„den Holocaust erinnern“. Zeitzeugen als historische Quelle in Unterricht und Wissenschaft

„den Holocaust erinnern“. Zeitzeugen als historische Quelle in Unterricht und Wissenschaft

Organisatoren
Abteilung Ostwestfalen-Lippe des Landesarchivs NRW
Ort
Detmold
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.02.2011 -
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Von
Julia Rains, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen

Anlässlich des Jahrestags der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 und des Gedenkens an die Opfer des Holocaust veranstaltete die Abteilung Ostwestfalen-Lippe des Landesarchivs NRW am 3. Februar 2010 ein Symposion. Im Zentrum stand hierbei der Umgang mit Ego-Dokumenten und Oral-History-Quellen von Zeitzeugen des NS-Regimes im aktuellen geschichtswissenschaftlichen und -didaktischen Kontext. Das Symposion verband archivfachliche Entwicklungen im Hinblick auf eine historische Quellenanalyse mit der geschichtsdidaktischen Perspektive und der historisch-politischen Bildungspraxis. Die angereiste Teilnehmerschaft konstituierte sich aus Kreisen der Historiker/innen, Archivar/innen, Lehrer/innen, anderen in der historisch-politischen Bildungsarbeit Aktiven und Schüler/innen.

In seinen einleitenden Worten sensibilisierte CHRISTIAN REINICKE (Detmold) für die Spezifik der lebensgeschichtlichen Quellen. Er verdeutlichte den Teilnehmern/-innen die fachlichen und psychologischen Grenzen der Oral History. Jetzt, da sich die Gesellschaft vor einem Umbruch vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis befinde, werde der biologisch determinierte begrenzte Rahmen von lebendiger Zeitzeugenschaft dem öffentlichen Diskurs besonders deutlich.

BETTINA JOERGENS (Detmold) steckte den Rahmen ab für die Fragestellungen des Symposions. Wie könne man im Gedenken den Opfern eine Stimme geben und sich auf die von ihnen erinnerte Erfahrung einlassen? In welchem Verhältnis stehe die erzählte Erinnerung zu schriftlichen Quellen? Wie könne erinnert werden, wenn immer weniger Augenzeugen vom Holocaust berichten könnten?

Joergens verwies auf die zunehmende Bedeutung und das öffentliche Interesse an Zeitzeugenberichten. Leider würden uns die Zeitzeugen in Person für die Wissenschaft und das kommunikative Gedächtnis nicht mehr sehr lange erhalten bleiben. Außerdem müssten Formen und Modi gefunden werden, wie den Opfern der Verfolgung Menschlichkeit zuteil werden könne. Das spezifische und komplexe Gefüge von Erinnerungsstrukturen verpflichte zu einer methodisch reflektierten Erforschung von Oral-History-Quellen.

FRIEDHELM BOLL (Bonn/Kassel) thematisierte die spezifische Rolle und den Verdienst der Zeitzeugen im Bezug auf die historische Erforschung der Lebensgeschichte antisemitisch Verfolgter und anderer Opfer des NS-Regimes. Boll griff Beispiele aus dem aktuellen Diskurs auf und bezog sich dabei vor allem auf das Gedenken der Opfer des Holocaust anlässlich des o.g. Jahrestags. Boll führte den Teilnehmern den Facettenreichtum der Quellen vor Augen und unterschied die literarisch-schriftstellerische und die wissenschaftliche Verarbeitung von Erinnerung. Er stellte die spezifische Bedeutung der frühen Berichte der Zeitzeugen heraus, die auch ein wichtiger Ausgangspunkt für die Ahndung der Verbrechen in den Konzentrations- und Arbeitslagern durch die alliierten Besatzungsmächte nach dem Krieg waren. Das Buch „Wir weinten tränenlos. Augenzeugenberichte des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz"1, könne hier als beispielhaftes Produkt eines umfangreichen Projektes angesehen werden.

Boll stellte eindrücklich heraus, dass viele, auch Elie Wiesel und Primo Levi, unter der unauflöslichen Spannung des Wunsches zu vergessen und der Pflicht zu berichten, erzählen. Auch Zeitzeugen selbst hätten so aktiv die Gedenkkultur bis heute diskursiv mitgeprägt und ein Bewusstsein dafür geschaffen, wie schwierig und sensibel die Themen Vergangenheitsbewältigung, Erinnerung und Gedenkauftrag zu handhaben seien. Während lange Zeit die These von der Nichtkommunizierbarkeit des Holocaust als Phänomen sui generis im Raum stand, durchbrachen im Laufe der Jahrzehnte eine Vielzahl an Zeitzeugen ihr Schweigen und stellten sich der Herausforderung einer persönlichen Vergangenheitsbewältigung. Trotzdem seien auch die in jüngster Vergangenheit geführten Interviews nicht etwa frei von den erschwerten Umständen und dem Einfluss der diskursiven Maxime von der Nichtsagbarkeit.

Adornos These „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben"2, verdeutlicht im literarischen Diskurs der Vergangenheitsbewältigung die Schwierigkeit des Sprechens, Schreibens und Sich-Ausdrückens über den Holocaust. Wissenschaftliche Untersuchungen wie zum Beispiel die Harald Welzers (vergleiche „Opa war kein Nazi“3) als sozialpsychologische Analyse der Nichtkommunizierbarkeit des Themas der Täterschaft innerhalb von Familien kamen zu dem Schluss, dass sie teilweise eine Viktimisierung oder Heroisierung zur Folge habe.

Boll legte sodann einige Spezifika von Oral-History-Quellen dar, die eine vorsichtige, aspektorientiert fokussierte und quellenkritische Analyse erforderten. So fehle in Zeitzeugeninterviews häufig der „rote Faden“, obschon es sich um eine lebensgeschichtliche Erzählung handele, die strukturell teleologische Tendenzen vermuten lasse. Vor allem jüdische Überlebende könnten oft narrativ keine „Erklärung“ für ihr individuelles Überleben generieren. Hier zeige sich, was auch Primo Levi in seinem letzten Buch (italienische Originalausgabe „I sommersi e i salvati“ aus dem Jahr 1986) problematisiert habe. Nur die „Untergegangenen“ oder „Muselmänner“ (Levi) hätten Kenntnis vom wahren Umfang des Grauens. Bezüglich des Überlebens lasse sich für die Identität des Individuums kein befriedigender und rational erklärbarer Grund finden.4 Im Bezug auf die Shoah sei gleichsam die Verbindung zwischen Schicksal und Individualgeschichte aufgehoben. Es komme zu einem Zerfall der narrativen Zeit und der Kern der Erzählung werde oft ausgelassen.

Heute jedoch, nach der Relativierung der Maxime von der Unkommunizierbarkeit, eigneten sich Oral-History-Quellen auch und gerade zur geschichtswissenschaftlichen Analyse.5 So könnten auch Erinnerungsmodi und narrative Komponenten untersucht werden. Erlebnisberichte von Zeitzeugen könnten den Status einer nachträglichen Selbstvergewisserung haben oder aber auch Verdrängungsmomente sichtbar machen, die für das Individuum nötig seien, um sich für neue Erfahrungen im Leben zu öffnen.

Der nächste Vortrag widmete sich einem speziellen Quellenbestand des Landesarchivs NRW. Im Vortrag „Interviews mit antisemitisch Verfolgten“ wurde das Interview- und Dissertationsprojekt von JOACHIM MEYNERT (Minden) den Historiker/innen, Archivar/innen, Lehrer/innen und Schüler/innen vorgestellt. Aus Krankheitsgründen konnte Meynert nicht am Symposion teilnehmen, jedoch wurde der Vortragstext vorgelesen.

Joachim Meynert hatte in den 1980er-Jahren viele Opfer von antisemitischer Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus mittels eines Fragebogens zu ihren Erinnerungen befragt. Von einigen konnte er die Einwilligung für ein Treffen und ein Interview einholen. Er führte die Interviews in den Jahren 1981-1993 im Raum Ostwestfalen-Lippe aber auch im Ausland (zum Beispiel Israel, England, Niederlande) durch. Die Auswertung der qualitativen Interviews mündete in Meynerts Regionalstudie „Was vor der ‚Endlösung’ geschah. Antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung in Minden-Ravensberg 1933 - 1945“6. (Vergleiche auch die 1998 erschienene Publikation „Die letzten Augenzeugen zu hören. Interviews mit antisemitisch Verfolgten aus Ostwestfalen“7.)

Joachim Meynert legte in seinem Vortrag den Forschungskontext seines in den 1980er-Jahren innovativen, aber nicht allgemein akzeptierten historischen Ansatzes der Oral History und die Entstehung der nunmehr archivierten Tonbandkassetten dar. Er wies darauf hin, dass die Interviews in den 1980er und 1990er-Jahren vor einem anderen Erwartungs- und Fragehorizont geführt wurden als man sie heute führen würde. Daher sei die Zeitzeugenbefragung auch methodisch historiografisch zu kontextualisieren.

Im folgenden Referat wurden die Informationen von Bettina Joergens in einen größeren archivfachlichen und geschichtskulturellen Kontext gebettet. Das Landesarchiv sowie andere staatliche Archive lagerten nicht nur Dokumente staatlicher Überlieferung sondern würden auch nicht-staatliche Dokumente übernehmen, darunter auch Tondokumente, wie den 1993 per Depositalvertrag von Joachim Meynert übernommenen Quellenkorpus. Auf diese Weise seien durch historische Forschung wiederum historische Quellen und Archivalien in doppeltem Sinne generiert worden.

Insofern sei das Archiv kein statischer Wissensspeicher der Gesellschaft, wie es landläufig versinnbildlicht werde. Denn Wissen sei das Ergebnis eines Konstruktionsprozesses, wie auch der Bestand der Tonbänder aus dem Projekt Meynerts zeige. Mit dieser Tagung und der erneuten Auswertung der Interviews würde verdeutlicht, dass das Archiv kein Lager von fixierten Wahrheiten sei, sondern sich somit vielmehr an der Geschichtsinterpretation beteilige. Bettina Joergens warb in diesem Sinne für die Arbeit mit und an dem Quellenbestand D 80 A. Sie plädierte damit auch für das Einbeziehen des „subjektiven Faktors“ in die Geschichtswissenschaft und die Reflexion über die Historiografie der Oral History, wie sie an diesem Bestand exemplarisch erfolgen könne.

Die Komplettierung der Verschriftlichungen bzw. Transkriptionen der Gespräche, ergänzende Übersetzungen englischsprachiger Passagen sowie die Digitalisierung im Sinne der besseren Benutzbarkeit und zum Schutze der Tonbandkassetten befinden sich in der Vorbereitungsphase. Eine bestandsnah angelegte Staatsexamensarbeit einer jungen Nachwuchsforscherin, in der vor allem das Erleben des Holocaust als Kind und die lebensgeschichtliche Narration Jahrzehnte danach im Fokus stehen, wurde 2010 an der WWU Münster eingereicht.

Der letzte Vortrag des Nachmittags widmete sich verstärkt der didaktischen Perspektive. ALFONS KENKMANN (Leipzig) referierte über den praxisnahen Einsatz von Oral-History-Quellen. Hierbei werde auch der Blick auf uneindeutiges Erzählen gelenkt und die Perspektive eröffnet, dass auch von einem mündlichen Bericht einer (un-)mittelbar beteiligten Person kein Wahrheitsanspruch ausgeht, sondern dass es vielmehr unter quellenkritischen Gesichtspunkten um die Subjektivität der Erinnerung gehe. Im Unterricht eingesetzt gebe das Zeitzeugengespräch Anregungen für neue Fragestellungen, halte zur Rekonstruktion alltäglicher Lebenswelten an, wecke Interesse für weitere historische Recherchen und trage darüber hinaus zur Offenlegung historischer Erfahrungsmuster bei. Mit dem Wegfall der Zeitzeugen verliere die Gesellschaft und damit auch die Schule die Authentizität der individuellen Erinnerung. Außerdem problematisierte Kenkmann das Feld des vermeintlichen Lernens aus der Geschichte und des Postulats „Nie wieder Auschwitz“. Der Gegenwartsbezug dürfe sich nicht zu einer Form kategorialer Alleinherrschaft erheben. Dennoch sei und bleibe die Zeitzeugenerfahrung von zentraler Bedeutung für das kommunikative wie das kulturelle Gedächtnis unserer Gesellschaft.

Der Nachmittag stellte für alle beteiligten Vortragenden und Teilnehmenden ein ertragreiches und anregendes Symposion dar, das auch unter dem Anspruch des Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis als gelungen bezeichnet werden kann. In den Diskussionen beteiligten sich auch zahlreiche Teilnehmer aus dem Schuldienst oder der historisch-politischen Bildung. Sie nahmen die Gelegenheit war, von den Vortragenden Anregungen für die alltägliche Praxis zu erhalten und trugen zur Bereicherung der Diskussion bei.

Die Rückbindung der geschichtsdidaktischen und archivfachlichen Praxis an aktuelle Forschungstendenzen und den geschichtswissenschaftlichen Diskurs war bezogen auf das Rahmenthema des Symposions für Holocaustforschung, Archivwissenschaft und Geschichtsdidaktik bzw. die Praxis der historischen Bildungsarbeit sehr fruchtbar. Es wäre wünschenswert, wenn Berichte aus der historischen Forschung auch in künftig stattfindenden Symposien stärker an die Lehrpraxis rückgebunden würden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Christian Reinicke, Landesarchiv NRW Abt. OWL

Schweigen ist Schuld – Zur Bedeutung der Zeitzeugen für die Holocaustforschung
Friedhelm Boll, Universität Kassel

Interviews mit antisemitisch Verfolgten: das Interviewprojekt
Joachim Meynert, Stadt Minden

Archivierte Erinnerung: Die Tonbänder im Bestand D 80 A des Landesarchivs NRW
Bettina Joergens, Landesarchiv NRW Abt. OWL

Vom Umgang mit „Zeitzeugen“ im Unterricht: Geschichtsdidaktik und Oral History
Alfons Kenkmann, Universität Leipzig

Anmerkungen:
1 Gideon, Greif, Wir weinten tränenlos. Augenzeugenberichte der jüdischen „Sonderkommandos“ in Auschwitz, [Aus dem Hebr. übers. von Matthias Schmidt] Köln 1995.
2 Theodor W. Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Berlin 1955. S. 26.
3 Harald Welzer u.a., Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Unter Mitarbeit von Olaf Jensen und Torsten Koch, Frankfurt am Main 2002. Siehe auch: Hinrich Paul, Brücken der Erinnerung. Von den Schwierigkeiten, mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umzugehen, Herbholzheim 2002.
4 Vgl. das Levi-Zitat „Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir langsam bewußt geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wiedergelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit: wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben.“ Primo Levi, Die Untergegangenen und die Geretteten, München 1991. S. 83.
5 Vgl. auch Friedhelm Boll, Sprechen als Last und Befreiung. Holocaust-Überlebende und politisch Verfolgte zweier Diktaturen. Ein Beitrag zur deutsch-deutschen Erinnerungskultur (Veröffentlichungen des Instituts für Sozialgeschichte e.V. Braunschweig/Bonn), Bonn 2003.
6 Joachim Meynert, Was vor der „Endlösung“ geschah. Antisemitische Ausgrenzung und Verfolgung in Minden-Ravensberg 1933-1945. Zugleich Paderborn, Univ., Diss., 1988 unter dem Titel: Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung antisemitisch Verfolgter im nördlichen Regierungsbezirk Minden während der Zeit des Nationalsozialismus - Einstellungen und Reaktionen der Betroffenen, Münster 1988.
7 Joachim Meynert, Die letzten Augenzeugen zu hören. Interviews mit antisemitisch Verfolgten aus Ostwestfalen, Bielefeld 1998.


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