des Netzwerks um den sächsischen Gewerkschafter Rolf Maaß in den Mittelpunkt seines Vortrags, an denen er exemplarisch eine Analyse von Netzwerken vornahm. So fragte er nach der Konsistenz des Netzwerks, dessen Umwelt und seiner Kontinuität beziehungsweise Diskontinuität nach Kriegsende. Aus der Untersuchung ging hervor, dass die Forschung in Zukunft die lokale und regionale Prägung der Akteure stärker einbeziehen sollte, da sich das sächsische Netzwerk ohne seine gemeinsame Vorgeschichte in Großbritannien nicht zusammengefunden hätte und zahlreiche, zumeist interpersonale Konfliktlinien in die Zeit vor 1933 zurückreichten. In jenem Längsschnitt liege dann auch das Potential zur Weiterführung des Netzwerkansatzes in der nachexilischen Zeit, seien doch neben Brüchen hier auch Kontinuitäten und neue Gruppenbildungen nach alten Mustern zu beobachten. JENNIFER TAYLOR (London) konzentrierte sich auf Hans Vogel, den SPD-Vorstand und die Kooperation der SPD mit der Labour Party und den britischen Behörden. Ausgehend von Vogels Ankunft im Londoner Exil schilderte Taylor sehr detailliert die Beziehungen zwischen dem deutschen SPD-Vorstand und der britischen Regierung sowie den Behörden. Sie konnte so verdeutlichen, dass das Verhältnis der beiden Parteien sehr konfliktreich war. Besonders in den ersten Jahren im Exil konnte die SPD keinen wirklichen Einfluss auf die britische Politik nehmen, dennoch oder gerade deswegen war die SPD in der Lage, ihr Parteiprogramm zu modernisieren. Wie es zur Zusammenarbeit zwischen revolutionären Sozialisten aus Österreich und dem konservativen britischen Geheimdienst Special Operations Executive (SOE) kam, und wie sich diese Kooperation auf die Transformation der politischen, ideologischen und strategischen Positionen der Österreicher ausgewirkt hatte, schilderte PETER PIRKER (Wien).Wie auch in den vorherigen Vorträgen beschrieb er, dass ein erfolgreiches Netzwerk oft von guten persönlichen Kontakten abhing. Darüber hinaus stellte er fest, dass die Transformation der österreichischen Positionen oft aus pragmatischen und persönlichen Gründen erfolgte. Und die Adaption von britischen Ideen und Vorstellungen wie z.B. ein unabhängiges Österreich, den Emigranten weiterhin Einfluss innerhalb der britischen Institutionen versprach. Viele Emigranten, welche mit der SOE zusammengearbeitet hatten, besetzten nach 1945 wichtige Schlüsselpositionen und traten für die Westintegration Österreichs ein.

Die zweite Sektion des Tages untersuchte die politischen Strategien, den Ideentransfer und die transnationale Netzwerkarbeit. KRISTINA SCHULZ (Bern) verglich in ihrem Vortrag Großbritannien und die Schweiz in ihrem Umgang mit literarischen Flüchtlingen. Ihr Fokus lag auf der restriktiven Aufnahmepraxis und dem Selbstverständnis der beiden Staaten, sich als Transitländer zu verstehen. Im Umgang mit den deutschen Emigranten befanden sich die schweizerischen Schriftstellen im so genannten Double-bind: Einerseits fühlten sie sich den deutschsprachigen Schriftstellern moralisch verpflichtet, was die Gewährung von Asyl einschloss. Andererseits lehnten sie die Aufnahme von deutschsprachigen Literaten ab, da sie die Konkurrenz fürchteten. Für Großbritannien traf dieser Zwiespalt nicht zu. Obwohl sich Großbritannien und die Schweiz in ihrer Aufnahmepraxis voneinander unterschieden, teilten sie die Widersprüchlichkeit einer traditionell liberalen Einreisepraxis und einer strengen Auslegung der Asylpolitik in den 1930er- und 1940er-Jahren. RAINER BEHRING (Köln) erläuterte die Entstehung der Richtlinien für ein Nachkriegskonzept der Londoner Union. Die Eckpfeiler des Programms formulierten ein gleichberechtigtes Deutschland und Frieden in Europa durch eine europäische und globale Friedensordnung. Doch betonte Behring, das diese Eckpunkte widersprüchlich und sehr allgemeingültig waren, da jede Organisation sie für sich interpretieren konnte. Die Unterschiede zwischen den Einzelorganisationen erschwerte zudem die Zusammenarbeit, die Vorstellungen reichten von einem demokratischen Deutschland bis hin zur revolutionären Überwindung des Kapitalismus. Einigkeit bestand lediglich darin, die nationalsozialistische Herrschaft zu überwinden. Und auch wenn die Interpretationen dieser Richtlinien und die Unverbindlichkeit der Formulierungen vielfältig waren, so wurden einige Konzepte und Überlegungen in die Nachkriegszeit übertragen – das damals entworfene Europabild prägt bis heute das politische Handeln. DIETER NELLES (Bochum) stellte am Beispiel der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) exemplarisch die Arbeit eines transnationalen Netzwerks vor. Um die Arbeit und das Wirken dieser gewerkschaftlichen Gruppe zu verdeutlichen, definierte Nelles die ITF als eigenständige Strömung innerhalb der Arbeiterbewegung, in der Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten und Sozialdemokraten zusammenarbeiteten und ein Konzept des Rätesozialismus vertraten. Da die ITF nicht an die Existenz eines breiten und zentral organisierten freigewerkschaftlichen Widerstand glaubte, baute sie innerhalb ihrer bestehenden Strukturen ein autonomes weitläufiges und europäisches Netz von Vertrauensleuten auf. Diese sammelten Informationen, leisteten Kurierdienste, unterstützten zahlreiche Widerstandskämpfer und arbeiteten auch mit dem britischen Geheimdienst zusammen. ISABELLA LÖHR (Heidelberg) untersuchte die internationalen Netzwerke von akademischen Emigranten in Großbritannien, indem sie vor allem methodologische Überlegungen vorstellte. Sie führte aus, dass eine globalgeschichtliche Arbeitsweise eine Voraussetzung sei, um Netzwerke von Emigranten ausreichend abzubilden mit dem Ziel, sich Emigration als einem transnationalen Phänomen zu nähern und diese aus dem engen Konzept der Nationalstaaten zu lösen. Löhr möchte Netzwerke als mehrdimensionales Phänomen begriffen sehen, das auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig verankert ist. Es kann unterschiedliche Handlungsressourcen mobilisieren, die außerhalb eines bestimmten Territoriums angesiedelt sind und die sowohl zivilgesellschaftlicher, staatlicher oder zwischenstaatlicher Herkunft sein können. Als Konsequenz sollte deswegen zu einer integrierten Forschungsperspektive übergegangen werden, die internationale Netzwerke als Transiträume begreift, die sich einer Analyse weitestgehend entziehen und auf nationale Analyseeinheiten konzentriert bleibt. Zur Verdeutlichung ihrer Hypothese diente Löhr die britische „Society for Protection and Learning“.

Im letzten Themenblock der Tagung standen der Einfluss und die Bedeutung der im Exil gegründeten Netzwerke nach 1945 im Mittelpunkt, drei Netzwerke und ihr Einfluss nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden vorgestellt. MIKE SCHMEITZNER (Erfurt) untersuchte das Netzwerk von Richard Löwenthal. Dieser hatte sich während seiner Zeit im Londoner Exil nachhaltig in seinen politischen Ansichten verändert und vertrat nun die Meinung, dass die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft nur in einem demokratischen und parlamentarischen System zu erreichen sei. Der Wahlsieg der Labour Party im Sommer 1945 wurde zu einem Schlüsselerlebnis für Löwenthal. Und obwohl der Politiker nicht direkt nach dem Ende des Krieges nach Deutschland zurückkehrte, konnte er aufgrund seiner Vernetzung und durch seine Publikationen auf die wiedergegründete SPD Einfluss ausüben. Besonders sein Bestseller von 1946 „Jenseits des Kapitalismus“ prägte laut Schmeitzner bis Ende der 1940er-Jahre die Sozialdemokratie in allen Besatzungszonen bzw. in beiden deutschen Staaten nachhaltig. KARIN GILLE-LINNE (Hann. Münden) untersuchte die Beziehungen von deutschen und britischen Sozialistinnen während und nach dem Exil, die sie exemplarisch am Beispiel des Briefwechsels der SPD-Frauensekretärin Herta Gotthelf deutlich machte. Im Zentrum des beschriebenen Netzwerkes standen der Austausch von Ideen und Strategien von Frauenpolitiken. In ihrem Vortrag beschrieb Gille-Linne den Konflikt zwischen Herta Gotthelf und Mary Sutherland – der Vorsitzenden des Standing Joint Committee of Working Women's Organisation – um so einen Einblick in die Arbeit des Netzwerkes zu geben und dabei eventuelle Unterschiede zwischen männlich und weiblich dominierten Netzwerken zu verdeutlichen. Da die SPD-Politikerin zu dem Schluss kam, dass sich die weiblichen Netzwerke durch eine größere Solidarität ausgezeichnet hätten. Den letzten Vortrag des Tages hielt URSULA BITZEGEIO (Bonn), die den gewerkschaftlichen Neubeginn im Nachkriegsdeutschland untersuchte. Die Konzepte für die gewerkschaftliche Reorganisation wurden von der Landesgruppe der Gewerkschaften in London erarbeitet, als Referenzgröße zur Gründung einer Einheitsgewerkschaft diente das britische Gewerkschaftsmodell. Pläne sahen den Aufbau der Gewerkschaften von unten vor, dabei sollten sich die Remigranten zurückhalten, gleichzeitig erfuhr das Ehrenamt eine Aufwertung. Die Gewerkschaften wurden entpolitisiert und die Interessenvertreter konzentrierten sich nun vornehmlich auf die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen. Die Planungen sahen ebenfalls vor, dass Gewerkschaften unabhängig von Parteien agierten, jedoch die Zusammenarbeit mit ihren Schwesterorganisationen, das heißt den sozialdemokratischen Parteien, suchten. Die Nachhaltigkeit des Netzwerkes basierte vor allem auf dem individuellen Weitertragen der programmatischen Eckpunkte.

Die Abschlussdiskussion verlief überaus angeregt und verdeutlichte die Potentiale der Fokussierung von Netzwerken. Da dieser nicht einheitlich definiert verwendet wurde, empfahl HELGA GREBING, sich dem Phänomen nochmals anzunähern und so eine Abgrenzung zum bislang in der Exilforschung dominanten Begriff der Gruppenbildung zu formulieren. Dieser ermögliche, so die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, eine qualitative Analyse von persönlichen Interaktionen, die von moralischer Unterstützung bis zur konkreten materiellen Hilfe reichen. Netzwerke zeichneten sich außerdem durch einen Selbstzweck (politische oder soziale Ziele) über nationalstaatliche Grenzen hinweg aus. Als weiteres Merkmal von Netzwerken wurde ihre Flexibilität benannt. Zu beachten sei ebenfalls, dass Netzwerke identitätsstiftend wirken und eigene Selbstbilder schaffen. Auch sei der Netzwerkbegriff hilfreich, um reine Organisationsgeschichte abzulösen und Kommunikationsstrukturen zu analysieren. Allerdings müsse bei Netzwerken immer davon ausgegangen werden, dass diese zeitlich begrenzt sind. Der Netzwerkzugriff sei vor allem dann hilfreich, wenn Zusammenhänge über politische und gesellschaftliche Brüche hinweg dargestellt und diese mit einer räumlichen Dimension verbunden werden sollen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Michaela Kuhnhenne (HBS)/ Ursula Bitzegeio (FES)

Ludwig Eiber (Augsburg): Großbritannien als Gast- und Exilland. Einführung in eine komplizierte Beziehung.

Sektion I: Zwischen Fremdbestimmung, Selbstbehauptung und Integration. Die Selbstorganisation politischer und gewerkschaftlicher Flüchtlinge unter den Bedingungen des Krieges.
Moderation: Partik von zur Mühlen (Bonn).

Swen Steinberg (Dresden): Reorganisation und alte Konflikte. Die sächsische Gewerkschaftergruppe um Rudolf Maaß in London.

Jennifer Taylor (London): Hans Vogel and the SPD Executive. Connections with the Labour Party and the British Authorities in the Early Years of Exile in London.

Peter Pirker (Wien): Konflikt und Kooperation. Die transformative Praxis österreichischer Sozialisten und Gewerkschafter im Kontext des britischen Geheimdienstes SOE.

Panel II: Politische Strategien, Ideentransfer und transnationale Netzwerkarbeit.
Moderation: Michaela Kuhnhenne (Düsseldorf).

Kristina Schulz (Bern): Durchgangsland oder Endstation? Die Schweiz und Großbritannien und die literarischen Flüchtlinge (1933-1945).

Rainer Behring (Köln): Richtlinien zur internationalen Politik der Londoner Union vom 23. Oktober 1943. Entstehungsgeschichte, Probleme, Wirkungen.

Dieter Nelles (Bochum): Die Internationale Transportarbeiterföderation als transnationales Netzwerk im gewerkschaftlichen Exil.

Isabella Löhr (Heidelberg): Die internationalen Netzwerke akademischer Eimigranten in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs.

Panel III: Die politische und gesellschaftliche Relevanz von Exilnetzwerken nach dem Zweiten Weltkrieg.
Moderation: Hans-Otto Hemmer (Mettmann).

Mike Schmeitzner (Erfurt): Richard Löwenthal und der politische Neubeginn in Deutschland nach 1945.

Karin Gille-Linne (Hann. Münden): London – Hannover und zurück. Deutsche und britische Sozialistinnen nach 1945.

Ursula Bitzegeio (Bonn): Von der Einheitsfront zur Einheitsgewerkschaft – die „Londoner Vorschläge“ und ihre Bedeutung für den gewerkschaftlichen Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg.

Diskussion der Tagungsergebnisse:
Moderation: Ursula Bitzegeio (Bonn).


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