Renovatio et unitas. Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der reformatio im 15. Jahrhundert

Renovatio et unitas. Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der reformatio im 15. Jahrhundert

Organisatoren
Thomas Frank / Norbert Winkler, DFG-Forschergruppe „Topik und Tradition“, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.02.2011 - 19.02.2011
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Von
Thomas Frank, Università degli studi Pavia / Freie Universität Berlin; Norbert Winkler, Freie Universität Berlin

Zu dem Workshop hatten die Bearbeiter der DFG-Projekte „Hospitalreformen, 14.-16. Jahrhundert“ und „Intellekttheorie und Ethik“ (DFG-Forschergruppe „Topik und Tradition“, Freie Universität Berlin), Thomas Frank und Norbert Winkler, Interessenten aus Geschichtswissenschaft und Philosophie nach Berlin eingeladen. Ziel war, es nicht bei einer Neulektüre der Reformschriften oder einer Rekapitulation der bekannten Reformmaßnahmen des Cusanus zu belassen, sondern auch sein theologisch-philosophisches Œuvre daraufhin zu befragen, ob und wie Nikolaus sein Reformhandeln theoretisch begleitet hat und inwiefern diese Schriften ihrerseits eine Reform des Wissens darstellen. Dass ein solcher Versuch, systematische Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis bei einer komplexen Figur wie Nikolaus von Kues herzustellen, nicht leicht umzusetzen ist, wurde von den meisten Teilnehmern in der Schlussdiskussion hervorgehoben. Diese sachliche Schwierigkeit findet ihre Entsprechung in der Differenz der disziplinären Gesprächskulturen: Um Philosophen und Mittelalterhistoriker miteinander kommunizieren zu lassen, bedarf es, abgesehen von der notwendigen Offenheit, eines gewissen Aufwands an diskursiver Energie. Das begann schon mit der Frage, welcher Stellenwert dem Begriff der unitas beigemessen werden kann und setzte sich mit dem – unabgeschlossenen – Bemühen um einen gemeinsamen Reformbegriff fort: Während die Historiker sich üblicherwiese auf konkrete Reformaktionen oder die praxisorientieren Reformschriften des Cusanus konzentrieren, tendieren die Philosophen dazu, die Reform in seinen spekulativen Werken zu suchen und diese als Reform des Wissens zu lesen.

Der Gefahr einer Separierung der ‚realen’ Reformgeschichte von der theoretischen Metareform wollte der Workshop auf zweierlei Weise begegnen: zum einen durch das Bemühen der Mediävisten, auch auf die begrifflichen und rhetorischen Aspekte ihrer Texte zu achten, und zum anderen durch die Struktur des Programms, das so angelegt war, dass historische Fallstudien und die philosophische Reflexion reformrelevanter Konzepte des Cusanus miteinander abwechselten. Nachdem MATTHIAS THUMSER (Berlin) die Tagung mit einem Überblick über das Leben des Cusanus eröffnet hatte, führten THOMAS FRANK (Pavia/Berlin) aus historischer und NORBERT WINKLER (Berlin) aus philosophischer Sicht in die Fragestellung ein. Die Problematik, aber auch die Produktivität und Konflikthaltigkeit mittelalterlicher Reformkonzepte machte Frank an zwei Ambivalenzen fest: einerseits dem Oszillieren (christlicher) Reform zwischen Korrektur des Individuums und Besserung der Institutionen und andererseits der Spannung zwischen der Rückschau auf eine wiederherzustellende idealisierte Vergangenheit und einer auf die Zukunft gerichteten reformatio in melius. Sein Plädoyer, Reform-Argumentationen als rhetorische Leistungen zu untersuchen, exemplifizierte er an den von Cusanus eingesetzten Narrativen und Metaphern, insbesondere der für Kirche und Reich stehenden Körper-Metapher. Norbert Winkler beschrieb, wie Cusanus in seine Reform philosophisch-theologischen Weltbegreifens wichtige Elemente der Metaphysik Meister Eckharts aufgenommen hat. Da Nikolaus zugleich jedoch Rationalisierungen, die Eckhart über seine Logos-Metaphysik bis tief in die Theologie hineingetrieben hatte, wieder zurückgenommen habe, habe er diese Eckhartsche Reform reformiert und ganz entschieden die Akzente versetzt. Der Kanonist Cusanus setze im Endeffekt ganz auf die Reform der Institution Kirche, der großen Mittlerin. Hierarchien wolle er nicht eigentlich abschaffen, sondern gesetzlich regeln, wie sie in kompetenzförderndem Sinne durchlässiger werden. Auch halte Cusanus an wesentlichen Elementen traditioneller Christologie fest und legitimiere die sakramentalen Vermittlungsformen zum Heil, die allein die Kirche in Form der Sakramente verwahrt. Andererseits gehe er aber über Eckhart weit hinaus, wenn er dem Satz des Protagoras, „der Mensch ist das Maß der Dinge“, einen aktivistisch-konstruktiven Sinn einwebt. Es zeige sich, so Winkler, dass seine Reform sowohl Zugewinne als auch Verluste in sich vereint.

Vor allem der von Winkler betonte Zusammenhang zwischen Christologie und traditioneller Ekklesiologie bei Cusanus wurde kontrovers diskutiert. Isabelle Mandrella wollte dem institutionellen Aspekt ein erheblich geringeres Gewicht zugestehen, während HANS GERHARD SENGER (Köln) die These Winklers sowohl in der Diskussion als auch in seinem anschließenden Vortrag stützte. Er erläuterte die ekklesiologische Reflexion des Cusanus am Beispiel der Auseinandersetzung mit den Hussiten. Grundlegend für Nikolaus’ Argumentation gegen den hussitischen Anspruch auf den Laienkelch sei der für alles Sein konstitutive Begriff der Einheit, doch um unitas zu erreichen, bedürften die Geschöpfe ständiger Erneuerung. Allerdings sei der renovatio-Begriff in den Hussiten-Schriften untypischerweise negativ konnotiert, als schädliche Neuerung, wogegen die Einheit (der Kirche unter einheitlicher Leitung) besonders stark herausgestellt werde. Die Einheit aufgegeben zu haben, sei der zentrale Vorwurf an die Böhmen. Erst wenn sie zur Kirche zurückgekehrt seien, würde für Cusanus ein Sonderritus wie der Laienkelch denkbar. Nikolaus erweise sich im Hinblick auf Abweichungen in der Praxis als erstaunlich flexibel, solange die Geschlossenheit der einen Kirche gewahrt sei.

THOMAS IZBICKI (Rutgers) analysierte eine Predigt, die Nikolaus im Jahr 1443 anlässlich einer Visitation des Kanonikerstifts St. Simeon in Trier gehalten hat (Sermo 29 in der Heidelberger Werkausgabe), im Hinblick auf das Konzept der Legation oder Delegation, das für Cusanus’ Repräsentationsbegriff in De concordantia catholica, aber auch noch in seinen späteren Schriften große Bedeutung hat. Während legatio in der Concordantia eher als Beauftragung von unten (durch Wahl) gedacht sei, rekurriere Nikolaus später, so 1443 und auch in anderen Predigten, auf Bilder und biblische Belege, die für Delegation von oben stehen: Bischöfe oder Papst als Beauftragte Christi, Christus als Legat Gottes oder der caritas. 1459, als er selbst Papstlegat ist, sehe Cusanus in der Legation ein geeignetes Mittel zur Durchführung kirchlicher Reformen. Er verbinde, wie auch in der Diskussion hervorgehoben wurde, das Konzept der Legation mit einer anderen Figur der Beauftragung: der Verpflichtung, die sich für jedermann, insbesondere jeden Geistlichen, aus dem Namen seines Amtes oder Standes ergibt. Demnach hätten ‚Regularkanoniker’ wie die von St. Simeon der etymologischen Bedeutung dieser Statusbezeichnung (regula, canones) zu gehorchen.

Für den erkrankten Johannes Helmrath sprang kurzfristig THOMAS WOELKI (Berlin) mit einem Bericht über die Acta Cusana ein, deren Fortsetzung jetzt von einer Forschungsstelle der Humboldt-Universität Berlin übernommen worden ist. Die erste Lieferung des zweiten Bandes, der die Jahre 1452-1458 abdecken wird, sei so weit fortgeschritten, dass sie in absehbarer Zeit zum Druck gebracht werden könne.

THOMAS LEINKAUF (Münster) erörterte die „Reformation des Möglichkeitsbegriffs“ durch Cusanus. Die Seinsmetaphysik, so seine zentrale Beobachtung, mache einem Möglichkeitsdenken Platz, worin die Voraussetzung von Wirklichkeit thematisiert sei. Sehr bewusst tausche der späte Cusanus die Gottesbestimmung des Sein-selbst (esse ipsum) durch das alles begründende Können-Ist (possest) aus. Das Können (posse), so Leinkauf, werde zur Grundsignatur des menschlichen Wesens, und so löse Cusanus den neuplatonischen Ternar „essentia (esse) – virtus (vis) – operatio (actio)“ durch den Ternar „posse – virtus – operatio“ ab. Das bedeute, dass der Mensch im Modus des „se explicare“ alles aus der Möglichkeit des Zentrums entfalten könne. Aber seine Reflexion des eigenen Tuns sei auch wieder Einfaltung, denn der Mensch könne mit seinem Möglichkeitsraum bewusst umgehen; er verfüge über eine „vis infinita mentis“, auch wenn seine Handlungen dieses Potenzial niemals auszuschöpfen vermögen und das Potenzial der virtus über endliche Handlungen stets hinausreiche. Über operatio und actio definiere sich das Ausdrucksfeld des Menschen. Darin seien die kategorialen Basisoperationen, die Innenseite des Handelns, nicht identisch mit der Außenseite, den einzelnen praktischen Handlungen, fundierten diese aber. Die Willensfreiheit des Menschen sei jedoch, wie Leinkauf in der Diskussion präzisierte, nicht als Entscheidungsfreiheit des Menschen im dezisionistischen Sinn zu verstehen.

JÜRGEN DENDORFER (Eichstätt) ordnete die Reformatio generalis, einen von Cusanus 1459 verfassten Vorschlag zur Reform von Kurie und Kirche, in den Kontext der Kurienreform unter Pius II. ein. Dieser Humanistenpapst setzte eine Reformkommission ein, der außer seinem Freund, dem Kardinal Nikolaus von Kues, unter anderem auch der Theologe Domenico de’ Domenichi angehörte (kein Kuriale im engeren Sinn, sondern Professor an der Kurienuniversität, wie Brigide Schwarz in der Diskussion anmerkte). Sowohl die Kommission als auch einzelne ihrer Mitglieder haben Entwürfe vorgelegt, die schließlich in Pius’ Reformbulle Pastor aeternus eingegangen sind. Dendorfer fragte nach den „intellektuellen Vorannahmen“, von denen diese Debatten geprägt seien, und konstatierte, dass die Reformdekrete des Konzils von Basel in überraschend hohem Maße an der Kurie rezipiert worden seien: am wenigsten jedoch von Cusanus, dessen Reformatio generalis sogar ein gewisses Desinteresse an konkreten Reformen spüren lasse. Die Diskussion des Referats drehte sich zum einen um die (vorsichtig bejahte) Frage, ob Cusanus eine Handlungstheorie (aber keine Ethik!) entworfen hat, deren praktische Spuren sich zum Beispiel in der um 1460 an der Kurie geführten Debatte aufdecken lassen; zum anderen um Nikolaus’ Vorstellung von Reichweite und Begrenzbarkeit der päpstlichen Macht.

THOMAS FRANK (Pavia/Berlin) stellte den letzten Reformversuch vor, den Nikolaus von Kues in seinem Leben unternommen hat: sein Auftreten 1463 als Visitator und Reformator der Kirchen und Hospitäler von Orvieto. Hauptmaßnahme wäre die Inkorporation der über die Stadt verteilten kleinen Hospitäler in das größere Domhospital gewesen, ein Plan, den die Kommune Orvieto so lange hintertrieben habe, bis der Kardinal 1464 verstarb. Dessen Interesse an Hospitälern könnte von seiner eigenen Hospitalstiftung in Kues sowie dem gleichzeitigen Großprojekt des Mailänder Ospedale Maggiore, über das er zweifellos informiert war, angeregt worden sein. Das Beispiel der Orvietaner Hospitalreform gebe Anlass, das enge Verhältnis von Reform und Recht auf seine Ambivalenzen zu überprüfen, die sich zum einen im Charakter der kanonistischen Diskussion (Verhinderung oder Förderung einer Reform?) und zum anderen im Gesetzesbegriff des Cusanus (Reformgesetz von oben oder mit Konsens von unten?) festmachen ließen.

GISELA NAEGLE (Gießen) verglich die Überlegungen des Cusanus zur Reichsreform (De concordantia catholica, Buch III) mit zwei anderen, etwa gleichzeitigen politischen Reformvorschlägen: dem mehr auf eine künftige Italienpolitik Friedrichs III. ausgerichteten Pentalogus des Enea Silvio Piccolomini und den Schriften des Jean Jouvenel des Ursins, Bischof im Dienst der französischen Krone unter Karl VII. und Ludwig XI. (vor allem Jouvenels Epître von 1433). Vergleichskriterien waren Sprache und Stil, der Umgang mit den Quellen, Begriffe wie ‚Gemeinwohl’ und die Verwendung von Metaphern bei den drei Autoren. Wie Cusanus reize auch der französische Prälat die Potenziale der mit medizinischer Akribie auf das Reich angewandten Körpermetapher genüsslich aus und gelange gegenüber König Karl VII. zu kritischen Zeitdiagnosen, in denen er das Ideal der Eintracht der allenthalben beobachteten Zwietracht entgegenstelle. Eines der wichtigsten Reformnarrrative sei bei ihm das Drohbild einer künftigen Revolution, mit der beim Ausbleiben geeigneter Gegenmaßnahmen zu rechnen sei.

Auch FLORIAN HAMANN (London) öffnete den geografischen Horizont, indem er über Theologen und Intellektuelle, auch Byzantiner, berichtete, die für einen Vergleich mit Nikolaus von Kues herangezogen werden können: nicht auf dem Feld der politischen Reformen, sondern dem der christlichen Auseinandersetzung mit dem Islam. Lange bevor Cusanus seine religionsvergleichende Schrift De pace fidei und später seine Korankritik abfasste, habe er eine lateinische Koran-Übersetzung besessen, über die er sich mit dem Basler Konzilsvater Johannes von Segovia ausgetauscht habe. Sein Kölner Lehrer Heymericus de Campo habe in einem Traktat über die Machtverteilung in der Kirche eine ganze Reihe von teils erstaunlichen Argumenten aus dem Koran vorgebracht, mit deren Hilfe er konziliare oder päpstliche Positionen durchspielte. Die Erforschung des westlichen (bzw. christlichen) Islambilds könne gerade für die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts, also die Zeit vor dem Fall Konstantinopels 1453, noch nicht als abgeschlossen gelten. Wie die Diskussion zeigte, ist die christliche Koranlektüre des 15. Jahrhunderts, etwa die des Cusanus, doppelbödiger, als es zunächst scheinen mag, und enthält sowohl Elemente der Anerkennung bestimmter koranischer Prinzipien als auch Versuche, den Koran mit dem Christentum kompatibel zu machen.

Der Workshop – ähnlich wie die von Norbert Winkler eingangs diagnostizierte Verlust- und Gewinnbilanz der theoretischen Reformen des Cusanus – hat nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch die Chancen einer historisch-philosophischen Gemeinschaftsarbeit an einer Reformerpersönlichkeit deutlich gemacht.

Konferenzübersicht:

Matthias Thumser (FU Berlin)
Begrüßung und Einführung

Thomas Frank (Univ. Pavia / FU Berlin)
Mittelalterliche Reformkonzepte

Norbert Winkler (FU Berlin)
Reform der Reform – des Cusanus’ renovatio der Eckhartschen Denkungsart unter christologischem Vorbehalt

Sektion I
Moderation Daniela Rando (Univ. Pavia)

Hans Gerhard Senger (Univ. Köln)
Renovatio und unitas als cusanische Leitideen in der literarischen Auseinandersetzung mit den hussitischen Böhmen

Thomas M. Izbicki (Univ. Rutgers, New Jersey)
Cusanus Preaches Reform: The Visitation of St. Simeon, Trier 1443

Thomas Woelki (HU Berlin)
Die Fortsetzung der Acta Cusana (Kurzbeitrag)

Sektion II
Moderation Isabelle Mandrella (Univ. Mainz)

Thomas Leinkauf (Univ. Münster)
Nicolaus Cusanus zwischen Tradition und Innovation – Die ‚Reformation’ des Möglichkeitsbegriffs

Jürgen Dendorfer (Kath. Univ. Eichstätt)
Die Reformatio generalis des Nikolaus von Kues zwischen den konziliaren Traditionen zur Reform in capite und den Neuansätzen unter Papst Pius II.

Thomas Frank (Univ. Pavia / FU Berlin)
Cusanus und die Reform der Hospitäler von Orvieto

Gisela Naegle (Univ. Gießen)
„Mortalis morbus imperium Germanicum invasit“: Cusanus und seine Zeitgenossen als „Reichsreformer“

Florian Hamann (eFinancialCareers, London)
Neue Ansätze in der Auseinandersetzung mit dem Islam im 15. Jahrhundert

Schlussdiskussion, Moderation Matthias Thumser (FU Berlin)


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