Raum. Theorie und Figuration

Raum. Theorie und Figuration

Organisatoren
Stephan Brössel; Julia Ilgner; Lukas Werner; Promotionskolleg "Geschichte und Erzählen", Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; AG "Erzählforschung", Zentrum für Graduiertenstudien, Bergische Universität Wuppertal; Zentrum für Erzählforschung, Bergische Universität Wuppertal
Ort
Freiburg im Breisgau
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.01.2011 - 22.01.2011
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Von
Julia Ilgner, Deutsches Seminar II, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg; Stephan Brössel / Lukas Werner, Fachbereich A: Germanistik, Bergische Universität Wuppertal

Der Doktoranden-Workshop "Raum. Theorie und Figuration", der im Rahmen der Kooperation des Promotionskollegs "Geschichte und Erzählen" (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) mit der AG "Erzählforschung" des Zentrums für Graduiertenstudien sowie des Zentrums für Erzählforschung (Bergische Universität Wuppertal) am 21. und 22. Januar 2011 in Freiburg stattgefunden hat, näherte sich dem Phänomen "Raum" aus interdisziplinärer Perspektive. Die Organisatoren Stephan Brössel, Julia Ilgner und Lukas Werner formulierten bereits im Vorfeld drei Ziele: Erstens sollten historisch und kulturell variable Figurationen von Raum analytisch in den Blick genommen werden, zweitens galt es, die Möglichkeiten und Grenzen von Raumtheorien zu verhandeln und, drittens, nach den besonderen Erfordernissen einer Narratologie des Raumes zu fragen.

Aus der Engführung raum- und erzähltheoretischer Fragen wurden im Dialog zwischen Literaturwissenschaftlern und Historikern Impulse freigesetzt: Der offen-integrative Charakter des Workshops basierte auf den großzügigen Diskussionszeiten im Anschluss an die einzelnen Vorträge ebenso wie auf zwei Plenumsgesprächen, die auch den auswärtigen Gästen aus Gießen, Göttingen, Kassel, Darmstadt und Saarbrücken Möglichkeit zur Teilnahme boten. Thematisch umfassten die sechs Vorträge und zwei Diskussionsrunden Fragen nach dem Zusammenhang zwischen kulturellen Praktiken und Raum. Darüber hinaus vermittelten sie zwischen realen Erfahrungen und fiktionalen Darstellungen sowie zwischen ästhetischen Figurationen und sozialen Funktionen. Vier Sektionen nahmen je einen spezifischen Aspekt in den Blick: Die erste Sektion widmete sich aus phänomenologischer Perspektive der Erfahrung von Raum und fragte nach der kulturellen Transformation derselben im Kontext künstlerischer Tätigkeit. In der zweiten Sektion rückten Bedingungen und Modi der Raumkonstruktion, die daraus resultierenden Semantisierungen und die mentalen Prozesse, die raumbasiert und für das Verstehen narrativer Texte entscheidend sind, in den Fokus. Den Genres Literatur und Film als medialen Möglichkeitsräumen widmete sich die dritte Sektion. Schließlich thematisierte die vierte Sektion Erinnerungsräume mit ihrer besonderen Funktionsweise im Spannungsfeld von "Gemachtheit" und kultureller Selbstverständigung.

Ausgangspunkt der ersten Sektion war die reale Erfahrung von Raum, die aus phänomenologischer Perspektive im Rückgriff auf Edmund Husserl von IRENE BREUER (Wuppertal) rekonstruiert und in Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Architektur behandelt wurde. Mit der Diskussion von Erwin Panofskys Aufsatz "Die Perspektive als 'symbolische Form'" wurde nicht nur das Augenmerk auf Formen der Repräsentation von Raum gerichtet, sondern auch das Moment der historisch-kulturellen Variabilität von Raumentwürfen eingeführt.

Ein prospektiver Aufriss gelang Breuer in ihrem Auftaktreferat am Beispiel der Atopie. Indem sie die Architektur als Medium und Form der Verarbeitung symbolischer Typen deklarierte, griff sie Leitgedanken Panofskys auf. Als Analysegegenstand fungierte dabei die "Atopie", das utopische Ideal eines "Un-Ortes", außerhalb einer als homogen und endlos verstandenen Raumwelt (Husserl). Die Adaption Panofskys erwies sich in doppelter Weise als fruchtbar: erstens im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand, die zeitgenössische Architektur (unter anderem Zaha Hadid), sowie zweitens hinsichtlich der hermeneutischen und phänomenologischen Methode (Husserl, Derrida). So erlaube die Atopie Breuer zufolge ex negativo Aussagen über Verfahrensweisen, Funktion und Intentionalität von Architektur zu treffen und diese in ihrem ästhetischen Code (gemäß Peter Eisenmans Diktum der "Architektur als Text") lesbar zu machen.

Die erste Diskussionsrunde widmete sich Panofskys Aufsatz "Die Perspektive als 'symbolische Form'" (1927) und schlug somit den Bogen von der realen Erfahrung des Raumes zu Formen seiner kulturellen Repräsentation. In einem Impulsreferat skizzierten JULIA ILGNER (Freiburg) und LUKAS WERNER (Wuppertal) zum einen Ernst Cassirers "Philosophie der Symbolischen Formen" als Panofskys theoretischen Bezugspunkt, an den er seine Darstellung des Perspektivwandels vom antiken "Aggregatraum" über die Homogenisierung der Fläche im Mittelalter bis hin zum "Systemraum" der Moderne anbindet. Zum anderen rekonstruierten sie die zentralen Kritikpunkte an Panofskys "Evolutionsgeschichte der perspektivischen Darstellung in der Kunst", wie sie von prominenter Seite unter anderem von William J.T. Mitchell formuliert wurden: Die Argumentation Panofskys oszilliere wiederholt zwischen Empirie und Konstruktion, vermische die Ebenen der Wahrnehmung und derjenigen der Darstellung, so das Fazit.

Als aufschlussreich erwies sich in der Diskussion vor allem die Rekonstruktion von Panofskys komplexer Argumentation, denn er operiere, so die Diskutanten einvernehmlich, zeitgleich auf mehreren Differenzebenen: Der realen Raumwahrnehmung stelle er die perspektivische Konstruktion von Raum in der Kunst gegenüber, dem "Aggregatraum" der Antike den "Systemraum" der Neuzeit, der künstlerischen Gestaltung der Perspektive die Auseinandersetzung mit raumtheoretischen Problemen in der Philosophie und Erkenntnistheorie. Auf einigen Ebenen führe er diese Differenzfiguren schließlich zusammen: So erfasse er eine Homologie zwischen dem "ästhetischen Raum" in der Kunst und dem "theoretischen Raum", wie er durch philosophisch-erkenntnistheoretische Positionen umrissen wird, denn die Art der Perspektive sei für ihn "konkreter Ausdruck dessen, was gleichzeitig von erkenntnistheoretischer und naturphilosophischer Seite her geleistet worden war". Die zwischen Antike und Neuzeit aufgemachte Differenz überbrücke er synthetisch in einem genetischen Modell: Die Homogenisierung der Fläche in der mittelalterlichen Kunst werde zur notwendige Bedingung für den Systemraum.

Dass Panofskys Darstellung als gleichsam kulturtheoretischer Entwurf, der in einer historisch spezifischen wissenschaftlichen Tradition steht, aus heutiger Sicht nicht unproblematisch ist, wurde in der Diskussion schnell deutlich: Besonders das Aussparen des Betrachters als unhintergehbare Wahrnehmungsposition wurde immer wieder in Anschlag gebracht. Zugleich wurde aber in der Historisierung der Perspektive als einer symbolischen Form ein Impuls für Raummodelle der kognitive Narratologie gesehen: Raum sei weniger eine anthropologische und ahistorische Konstante, sondern vielmehr ein historisch und kulturell wandelbares Modell.

In der zweiten Sektion "Semantische Konstruktion und mentale Repräsentation" wurde verhandelt, aufgrund welcher textinhärenten Mechanismen mentale Repräsentationen von Raum generiert werden, wie diese funktionieren und wie sie schließlich im Rahmen eines textanalytischen Instrumentariums fruchtbar gemacht werden können.

KONSTANTIN RAPP (Freiburg) untersuchte den Raum als Konstante der russischen Kulturgeschichte, die Wandelbarkeit dieser Konstante im Verständnis Russlands sowie ihre Funktion für die Konstruktion einer russischen Nationalidentität. Das wechselhafte Verhältnis Russlands zu Europa, seine Annäherung an und seine Abgrenzung von Europa, bildete dabei den Rahmen seiner Ausführungen. Rapp gelang es zu zeigen, dass seit der Errichtung von St. Petersburg im Jahr 1705 sukzessive ein Norden-Osten-Amalgam dichotomisch gegen eine Süden-Westen-Konstellation gestellt wurde, um das eigene Nationalbewusstsein auf der Basis dieser Raumteilung zu konstituieren. Die eigene, mit Norden und Osten verbundene Identität wurde als eine vom Westen abgegrenzte, autonome Identität definiert, die sich den klimatischen "Bedingungen" verdanke. Dem Westen wurde hingegen der Süden mit seinem milderen Klima zugeordnet und den Nationen entsprechend ein "weicher" Charakter zugesprochen. Offen musste indes die Frage bleiben, inwiefern sich diese russische Nationalidentität in verschiedenen Diskursen (Literatur, Politik, Geschichtsschreibung usw.) bislang dargestellt habe und nach wie vor darstelle.

Aus literaturwissenschaftlich-linguistischer Perspektive zeigte CHRISTOPH BARTSCH (Wuppertal) die anthropologisch bedingte Konstruktion von "mental spaces" auf und ging dabei im Besonderen der Metapher als literarischer Trope nach. Mit Verweis auf Lakoff/Johnson erläuterte Bartsch den Umstand, dass Metaphern einen hohen Grad an Funktionalität in Bezug auf den intersubjektiven Erfahrungsaustausch über "Welt" aufweisen. Bartsch zufolge stellen diese eine Strategie menschlichen Denkens dar, die es ermöglicht, Welterfahrung zu dechiffrieren und zu ordnen. Einen besonderen Platz nehmen dabei die Raum-Metaphern (auch: "Gefäß"-Metaphern) ein, welche sich in der Anwendung in Struktur- und Orientierungsmetaphern auffächern. Demzufolge lasse sich das theoretische Konstrukt eines "mental space" erstellen, das sich in mehrere Konzepte unterteilt: ein topografisches, ein topologisches wie auch ein semantisches Konzept. Auf das literaturwissenschaftliche Betätigungsfeld appliziert, könne man, so Bartsch, mit Blick auf Jurij M. Lotmans Raum-Modell fragen, ob die Annahme von binären Oppositionen tatsächlich für die Analyse eines jeden Textes ausreiche. Bartsch konnte indes anhand der Metaphern-Theorie zeigen, dass eine oppositionelle Erfassung von Welt tatsächlich stattfindet. Somit wird nicht Lotmans Modell in Frage gestellt, sondern vielmehr auf der Seite seiner kulturwissenschaftlichen Plausibilisierung ein linguistisch fundierter Baustein geliefert, der mit jenem kompatibel erscheint.

Abgeschlossen wurde die Sektion durch eine Diskussionsrunde, deren Textgrundlage Marie-Laure Ryans Aufsatz "Cognitive Maps and the Construction of Narrative Space" (2003) bildete. MARIA LEOPOLD (Wuppertal), die die Diskussion mit einem Impulsreferat eröffnete, konzentrierte sich auf zwei wesentliche Fragen: Fertigen wir als Leser tatsächlich kognitive Karten von fiktiven Räumen an? Und inwiefern wird die Annahme einer mentalen Kartenbildung überhaupt heuristisch relevant? Zwei Diskussionsergebnisse lassen sich festhalten: Zum einen bildet nach Ryan jeder Rezipient eine eigene Karte, die von der "master-map" (also der vom Text tatsächlich entworfenen, das heißt indizierten, topografischen Räumlichkeit) mehr oder weniger abweicht. Diese Feststellung besagt lediglich, dass der durch den Text indizierte Raum nur zum Teil mit dem durch den Rezipienten (re)produzierten Raum übereinstimmt, so dass zwei gänzlich unterschiedliche Untersuchungsgebiete angenommen werden müssen. Für das, was als "Text" bezeichnet wird, muss eine Reihe von Kriterien aufgestellt werden, die die (narrative) "Ontologie" des Raumes, seine "Relevanz" im narrativen Gesamtgefüge und seine "Weitergabe" an den Rezipienten näher zu bestimmen erlauben. Die Kriterien können je nach Untersuchungsaspekt bestimmt werden und betreffen die "Textgattung" (Reiseroman, Bildungsroman, Fantasy, Helden-Epos, Abenteuerroman), das "Medium" (Literatur, Film, Comic, Hörspiel, Computerspiel) sowie den Einbezug des "Instruments" Karte durch den Autor oder den Verlag (zum Beispiel in John R.R. Tolkiens "Lord of the Rings"). Transgenerische und -mediale Kriterien umfassen die Konkretheit von "Figuren" und ihre "Handlungen". Auf der Seite des Rezipienten ist vor allem dessen "vorgeprägtes Wissen" ausschlaggebend, sein Weltwissen, seine wiederholte Lektüre, sein Abstraktions- und Konzentrationsvermögen. Das zweite Ergebnis der Diskussion ist wissenschaftstheoretischer Art: Bei aller lobenswerten interdisziplinären Ausweitung des Faches sollte eine klare Umgrenzung des Untersuchungsgegenstands und der eigenen Aufgabe nicht aus den Augen verloren werden. Mentale Karten und kognitive Prozesse lassen sich mit einem literaturwissenschaftlichen Analyseinstrumentarium schlicht nicht erfassen. Solche Vorhaben, wie das von Ryan, könnten aber als Chance begriffen werden, insbesondere eine Kategorie wie den Raum sinnvoll auszuweiten und somit theoretisch breiter auszuformulieren. Dass hierbei an andere Disziplinen angedockt wird, kann nicht kritisiert werden, sondern sollte derzeit noch immer als Aufgabe für die aktuelle Forschung angesehen werden.

Nach den Bedingungen und Verfahren der semantischen Konstruktion von Raum gelangte mit der dritten Sektion neben der mentalen auch die textuelle und mediale Repräsentation von Raum in den Blick. Dabei richtete sich das Erkenntnisinteresse primär auf die semantische und ästhetische Komponente der Darstellung: Intentionalität, Funktionalität und Konfiguration bildeten die verbindenden Paradigmen, die Orientierung für die folgenden Einzelbeiträge boten.

Dass Wirkungsabsicht und formale Konfiguration eines Textes kaum voneinander zu trennen sind, sondern vielfach korrelieren, hat CHRISTIANE SCHEEREN (Bochum) gezeigt. Ausgehend von kommunikationstheoretischen Annahmen ging sie der Frage nach möglichen Interferenzen im Lektüreprozess nach: Was muss geschehen, damit der Leser die erzählte Welten "verorten" kann, das heißt die raumdeiktischen Textsignale als sinnstiftenden Handlungsraum identifiziert? Weniger die Beschaffenheit oder die Streubreite der einzelnen narrativen Raumfragmente stand dabei im Zentrum als die Bedingungen, unter denen der Leser im Leseakt sein Raumverständnis generiert. Am Beispiel der Kurzerzählung "Sie befinden sich hier" von Kathrin Passig konnte die Referentin zeigen, wie präfiguriertes Wissen beim Leser qualitativ beschaffen sein muss, damit die erfolgreiche Kohärenzbildung zu Stande kommt.

Ebenfalls an einem Beispiel der Postmoderne exemplifizierte STEPHAN BRÖSSEL (Wuppertal) seine Explikationen einer Narratologie des Raumes. Unter Rekurs auf James Mangolds Psychothriller "Identity" (2003), der einen Reigen des Todes vermeintlicher Kontingenz anheimstellt, und Ulrich Hofmanns kriminalistischem Filmroman "The End" (2007) deduzierte Brössel drei Ebenen der Raumdarstellung: die "mediale", "exegetische" und "diegetische" Ebene, die durch monodirektionale wie reziproke Verfahren als miteinander verbunden zu verstehen sind. Dass die Kategorie "Raum" damit gerade im Medium Film alle Bereiche des Erzählens umfasst, weist Brössel als die spezifische Chance einer raumnarratologischen Analyse aus, gestattet diese doch, Konsequenzen für die erzählerische Konfiguration zu ziehen. So erlaube das Modell genrespezifische Verfahrensmuster der Raumdiegese darzulegen und zwischen mimetischer Realisierung und expliziter Thematisierung zu differenzieren – narrative Strategien, die auf die Literatur übertragbar sind.

Die letzte Sektion richtete den Blick auf Erinnerungsräume, in denen zentrale Aspekte der vorausgegangenen Sektionen zusammenkommen: Denn Erinnerungsorte können als Räume erfahren werden, sind auf je spezifische Weise medial vermittelt und "gemacht" und als metaphorischer Ausdruck für Biografien, historische Ereignisse und Texte sind sie räumliche Gedankenfiguren für Nicht-Räumliches.

Das antike Griechenland stellte nicht nur in der Klassik einen wichtigen geografischen Bezugsraum im kulturellen Selbstverständigungsprozess dar, sondern auch, wie CHRISTOPHER MEID (Freiburg) zeigte, in der Literatur der Moderne. Im Einflussbereich von Friedrich Nietzsches "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" und anderen antiklassizistischen Revisionen des Griechenlandbildes sind Texte entstanden, die versuchen, das Verhältnis zwischen Antike und Moderne in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts neu auszuloten. Dabei wurde eine Linie gezogen zwischen alten Griechen und modernen Deutschen: Laut Meid folge jeder retrospektive Erinnerungsakt einem Gegenwartsinteresse. Indem er Gerhart Hauptmanns "Griechischen Frühling" (1908), Hugo von Hofmannsthals "Augenblicke in Griechenland" (1908-1917) und Thomas Manns "Unterwegs" (1925) in den Blick nahm, untersuchte Meid drei literarische Reisebereichte, die auf je eigene Weise das Erlebnis der Griechenlandreise erfassen. Vier Fragen bildeten den Rahmen seines Erkenntnisinteresses: Wie konstruieren moderne Autoren den Erinnerungsraum Griechenland? Wie werden Vergangenheit und Gegenwart verknüpft? Welche Textstrategien werden dazu verwendet? In welchem Verhältnis steht die vermeintliche Spontaneität des Erlebens (und Schreibens) zu literarischen und kulturellen Vorprägungen? Während sich Hauptmanns Reisebericht, der in der Tradition von Goethes "Italienischer Reise" steht, Meid zufolge durch Einheitserfahrungen, Einfühlung und Verlebendigung auszeichne und die Reise im Duktus subjektiver Spontanität schildere, in der jede Distanz zwischen Hauptmanns Hier und Jetzt einerseits und der antiken Welt andererseits aufgehoben werde, nähmen Hofmannsthal und Mann eine reflektiert-distanzierte Haltung ein. Für Ersteren gehe die Reise mit einer Identitätskrise einher, Hofmannsthal erfahre keine bejahende Selbstvergewisserung in Griechenland, vielmehr führe der Aufenthalt zu einer Dissoziation des erzählenden Ichs; Mann hingegen bleibe in seiner mit Ironie durchsetzten Schilderung immer distanziert und spiele so mit stereotypen Erlebensmustern.

Überblickt man die Vorträge und Diskussionen, so wurden die drei Ziele des Workshops wiederholt aufgegriffen und exemplarisch konkretisiert: Konstantin Rapp und Christopher Meid haben historisch und kulturell unterschiedliche Figurationen von Raum und ihre Funktion für Prozesse der individuellen wie kollektiven Identitätskonstruktion in den Blick genommen. Besonders die Diskussion von Panofskys Aufsatz und der kognitiven Ansätze in der Narratologie (Ryan) haben einerseits Perspektiven zu einer heuristischen Umsetzung von Theorien gewiesen, zugleich aber auch ihre problematischen Implikationen offengelegt. Während der Vortrag von Christoph Bartsch die Modellbildung reflektierte, lieferten die Beiträge von Stephan Brössel und Christiane Scheeren Impulse zu einer klassisch textbasierten sowie einer transmedialen Narratologie des Raumes. Eines hat der Workshop im Hinblick auf seine beiden thematischen Pole ‚Theorie‘ und ‚Figuration‘ deutlich gemacht: So different sie scheinen, so verquickt sind sie. Die theoretische Konzeptualisierung von Raum hat sich an den Phänomenen zu beweisen; zugleich geben die Phänomene Impulse für theoretische Fragen. Das Interesse kann, so das Fazit der Diskussionen, nicht allein in theoretischen Fragen liegen, sondern muss den Gegenstand – sei er historischer oder ästhetischer Natur – immer ins Zentrum stellen. Gleiches gilt für eine Narratologie des Raumes: So hilfreich ein theoretischer Entwurf, wie er von Katrin Dennerlein vorgelegt wurde, ist, erst in seiner Anwendung wird sich sein heuristisches Potential zeigen. Und gerade in diesem Bereich eröffnet sich ein ‚weites Feld‘ der Möglichkeiten, das es nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu erschließen gilt.

Konferenzübersicht:

Ralf von den Hoff (Freiburg)
Begrüßung

Sektion I: Raumtheoretische Grundlagen

Lukas Werner/Stephan Brössel (Wuppertal)/Julia Ilgner (Freiburg)
Einführung

Irene Breuer (Wuppertal)
Atopie: Die ereignishafte Erfahrung des Raumes
(Moderation: Julia Ilgner)

Lukas Werner/Julia Ilgner
Diskussion I: Raum als symbolische Form. Cassirer – Panofsky – Bourdieu

Sektion II: Raum: semantische Konstruktion und mentale Repräsentation

Konstantin Rapp (Freiburg)
Raum als Konstante in der russischen Kulturgeschichte
(Moderation: Sonja Arnold)

Maria Leopold
Diskussion II: Textuelle Beschreibung vs. mentale Repräsentation – Erzählter Raum aus kognitiver Perspektive

Christoph Bartsch (Wuppertal)
Mental Spaces und ihre Grenzen. Kognitiv-linguistische Überlegungen zu Jurij M. Lotmans raumsemantischem Strukturmodell
(Moderation: Stephan Brössel)

Sektion III: Mediale Räume

Christiane Scheeren (Bochum)
Erzählter Raum
(Moderation: Julia Ilgner)
Stephan Brössel (Wuppertal): Mimesis des filmischen Raums in der Literatur
(Moderation: Julia Ilgner)

Sektion IV: Erinnerungsräume

Christopher Meid (Freiburg)
Griechenland als Erinnerungsraum in der Literatur der klassischen Moderne (Hauptmann, Hofmannsthal, Thomas Mann)
(Moderation: Lukas Werner)

Stephan Brössel, Julia Ilgner, Lukas Werner
Abschlussdiskussion und Ausblick


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