Cultures of Knowledge in Central European Transnational Contexts. Eröffnungsveranstaltung der Leibniz Graduate School

Cultures of Knowledge in Central European Transnational Contexts. Eröffnungsveranstaltung der Leibniz Graduate School

Organisatoren
International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC), Gießen; Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo), Gießen; Herder-Institut Marburg
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.12.2010 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Dominik-Stephan Betschart, Universität Gießen

Als Mise en abyme bezeichnet die Heraldik eine graphische Darstellung, die ein verkleinertes Abbild ihrer selbst enthält. In ähnlicher Weise könnte man die Eröffnung der Leibniz Graduate School for Cultures of Knowledge in Central European Transnational Contexts (Leibniz Graduate School) paraphrasieren. Die Veranstaltung – im Wesentlichen ein Ensemble von Vorträgen, die in der einen oder anderen Weise grenzüberschreitende Wissenstransfers thematisierten, wies ihrerseits Merkmale eines grenzüberschreitenden Wissenstransfers auf. Transnationalität offenbarte sich nicht nur in der geographisch gestreuten Herkunft der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Auch innerhalb der einzelnen Biographien ließ sich eine Gemeinsamkeit ausmachen: So haben alle Vortragenden eine wissenschaftliche Sozialisation erfahren, die Studien- und Forschungsaufenthalte in mehreren Ländern beinhaltet(e).

Bis vor kurzem noch mit dem Schlagwort der „Interdisziplinarität“ assoziiert, hat die Semantik der „grenzüberschreitenden Wissenschaft“ in jüngster Zeit eine Erweiterung um eine geographische Komponente erfahren. Die Gründung der Leibniz Graduate School fügt sich also nahtlos in den aktuellen geschichtswissenschaftlichen Methodendiskurs ein.

Eingeleitet wurde der Festakt mit Grußworten von EVA BURWITZ-MELZER, HORST CARL und THOMAS BOHN (alle Gießen). Das Projekt ist aus der Zusammenarbeit zwischen dem International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) in Gießen, dem Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZO) und dem Marburger Herder-Institut hervorgegangen. Zu seinen Zielsetzungen zählt unter anderem die Vertiefung bestehender institutioneller Kontakte sowie die engere Vernetzung von Forschenden in Ost und West. Thematisch widmet sich die Leibniz Graduate School der Erforschung von „Wissen“ bzw. „Wissenskulturen“. Als Forschungskategorie sei „Wissen“ vor allem in der Osteuropaforschung bislang zu wenig beachtet geblieben, bemerkte PETER HASLINGER (Marburg) in seinem Einleitungsvortrag. Für eine Analyse von Wissenskulturen seien nicht so sehr die konkreten Wissensinhalte von Belang, sondern vielmehr die Bedingungen und Modi der Produktion von und des Umgangs mit Wissen. Welche Vielfalt von Kontextualisierungen denkbar ist, offenbarten die unterschiedlichen Herangehensweisen der vortragenden Stipendiatinnen und Stipendiaten.

So fragte SYLWIA WERNER (Frankfurt am Main) nach dem gesellschaftlichen Kontext und den historischen Voraussetzungen für die Entstehung der Wissenskultur der „Lemberger Moderne“. Ihr Hauptinteresse galt dabei dem polnischen Biologen Ludwik Fleck und seiner Wissenschaftstheorie. Flecks Überlegungen zufolge entsteht wissenschaftliche Erkenntnis in Austausch- und Aushandlungsprozessen von ‚Denkkollektiven‘, die sogenannte ‚Denkstile‘ entwickeln. Bei letzteren handle es sich um vom Kollektiv geteilte, durch Wiederholung gefestigte Wahrnehmungs- und Deutungsweisen, die eine spezifische Wirklichkeitskonzeption zur Folge hätten. Besonderen Reiz entfaltete Werners Ansatz, Flecks Wissenschaftstheorie auf sein eigenes soziokulturelles Milieu anzuwenden. Überzeugend konnte die Referentin darlegen, dass im Lemberg der 1920er-Jahre ein ‘Denkstil‘ vorherrschend war, der sich in einem pluralistischen Wirklichkeitsbegriff äußerte und sich über die Wissenschaften hinaus auch auf Literatur und Kunst erstreckte.

Im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik hingegen ließ sich KONRAD HIERASIMOWICZ’ (Marburg) Vorstellung seines Dissertationsprojekts verorten. In seinem Beitrag kontrastierte der Stipendiat zwei Konzepte nationaler Identität in der postsowjetischen Belarus’. Als Akteure im nationalhistorischen Diskurs fungieren dabei staatlich-offizielle Netzwerke auf der einen und oppositionelle Zirkel auf der anderen Seite. Wissen wurde in diesem Zusammenhang als Basis national motivierter Deutungsmuster analysiert. War die Wissensorganisation lange Zeit den Eliten vorbehalten gewesen – etwa in Form von nationalhistorischen Narrationen in staatlich kontrollierten Printmedien, so wurde der Kreis möglicher Diskursteilnehmer durch das Internet in den letzten Jahren erheblich erweitert. Angesichts dieser aktuellen Entwicklungen prognostizierte Hierasimowicz eine neue Wissenskultur, in welcher Wissen als polymorphes gesellschaftliches Konstrukt verstanden werden müsse: Das „klassische“ Wahrheitsmodell werde längerfristig durch ein Konsensmodell ersetzt.

Ein weiterer Beleg für die methodische Vielfalt in der Leibniz Graduate School war der kunstgeschichtliche Exkurs von DOMINIKA PIOTROWSKA (Marburg), die ebenfalls die Semantisierung von Wissensangeboten zu machtpolitischen Zwecken untersuchte. Der von zahlreichen Bilddokumenten begleitete Vortrag über die neuzeitliche Residenzarchitektur in der Neumark war der materiellen Verdinglichung von höfischem Wissen gewidmet. Anhand der Residenzgebäude in der ehemals preußischen Region ließen sich, so die Hypothese der Referentin, kulturelle Codes erforschen, die ihrerseits Erkenntnisse über die Wissensdiskurse zwischen Stiftern, Bewohnern und Architekten ermöglichten. Zu einem lohnenden Forschungsgebiet mache die Neumark das Fehlen einer diesbezüglichen Wissenskultur zu Beginn des untersuchten Zeitraums. Die dadurch erforderliche künstlerische Vernetzung mit Zentren der Wissenskultur im Ausland habe nicht nur zur Inspiration, sondern auch zu gegenseitiger Beeinflussung geführt.

Wissen als Ressource zur sozialen Disziplinierung und nationalen Mobilisierung – diese Forschungsperspektive nahm die Präsentation von JUSTYNA TURKOWSKA (Marburg) ein. Am Beispiel von Hygienediskursen im deutsch-polnischen Raum Posen ging die Stipendiatin der Rolle der Wissensvermittlung bei der Herausbildung von Wissensräumen und der Inszenierung von Wissenspopularisierung vom 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nach. Wie wurde Wissen instrumentalisiert und welche Räume wurden dadurch geschaffen? Im Laufe des Vortrags wurde deutlich, dass der Popularisierung der damals als separate Wissenschaftsdisziplin geltenden Hygiene mehrere Motivationen zugrunde lagen. Zum einen wurde auf die gesundheitliche Aufklärung hingewiesen, die soziale Verhaltensnormen schuf und abrufbar machte (etwa im Bereich der Schulen oder der Kriegsführung). Zum anderen äußerte die Referentin die These, dass die Popularisierung der nationalen Mobilisierung gedient habe. Durch das Ansprechen der jeweils eigenen Volksgruppe bspw. in „Gesundheitsbüchlein“ wurden Kategorien des „eigenen“ und des „fremden“ Wissens geschaffen. Wissenspopularisierung, so Turkowska, sei Aushandlung und Konstruktion von Welterklärungsmodellen, die zwischen Wissenschaftler und Laien stattfänden.

CHRISTIAN LOTZ (Stuttgart/Marburg) widmete sich einem Themengebiet, mit dem man als Historiker gemeinhin selten in Berührung kommt. In seinem Beitrag warf er die Frage auf, wie zentraleuropäische Forstwissenschaftler im 19. Jahrhundert grenzübergreifend über die Verfügbarkeit von Holzressourcen diskutierten. Transnationaler Wissenstransfer führte dabei längerfristig zu einem Wandel in der Wissenskultur, wie der Referent anmerkte. Sei diese zu Beginn des Untersuchungszeitraums noch von Beharrungsbestrebungen geprägt gewesen, so habe die Rezeption pessimistischer dänischer und deutscher Forschungsergebnisse die Grundfeste der ‘scientific community‘ erschüttert. Als Begründung für diesen Paradigmenwechsel nannte der Vortragende ein schleichendes Missbehagen in der Forschungsgemeinschaft, das sich gleichsam unter der Oberfläche vollzogen hatte und durch die beiden „ausländischen“ Forschungsberichte ausbuchstabiert wurde. Wissenstransfer, so die These Lotz’, erschöpfe sich demnach nicht in der Übernahme von Informationen, sondern beziehe auch deren Interpretationen mit ein.

Gemeinsam war den Vorträgen aller Stipendiatinnen und Stipendiaten eine Hauptthese: Wissenskulturen sind Arenen der Aushandlung von Wissen – kollektive Lernprozesse also, an denen stets mehrere Akteursgruppen beteiligt sind. Deutlich wurde im Laufe der Veranstaltung auch, dass Zentraleuropa ein überaus lohnendes Forschungsgebiet (im wörtlichen Sinne) darstellt. Die Paradoxie Zentraleuropas, das sich trotz oder gerade wegen seiner zentralen Lage an der Peripherie von Großmächten und politisch-ideologischen Einflusssphären wiederfand, bereitet einem transnationalen Forschungsansatz fruchtbaren Boden. Nicht zuletzt eignet sich die Region ob ihrer nationalen, kulturellen und konfessionellen Vielschichtigkeit als Vergleichskontext – im Verhältnis ihrer einzelnen Subregionen untereinander ebenso wie im Vergleich mit anderen Großräumen.

Abschließend stellte PATRICK HARRIES (Basel) in seinem Festvortrag Untersuchungsergebnisse zum Wissenstransfer zwischen südafrikanischen Ureinwohnern, britischen Missionaren und europäischen Wissenschaftlern vor. Zu Beginn der Erkundung des Landes durch die Missionare, die sich auf Flora und Fauna, aber auch die Bräuche der Einheimischen richtete, sei die indigene Bevölkerung aktiv in die Forschung miteinbezogen worden. Durch Spezialisierung und den Export von Wissen nach Europa habe sich dies allmählich geändert. Die Artefakte wurden nach europäischen Deutungsmustern umcodiert, die ursprünglichen Sinnzuweisungen gingen verloren. So gesehen könne Wissenschaft sowohl Distanz als auch Nähe zum Gegenstand schaffen. Mit diesem Verweis auf die Kontextabhängigkeit von Wissen in spezifischen Wissenskulturen bestätigte Harries die Quintessenz der vorangegangenen Vorträge.

Wenngleich die Referate nur einen kleinen Einblick in die Dissertationsprojekte und Postdoc-Vorhaben bieten konnten, so wurden doch die vielversprechenden Ansätze der Forschungsprojekte deutlich. Zu bemängeln bleibt lediglich der zu häufige Gebrauch von Fachtermini in einigen Präsentationen. Ein reibungsloser Wissenstransfer zum nicht nur aus Historikern bestehenden Publikum wurde dadurch erschwert. Dieser Umstand vermochte jedoch nicht den Gesamteindruck zu trüben, dass mit der Eröffnung der Leibniz Graduate School ein wichtiger und längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung unternommen wurde. Forschungsdesiderata in der transnationalen Geschichtsschreibung gibt es noch zahlreiche. Bleibt zu hoffen, dass sich künftig noch viele „Historiker ohne Grenzen“ in der Leibniz Graduate School zusammenfinden werden, um bestehende Wissenslücken zu füllen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Eva Burwitz-Melzer, Horst Carl, Thomas Bohn (alle Gießen)

Peter Haslinger (Marburg): Grenzüberschreitungen und Transformationen von Wissen in multikulturellen Räumen – Vorstellung der Leibniz Graduate School for Cultures of Knowledge in Central European Transnational Contexts

Sylwia Werner (Marburg): Die Entstehung von Ludwik Flecks Wissenschaftstheorie in der Wissenskultur der Lemberger Moderne

Justyna A. Turkowska (Marburg): Wissenschaft als Konstrukt und Inszenierung: ein deutsch-polnischer Vernetzungsfall im Spiegel der Hygienediskurse

Dominika Piotrowska (Marburg): Die neuzeitliche Residenzarchitektur in der Neumark

Christian Lotz (Stuttgart/Marburg): Die Erkundung des Vorrats. Wissenschaftler und Akademien in den Imperien Ostmitteleuropas und die Bestimmung der verfügbaren Holzressourcen (ca. 1870-1914)

Konrad Hierasimowicz (Marburg): Mediale Narration nationaler Identität – vom Druck bis zum „Web 2.0“. Eine Untersuchung am belarussischen Fall

Patrick Harries (Basel): Knowledge and Knowing: Managing and Measuring the New Across Space and Through Time


Redaktion
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