Die Globalisierung der Kirchen. Globale Transformation und ökumenische Erneuerung des Ökumenischen Rates der Kirchen in den 1960er- und 1970er-Jahren

Die Globalisierung der Kirchen. Globale Transformation und ökumenische Erneuerung des Ökumenischen Rates der Kirchen in den 1960er- und 1970er-Jahren

Organisatoren
Katharina Kunter, DFG-Projekt „Globalisiertes Christentum“, Universität Karlsruhe
Ort
Genf
Land
Switzerland
Vom - Bis
04.03.2011 - 06.03.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Annegreth Strümpfel, Karlsruher Institut für Technologie (KIT)

Der politische und gesellschaftliche Wandel der 1960er- und 1970er-Jahre und seine Auswirkungen auf die Kirchen ist in den letzten Jahren verstärkt in den Blick der Geschichtswissenschaft und der kirchlichen Zeitgeschichte gerückt. So beschäftigte sich auch die Ev. Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte in zwei Konferenzen 2005 und 2009 mit den sozialen „Umbrüchen“ und der „Politisierung des Protestantismus“ der 1960er- und 1970er-Jahre.1 Allerdings waren diese Konferenzen vorrangig an den Entwicklungen in Deutschland interessiert, wobei die internationale Perspektive (insbesondere Westeuropa) auf die beiden bewegten Jahrzehnte nur ansatzweise in den Blick genommen wurde.

Die internationale Konferenz zum Thema „Globalisierung der Kirchen“, die vom 04.-06. März 2011 im ökumenischen Institut Bossey (Schweiz) stattfand, hatte sich dagegen zum Ziel gesetzt, die wissenschaftlichen Perspektiven der kirchlichen Zeitgeschichte und der Globalgeschichte zu verknüpfen und zu fragen, wie die ökumenische Bewegung auf die globalpolitischen Veränderungen der 1960er- und 1970er-Jahre reagierte bzw. wie sie selber Themen aus der globalen Debatte aufnahm. Im Mittelpunkt der Konferenz stand der Ökumenische Rat der Kirchen als größte weltweit agierende und interkonfessionelle christliche Institution, der in jenen Jahren eine tiefgreifende Phase der Transformation und Erneuerung erlebte. Anliegen war dabei auch, den ÖRK als wichtigen Akteur im Forschungsgebiet der Globalgeschichte zu etablieren, wo die Kirchen im Allgemeinen bislang kaum Beachtung fanden.

Die Konferenz bildete den Höhepunkt und Abschluss des dreijährigen DFG-Forschungsprojektes (2008-2011) zum Thema „Auf dem Weg zum globalen Christentum: Die europäische Ökumene und die ‚Entdeckung’ der ‚Dritten Welt’“ am Karlsruher Institut für Technologie unter der Leitung der Historikerin Katharina Kunter. Die Konferenzvorbereitung erfolgte in Kooperation zwischen den beiden Wissenschaftlerinnen des DFG-Forschungsprojekts, Katharina Kunter und Annegreth Strümpfel, und Dagmar Heller, Dozentin am ökumenischen Institut Bossey. Das 1946 gegründete ökumenische Institut ist bis zum heutigen Tag ein bedeutender Ort ökumenischer Forschung und Lehre und bot damit ideale Vorraussetzungen für eine internationale Konferenz. Die insgesamt 33 Teilnehmenden kamen aus Deutschland, Ghana, Großbritannien, Nigeria, Philippinen, Schweiz, Tschechien, USA und Zimbabwe und trugen durch sorgfältig ausgearbeitete Vorträge und qualifizierte Diskussionsbeiträge zum Gelingen der Konferenz bei.

Den Auftakt zur Konferenz gab der Historiker DOMINIC SACHSENMAIER (Durham, USA), der mit seinem Beitrag in das Forschungsfeld der Globalgeschichte einführte und diese als eine über den Ansatz interkultureller Studien oder „Area Studies“ hinausgehend charakterisierte. Die Globalgeschichte versuche eurozentrische Perspektiven auf die Weltgeschichte zu überwinden und eine neue, dezentrale Sicht auf die vernetzte Geschichte zu entwickeln. Für die Periode des Kalten Krieges sei auch die Beschäftigung mit in dieser Zeit entstandenen Theorien wie der Dependenztheorie oder postkolonialer Theorie entscheidend, da sie schon früh westliche Forschungsansätze als alleingültigen Maßstab und Deutungsmuster in Frage gestellt haben.

Die sich an den Einführungsvortrag anschließenden Beiträge des katholischen Religionswissenschaftlers IAN LINDEN (London) und der evangelischen Theologin KIRSTEEN KIM (Leeds) rückten die Globalisierung der Kirchen im 20. Jahrhundert aus katholischer und protestantischer Sicht ins Zentrum der Debatte. Für die römisch-katholische Kirche war das Zweite Vatikanische Konzil ein Meilenstein in der Wahrnehmung einer sich zunehmende global verstehenden Kirche (vgl. die Perspektive und Reichweite des Dokuments Lumen Gentium). Das Selbstverständnis europäisch-protestantischer Kirchen und Missionen wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Zuge der Dekolonisierung in Frage gestellt, aber auch das Anwachsen von evangelikalen und Pfingstkirchen trug zu einer Ausdifferenzierung und Globalisierung des Protestantismus bei.

Nach diesen drei grundlegenden Vorträgen wurden die Teilnehmenden am Abend an ein weiteres Thema herangeführt, das in den 1960er- und 1970er-Jahren von hoher Relevanz war: die globale Transformation der Massenmedien und ihre Auswirkungen auf die Kirchen. Der Medienhistoriker NICOLAI HANNIG (München) veranschaulichte anhand des Dokumentarfilms über die vierte Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 „Behold...all things new“ drei entscheidende Themen: erstens, die Visualisierung von Globalisierung, zweitens, die Selbstreferentialität der Medien und drittens, Kommunikation und Dialog als Wesensmerkmale der Kirche. Mit der erstmaligen Vorführung des Dokumentarfilms in einem wissenschaftlichen Kontext, die ein rege Diskussion anstieß, wurde die Brücke zum Kern der Konferenz geschlagen: die Globalisierung des ÖRK in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Am Morgen des zweiten Konferenztages führte der Historiker ANDREW CHANDLER (Chichester) in die Geschichte des ÖRK von seiner Gründung 1948 bis 1960 ein, die er jedoch nicht als „Vorgeschichte“ verstanden wissen wollte, sondern als Anfang und Höhepunkt eines seit mehreren Generationen lebendigen ökumenischen Austauschs. Beispielsweise in Bezug auf die Integration von Laien in die ökumenische Arbeit sei diese Zeit den nachfolgenden Jahrzehnten sogar voraus gewesen. Die Theologin ANNEGRETH STRÜMPFEL (Karlsruhe) schloss an Chandler an, indem sie in die „langen 1960er Jahre“ als Mündigwerden („coming-of-age“) des ÖRK interpretierte: das 1955 eingesetzte Studienprogramm zum raschen sozialen Wandel in Afrika, Asien und Lateinamerika sei der Beginn der globalen Wahrnehmung ökumenischer Arbeit gewesen, die sich in den 1960er-Jahren in dem sich zuspitzenden Nord-Süd-Konflikt ausdifferenzierte und schließlich auf der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1972/73 zu einer „harten Konfrontation leidenschaftlicher Überzeugungen“ führte. Eine wichtige Ergänzung der hier vorgetragenen wissenschaftlichen Erkenntnisse bot das eindrückliche Gespräch mit drei Zeitzeugen, Mercy Amba Oduyoye (Ghana), Julio de Santa Ana (Uruguay/Schweiz) und Dwain Epps (USA/Schweiz).

Zwei Einheiten am Nachmittag beschäftigten sich konkret mit den 1960er- und 1970er-Jahren als Periode politischer Internationalisierung des ÖRK. Zunächst stand die Arbeit der Kommission für internationale Angelegenheiten (CCIA) im Fokus: Der Theologe CHRISTIAN ALBERS (Münster) arbeitete den Paradigmenwechsel im Menschenrechtsverständnis der CCIA heraus, der ab den späten 1960er-Jahren die bislang die Menschenrechtsdiskussion dominierenden individuellen Menschenrechte und das Recht auf Religionsfreiheit um kollektive und soziale Menschenrechte ergänzte. Der Religionswissenschaftler Karsten Lehmann (Bayreuth) verglich die Entwicklungen im ÖRK mit zwei weiteren religiösen Organisationen, der katholischen Bewegung Pax Romana und des Friends World Committee for Consultation der Quäker. Er arbeitete heraus, dass die verschiedenen religiösen Gemeinschaften mit dem Etablieren von Experten das Feld und die Politik der Nichtstaatlichen Organisationen entscheidend veränderten.

Als zweites Thema wurde das Programm zur Bekämpfung des Rassismus beleuchtet, das insbesondere in der Frage um „Politisierung“ der Ökumene eine wichtige Rolle spielte. Zugleich zeigt sich, dass die Globalisierung der Ökumene kein einseitiger, von konkreten Orten losgelöster Prozess war. Mit Bezug auf den in der neueren Forschung diskutierten Ansatz der „Glokalisierung“ (Robertson 1998) referierte der Historiker SEBASTIAN TRIPP (Bochum) wie die globale Rassismusdebatte im ÖRK auf die Ortsgemeinden und Landeskirchen in Westdeutschland zurückwirkte, Kontroversen und Polarisierung hervorbrachte, aber auch dem deutschen Protestantismus ein neues Selbstverständnis als internationalem Akteur zuführte. Der Historiker Eric Morier-Genoud veranschaulichte die Rezeption des Antirassismusprogramms in der Schweiz, wobei er deutlich machte, dass die Kantone, die in dieser Frage ganz auf sich gestellt waren, sich in ihrer Haltung tief voneinander unterschieden. Schließlich erörtere die Religionswissenschaftlerin TAPIWA MAPURANGA (Zimbabwe) die anhaltende Bedeutung des Antirassismusprogramms für Kirche und Gesellschaft in Zimbabwe. Es sei wichtig anzuerkennen, dass nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika Kirchen und Gemeinden hinsichtlich der Annahme des Antirassismusprogramms tief voneinander gespalten waren.

Die drei Fallstudien zum Antirassismusprogramm waren nicht nur Beispiele für die sich zunehmend politisierende Ökumene, sondern auch für die Frage, wie globale Debatten auf nationaler Ebene verhandelt wurden. Zu diesem Themenfeld trug am Morgen des letzten Konferenztages auch der Historiker BENJAMIN PEARSON (Tusculum, USA) bei, der sich mit dem Einfluss der Deutschen Evangelischen Kirchentage auf das sich zunehmend globalisierende Bewusstsein der deutschen Kirchen beschäftigte. Nicht nur Themen wie Frieden und Gerechtigkeit wurden ab 1959 zunehmend auf den Kirchentagen verhandelt; auch Teilung und Versöhnung waren wichtige Themen. So wurde auch deutlich, dass die Frage nach der deutschen Wiedervereinigung nicht von der Frage nach Weltfrieden getrennt werden könne. Eine andere Perspektive auf die globalen Entwicklungen entwarf der Kirchenhistoriker PETER MORÉE (Prag) in seinem Portrait über den tschechischen Theologen Josef Hromádka. Anhand der ausführlichen Darstellung der kritischen Haltung Hromádkas zum ÖRK wurde deutlich, dass die Globalisierung der Kirchen sich nicht nur auf den sich zuspitzenden Nord-Süd-Konflikt bezog, sondern auch die Konfrontation unterschiedlicher ideologischer und politischer Positionen innerhalb des Kalten Krieges einbezog.

Zum Abschluss der Konferenz wurden aus theologischer Sicht die Begriffe Globalisierung und Einheit in Relation zueinander gesetzt. Der brasilianische Theologe Odair Pedroso Mateus, Dozent am ökumenischen Institut Bossey, ging auf die Konfrontationen innerhalb der theologischen Kommission des ÖRK „Glaube und Kirchenverfassung“ während ihrer Tagung 1971 in Löwen ein, auf welcher der argentinische Theologe José Míguez Bonino die Kontextbezogenheit jeglicher Theologie unterstrich – und damit die mit der Globalisierung einhergehende Ausbildung von Uneinigkeit (disunity) und Differenz betonte. Stephen Brown, Historiker und theologischer Berater bei Globethics in Genf, interpretierte die Tagung in Löwen 1971 als „test case“, ob und wie der ÖRK eine Weltgemeinschaft werden könne. Der deutsche Theologe Ernst Lange habe die Kirchen als Zeichen für die Uneinigkeit der Welt angesehen: in der Weise, in er die Kirchen mit ihrer Uneinigkeit umgehen, könnten sie ein Zeichen setzen, wie die Welt mit ihrer Uneinigkeit leben könne.

In der abschließenden und die Erträge der Konferenz zusammenfassenden Diskussion wurde die Notwendigkeit zu weiterer Forschung zum Thema der Globalisierung der Kirchen unterstrichen. Die Teilnehmenden waren sich einig darin, dass die Kirchen eine wichtige Rolle für die Globalgeschichte spielen, die in der Forschung in Zukunft stärkere Beachtung finden müsse; eine internationale Institution wie der ÖRK biete dafür ideale Anknüpfungsmöglichkeiten. Auch eine vergleichende Studie zur Globalisierung und „Politisierung“ von Religionen in den 1960er- und 1970er-Jahren wäre denkbar. Als besonders wichtig wurde die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Forscherinnen und Forschern aus Globalgeschichte, kirchlicher Zeitgeschichte, Mediengeschichte, Theologie und Religionswissenschaft/-soziologie anerkannt, aber auch die Repräsentation verschiedener Regionen, Kulturen und Konfessionen. Eine fundamentale Erkenntnis war die Verknüpfung des Nord-Süd-Konflikts mit den Konfrontationen des Kalten Krieges in Bezug auf die globale Orientierung der Kirchen. Um dieses Thema weiter zu vertiefen, ist für 27./28. Mai 2011 ein follow-up Workshop zum Thema: „Der Kalte Krieg als globaler Kontext der Kirchen“ geplant, der in Frankfurt am Main unter der Leitung von Katharina Kunter und dem katholischen Theologen THOMAS BREMER (Münster) stattfinden wird. Desweiteren ist eine Publikation über die Erträge des DFG-Forschungsprojektes in Arbeit, das durch Perspektiven der internationalen Konferenz im ökumenischen Institut Bossey ergänzt wird.

Konferenzübersicht:

Introduction
Katharina Kunter, Karlsruhe Institute of Technology
Dagmar Heller, Ecumenical Institute Bossey

Greeting
Martin Robra, World Council of Churches

I. Global History and the Churches in the 20th Century

Globalizing the History of the 20th Century: Assessing a Changing World
Dominic Sachsenmaier, Duke University

Globalization of the Roman Catholic Church since the Second Vatican Council
Ian Linden, Tony Blair Faith Foundation, London

Globalization of Protestant movements since the 1960s
Kirsteen Kim, Leeds Trinity University College

II. Global Transformation of Mass Media and its Impact on the Churches

Uppsala 1968 - The Event and its Film
Film Documentary of the WCC Assembly “Behold… All things new” (28’)
Nicolai Hannig, Ludwig-Maximilians-Universität München

III. The Sixties as a Turning Point

The WCC in the Post-War Era (1948-1960)
Andrew Chandler, George Bell Institute, Chichester

The "Coming-of-age" of the WCC in the 1960s
Annegreth Strümpfel, Karlsruhe Institute of Technology

Perspectives from contemporary witnesses with Mercy Amba Oduyoye, Julio de Santa Ana and Dwain Epps

IV. The Political Internationalization of the WCC in the 1960s and early 1970s

The Commission of Churches in International Affairs (CCIA) as focal point of political globalization

The Development of WCC on the stage of Global Politics
Karsten Lehmann, Universität Bayreuth

The CCIA in the early 1970s: 'A qualitative shift' in the understanding of Human Rights
Christian Albers, MTh, Westfälische Wilhelms- Universität Münster

The Programme to Combat Racism (PCR) as a challenge for the unity of churches

The Programme to Combat Racism and the "Glocalization" of the churches
Sebastian Tripp, Ruhr-Universität Bochum

The WCC, Apartheid and Swiss Churches, 1969-1983
Eric Morier-Genoud, Queen’s University Belfast

PCR from an African Perspective
Tapiwa Mapuranga

V. Global Debates and National Backlashes

A Divided Nation in a Divided World: the Kirchentag and the Globalization of German Protestantism in the 1950s and 1960s
Benjamin C. Pearson, Tusculum College

Comment by Dr. Peter Morée, Czech Republic

VI. Globalization and Unity – a Historical Utopia of the 1960s?

Statements
Stephen Brown, Geneva
Odair Pedroso Mateus, Geneva

Anmerkung:
1 Vgl. Siedfried Hermle u.a. (Hrsg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2007; Klaus Fitschen u.a. (Hrsg.), Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2011.


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts