Politische Kultur und internationale Beziehungen im Umfeld des Wiener Kongresses. Stand und Perspektiven der Forschung

Politische Kultur und internationale Beziehungen im Umfeld des Wiener Kongresses. Stand und Perspektiven der Forschung

Organisatoren
Projektverbund "Wiener Kongress"
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
24.03.2011 - 25.03.2011
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Von
Florian Kerschbaumer / Marion Koschier / Reinhard Stauber, Institut für Geschichte, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt

Unter dem Leitthema „Politische Kultur und internationale Beziehungen im Umfeld des Wiener Kongresses“ lud der Projektverbund „Wiener Kongress“ 1 am 24. und 25. März 2011 Wissenschaftler/innen aus fünf europäischen Ländern ein, um im anregenden Ambiente des Ferdinandsaals der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien über „Stand und Perspektiven der Forschung“ zur europäischen Kongresspolitik in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu diskutieren. Der international ausgerichtete Workshop verfolgte zwei Ziele: einerseits die Präsentation bereits laufender Projekte im Umfeld des Wiener Kongresses und seiner Folgezeit, anderseits die Identifizierung von Desideraten und somit die Verortung künftiger Forschungsakzente.

Unter dieser Prämisse stand der erste Tag der Tagung ganz im Zeichen aktueller Forschungen. Den Anfang machte ELISABETH FRITZ-HILSCHER (Wien), die in ihrem Vortrag „Nicht nur ‘Wein, Weib und Gesang‘ – Zur politischen Rolle von Musik und Fest in der Zeit des Wiener Kongresses“ darauf hinwies, dass trotz des bis heute viel zitierten Bonmots vom „tanzenden Kongress“ die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der damaligen Festkultur, vor allem mit den zeitgenössischen musikalischen Werken, bisher vernachlässigt wurde. Insbesondere die Untersuchung der Interdependenz von „Vergnügen“ und politischer Realität erscheint wohl als eine lohnende Forschungsperspektive für die Zukunft.

Im Anschluss stellten JÜRGEN MÜLLER und ECKHARDT TREICHEL (Frankfurt am Main) ihr etabliertes, seit 1988 laufendes Projekt „Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes“ vor, das sich in drei Abteilungen der Erschließung, Edition und Interpretation der Quellen zur Bundes-Geschichte von 1815 bis 1866 widmet. Neben der Vorstellung von bereits erschienen Bänden gaben die Referenten auch einen Ausblick auf ihre künftigen Forschungen, die den Deutschen Bund als ein handelndes Subjekt betrachten, das nicht bloß instrumentellen Charakter für die einzelstaatliche Interessenpolitik besaß, und auch seine Funktion im europäischen Mächtesystem berücksichtigen.

Eine Arbeitsgruppe der Österreichischen Nationalbibliothek unter der Leitung von HANS PETSCHAR mit den Mitarbeiter/innen NINA KNIELING, RAINER VALENTA und THOMAS HUBER (Wien) präsentierte ihr Projekt zur „Privatbibliothek Kaiser Franz’ I.“. Im Kontext des Wiener Kongresses erscheinen gerade die Bücherankäufe ab dem Jahr 1813 von großem Interesse, da ein Gutteil der Erwerbungen in Zusammenhang mit der politischen und militärischen Problematik der Zeit steht und damit als „Vorbereitungsmaterial“ für das große diplomatische Treffen in Wien gedeutet werden kann. Von der geplanten umfangreichen Analyse der Bestände lassen sich interessante Einblicke in Funktion und Nutzung der Bibliothek und deren Bedeutung als „Arbeitsinstrument“ des Kaisers erwarten.

„Der Wiener Kongress und die politische Presse“ standen im Mittelpunkt der Ausführungen von BRIGITTE MAZOHL und EVA MARIA WERNER (Innsbruck), die in ihrem Projekt nach der Rolle der Öffentlichkeit für die österreichische Politik fragen. Dabei werden sowohl ausgewählte Zeitungen einer medienhistorischen Analyse unterzogen als auch archivalische Quellen konsultiert, um der bisher wenig beachteten Pressepolitik der österreichischen Staatsführung nachzuspüren.

Den Abschluss der ersten Workshop-Session bildete der Vortrag von KARIN SCHNEIDER, die das Projekt „Der Wiener Kongress und sein europäisches Friedenssystem 1814/15-1822“, unter der Leitung von REINHARD STAUBER (Klagenfurt), präsentierte. Konkretes Ziel dieses Projektes ist eine an modernen wissenschaftlichen Kriterien ausgerichtete Edition, die auf der Basis der archivalischen Originale in Wien Schlüsseldokumente zum System der „Wiener Ordnung“ sowohl für die Forschung als auch für den akademischen Unterricht zugänglich machen möchte.

Die Präsentation des Buches „Die Porträtsammlung Kaiser Franz’ I.“ von Herausgeber HANS PETSCHAR (Wien) und ein öffentlicher Vortrag bildeten das Abendprogramm, welches im „Oratorium“ der Österreichischen Nationalbibliothek stattfand und auf großes Interesse stieß. MATTHIAS SCHULZ (Genf) unterstrich in seinem Vortrag „Die Wiener Friedensordnung 1814/15 und das europäische Staatensystem: Neuerungen, Irrwege, Wirkungen“ die Leistungen des Europäischen Konzerts im Hinblick auf die Etablierung einer internationalen Friedenskultur. Dabei standen sowohl die neuen kulturellen Praktiken der Friedenssicherung mit ihren weit bis in die Gegenwart hineinreichenden Wirkungen als auch die Paradoxien der Wiener Ordnung im Mittelpunkt seiner detailreich modellierten Ausführungen.

Der zweite Tag stand ganz im Zeichen der Frage nach Perspektiven und neuen Ansätzen für die Wiener-Kongress-Forschung. Den Anfang machte WOLFRAM SIEMANN (München), der in seinem Vortrag „Mediatisierung der Reichsfürsten und Reichsgrafen“ in weitem Rahmen die Interdependenzen von Politik und gesellschaftlicher Ordnung thematisierte. Anhand von zehn – nach Wolfram Pytas Aussagen zur internationalen Politik des Mächtekonzerts adaptierten – Thesen zeigte Siemann, dass eine breite gesellschaftsgeschichtliche Perspektive auf die Kongressära eine notwendige Erweiterung des Forschungsgegenstandes darstellt.

REINER MARCOWITZ (Metz) erarbeitete in seiner Präsentation „Wege aus dem Krieg. Wiener Kongress 1814/15 und Pariser Friedenskonferenz 1918/19 – Zwei Friedenskulturen im Vergleich“ die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden für ihr Jahrhundert je prägenden politischen Konferenzen. Er plädierte weiterhin dafür, sich künftig verstärkt mit der Rezeptionsgeschichte des Wiener Kongresses zu beschäftigen, sich aber auch mit den „Erfolgen“ des Europäischen Konzerts bewusst kritisch auseinanderzusetzen und, in Anlehnung an Doering-Manteuffel, zwischen „Wiener System“ (nur bis 1822) und „Wiener Ordnung“ zu unterscheiden.

In seinem Vortrag „The Search for the ‚Juste Milieu‘ and the Silver Age? The politics of moderation in Restoration Europe 1814-1848” fragte MICHAEL BROERS (Oxford), ob es sinnvoll sei, die postnapoleonische Ära ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Antipoden „Revolution“ und „Restauration“ zu betrachten. Er schlug vor, sich in Zukunft – jenseits aller einschränkenden Polarisierungen – der Thematik auch aus der Perspektive des „Juste Milieu“ respektive als Kampf um Stabilität zu nähern.

In diese Richtung wies auch der Beitrag „Kabinettspolitik und bürgerliche Gesellschaft. Vom Konzert der Mächte zur Konkurrenz der Völker“ von HELMUT RUMPLER (Klagenfurt), der dem Bild vom „Reaktionär“ Metternich Reformen im bürgerlich-liberalen Sinn wie das ABGB (1811) oder den Grundsteuerkataster (1817) gegenüberstellte. Darüber hinaus konstatierte Rumpler anhand Metternichs anfangs zukunftsweisendem Umgang mit der Nationalitätenfrage (gerade im südslawischen Raum), dass die oft einseitig tendierenden Zuschreibungen dem facettenreichen Wirken des „Kutschers Europas“ nicht gerecht werden.

Eine „Übersicht über die visuellen Medien zur Kongresszeit“ gab der Kunsthistoriker WERNER TELESKO (Wien). Auch wenn die Zeit des Wiener Kongresses keine spezifische „visuelle“ Kultur ausbildete, so sind die Bildkünste doch wesentliche Seismographen und Indikatoren von historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Eine vertiefende Analyse der Medaillen, Druckgrafiken und Gemälde dieser Epoche erscheint als fruchtbares Unterfangen, zumal diese Medien auch als „bildliches“ politisches Programm einer europäischen Friedenssicherung fungierten.

Im Anschluss appellierte LAURENCE COLE (Norwich) im seinem Vortrag „The Idea of the Nation in International Politics: some Reflections on the British-Austrian Example“ dafür, dass trotz der notwendigen Verortung des Wiener Kongresses in einer inter- bzw. transnationalen Geschichte die nationalstaatliche Perspektive nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Anhand des Beispieles der österreichisch–britischen Beziehungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zeigte Cole, inwieweit „national differences“ und mangelndes Wissen voneinander wichtige Größen für das Verständnis dieser historischen Periode sind.

Im folgenden Vortrag „Der Wiener Kongress und die europäische Friedenskongresstradition vom 17. bis zum 19. Jahrhundert“ sprach sich MICHAEL ERBE (Mannheim) für eine eingehende Auseinandersetzung mit der langen „Vorgeschichte“ des Wiener Kongresses aus. Nicht nur die Einbeziehung wichtiger Friedensschlüsse (z.B. Westfälischer Friede, Friede von Utrecht, etc.), sondern auch die systematische Berücksichtigung von ideengeschichtlichen Aspekten wie universalen Ordnungskonzepten, Friedensvorstellungen und -traditionen sollten in zukünftigen Forschungsprojekten mehr Beachtung finden.

In seinem Vortrag „Die Zeit der Franzosen – eine Leerstelle in der (Wiener) Stadtgeschichtsforschung?“ wies MARTIN SCHEUTZ (Wien) auf Desiderate der regionalen Mikrogeschichte hin. Fragen der Sozial- und Mentalitäts-, der Kommunikations- und der Geschlechtergeschichte, aber auch nach der Beziehung zwischen Hof und Stadt Wien seien nur einige Beispiele für jene „Leerstellen der Stadtgeschichte“, die es in Zukunft zu füllen gelte.

Im abschließenden Beitrag „Politisch instrumentalisierte Kunst und der Wiener Kongress“ wies MARKUS NEUWIRTH (Innsbruck) darauf hin, dass mit dem Wiener Kongress ein Umstrukturierungsprozess im mitteleuropäischen Netzwerk der bildenden Kunst in Gang gesetzt wurde, der die künstlerischen Zusammenhänge der Folgejahrzehnte – sowohl auf kultureller als auch auf ökonomischer Ebene – nachhaltig prägte.

Den Abschluss des Workshops bildete eine gemeinsame Ergebnissicherung, deren besonderer Fokus auf die während der Tagung erarbeiteten Forschungsansätze gerichtet war. Dabei herrschte unter den Teilnehmer/innen Einigkeit darüber, daß eine gesellschaftsgeschichtliche Betrachtung des Wiener Kongresses, und hier vor allem die Interdependenz zwischen Festkultur und Politik, sowie die Frage nach dem Vorhandensein eines politischen „Masterplans“ bei der „Generation Metternich“ von besonderer Relevanz seien. Weitere wichtige Forschungsaspekte stellen die „Vorgeschichte“ des Wiener Kongresses und seine Rezeption, unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt, sowie die terminologisch genaue Erarbeitung der politischen Instrumentarien wie „Intervention“ dar. In diesem Sinne ist und bleibt es eine besondere Herausforderung, eine ausgewogene Betrachtungsweise im Wechselspiel zwischen internationaler und nationaler Geschichte sowie in der Bilanzierung der Leistungen des Europäischen Konzertes zu finden. Dabei sind Regionen wie etwa Skandinavien oder das südliche Italien und die dort teilweise sehr aktive Forschung einzubinden.

Der Workshop machte also deutlich, dass gerade im Hinblick auf die 200jährige Wiederkehr des Kongresses 2014/15 neue wissenschaftliche Bemühungen notwendig sind, und zwar, von Österreich ausgehend, in einem weiten europäischen Rahmen. Hierfür gab diese Tagung die ersten erforderlichen Impulse.

Konferenzübersicht:

Einleitung und Begrüßung: Hans Petschar (Wien), Brigitte Mazohl (Innsbruck)

Projektvorstellungen

Moderation: Brigitte Mazohl (Innsbruck)

Elisabeth Fritz-Hilscher (Wien): Nicht nur „Wein, Weib und Gesang“ – zur politischen Rolle von Musik und Fest in der Zeit des Wiener Kongresses.

Jürgen Müller, Eckhardt Treichel (Frankfurt am Main): Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes.

Hans Petschar, Thomas Huber, Nina Knieling, Rainer Valenta (Wien): Die Privatbibliothek Kaiser Franz’ I. von Österreich.

Moderation: Hans Petschar (Wien)

Brigitte Mazohl, Eva Maria Werner (Innsbruck): Der Wiener Kongress und die politische Presse.

Reinhard Stauber, Florian Kerschbaumer, Marion Koschier, Karin Schneider (Klagenfurt): Der Wiener Kongress und sein europäisches Friedenssystem.

Buchpräsentation: Hans Petschar (Wien): „Die Porträtsammlung Kaiser Franz I.“
Einleitung und Begrüßung: Reinhard Stauber (Klagenfurt)

Abendvortrag
Matthias Schulz (Genf): Die Wiener Friedensordnung und das europäische Staatensystem: Neuerungen, Irrwege, Wirkungen.

Impulsreferate

Moderation: Reinhard Stauber (Klagenfurt)

Wolfram Siemann (München): Mediatisierung der Reichsfürsten und Reichsgrafen.

Reiner Marcowitz (Metz): Wege aus dem Kriege. Wiener Kongress 1814/15 und Pariser Friedenskonferenz 1918/19 – zwei Friedenskulturen im Vergleich.

Michael Broers (Oxford): The Search for the “Juste Milieu”: and the Silver Age? The politics of moderation in Restoration Europe, 1814-1848.

Moderation: Brigitte Mazohl (Innsbruck)

Helmut Rumpler (Klagenfurt): Kabinettspolitik und bürgerliche Gesellschaft. Vom Konzert der Mächte zur Konkurrenz der Völker.

Werner Telesko (Wien): Übersicht über die visuellen Medien zur Kongresszeit.

Round Table: Neue Fragen – traditionsreiches Thema: 1814/15 im Gespräch

Moderation: Hans Petschar (Wien)

Laurence Cole (Norwich): The idea of the nation in international politics: some reflections on the British-Austrian example.

Michael Erbe (Mannheim): Der Wiener Kongress und die europäische Friedenskongresstradition vom 17. bis zum 19. Jahrhundert.

Martin Scheutz (Wien): Die Zeit der Franzosen – eine Leerstelle in der (Wiener) Stadtgeschichtsforschung?

Markus Neuwirth (Innsbruck): Politisch instrumentalisierte Kunst und der Wiener Kongress.

Abschlussdiskussion und Ergebnissicherung: Europa 1814/15.
Moderation: Brigitte Mazohl (Innsbruck), Hans Petschar (Wien), Reinhard Stauber (Klagenfurt)

Anmerkung:
1 Siehe <http://www.wiener-kongress.at> (10.05.2011).


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