Die nationalsozialistische Okkupationspresse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, 1941-1944

Die nationalsozialistische Okkupationspresse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, 1941-1944

Organisatoren
Seminar für Osteuropäische Geschichte, Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.11.2010 - 08.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Friedman, Universität Heidelberg / Saarbrücken; Viktoria Silwanowitsch, Universität Heidelberg

Die nationalsozialistische Besatzungspresse in der Sowjetunion (1941-44) gehört zu den Themen des Zweiten Weltkrieges, die bisher wenig Beachtung in der wissenschaftlichen Forschung fanden. In den besetzten sowjetischen Gebieten erschienen in der Zeit zwischen 1941 und 1944 über 600 Periodika – Tages- und Wochenzeitungen und Zeitschriften unterschiedlicher Art –, die in den Sprachen der Völker der UdSSR veröffentlicht wurden. Diese Presse spielte eine wesentliche Rolle innerhalb des nationalsozialistischen Propagandaapparates in den besetzten Gebieten und diente der ständigen Beeinflussung der lokalen Bevölkerung. Mit der Besatzungspresse in der Sowjetunion beschäftigt sich am Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Heidelberg seit Juni 2009 das durch Mittel des Bundes und der Länder (dritte Säule) im Rahmen der Exzellenzinitiative geförderte Projekt „Die nationalsozialistische Okkupationspresse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, 1941-1944“, geleitet von Heinz-Dietrich-Löwe und Frank Grüner.1

Die Organisation und Funktion der Besatzungspresse, ihre Inhalte, Rezeption und Wirkung sowie die Rolle der beteiligten Akteure standen im Mittelpunkt der internationalen Tagung, die vom 5. bis 8. November 2010 im Internationalen Wissenschaftsforum der Universität Heidelberg stattgefunden hat. In diesen Tagen stellten etablierte Historiker und Nachwuchswissenschaftler aus Deutschland, Weißrussland, der Ukraine, Estland, Israel und der Russischen Föderation ihre bisherigen Forschungsergebnisse zur NS-Besatzungspresse in der Sowjetunion vor.

Die Tagung wurde eröffnet mit den Grußworten von Heinz-Dietrich Löwe, Rainer Hudemann (Paris/Saarbrücken), dem Leiter des in engster Zusammenarbeit mit dem Heidelberger Projekt stehenden deutsch-weißrussischen Forschungsprojektes „Krankenmorde in Belarus, 1941-44“, und Ilya Altman (Moskau), dem Kooperationspartner des Heidelberger Projektes und Vizepräsidenten des Russischen Forschungs- und Bildungszentrums "Holocaust" in Moskau.

In der ersten Sektion der Tagung – „Methoden der Quellenanalyse“, geleitet von Frank Grüner (Heidelberg), griff ILYA ALTMAN (Moskau) in seinem Vortrag verschiedene Analysemethoden der Besatzungspresse als einer historischen Quelle auf und betrachtete die Besatzungspresse als Quelle bei der Erforschung des Holocausts in der Sowjetunion während des Krieges. In der danach folgenden Diskussion wurde die methodische Vorgehensweise bei der Auswertung und Analyse der Besatzungspresse besprochen.

In der folgenden zweiten Sektion „Organisation und Funktion der Presse in den besetzten Gebieten“, geleitet von Ilya Altman (Moskau), hielten SERGEI ZHUMAR (Minsk) und MARYNA MYKHAYLYUK (Kirowohrad, Ukraine) ihre Vorträge. Zhumar berichtete über die administrativen und politischen Aspekte der Besatzungspresse in Weißrussland und stellte diese Presse als einen unabdingbaren Teil der gesamten Propagandatätigkeiten des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda, des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete und der Propagandaabteilungen der Wehrmacht dar. Mykhaylyuk schilderte die allgemeine Lage der Presse und ihre Funktion im Reichskommissariat Ukraine im Gesamtkontext der NS-Propaganda in der Sowjetunion. Die dritte und dabei umfangreichste Sektion der Tagung, „Inhalte der Besatzungspresse“, wurde abwechselnd von Rainer Hudemann, ANDREI ZAMOISKI und ALEXANDER FRIEDMAN geleitet. TAMARA VIARSHYTSKAYA (Novogrudok, Weißrussland) berichtete in ihrem Vortrag über die von der Besatzungspresse im westweißrussischen Raum Baranoviči-Slonim-Novogrudok propagierten politischen und moralischen Wertvorstellungen. Anschließend befasste sich LEONID REIN (Yad Vashem, Jerusalem) mit dem radikalen Antisemitismus der in Minsk unter der deutschen Okkupation herausgegebenen Zeitung "Belaruskaja hazėta" ("Weißrussische Zeitung"). Auf die antijüdische Propaganda in der Besatzungspresse in der Ukraine gingen MYKHAYLO TYAGLYY und JULIA SMILJANSKAJA aus Kiew ein. Während Tyaglyy die antisemitische Doktrin auf den Seiten der krimtatarischen Zeitung Azat K’rym in den Jahren 1942 bis 1944 exemplarisch untersuchte, beleuchtete Smiljanskaja die Rolle des Antisemitismus in der Besatzungspresse der Ukraine anhand einer ausgewählten Zeitschrift (1941-1944). KOSTIANTYN KURYLYSHYN (Lwiw) zeigte in seinem Beitrag, dass die NS-Presse in der besetzen Ukraine die stalinistischen Verbrechen umfassend behandelte und dabei das sowjetische politische System vernichtend kritisierte. Die Besatzungspresse in der Ukraine als Faktor der ukrainischen nationalistischen Propaganda wurde von DMITRIJ TITARENKO (Donezk) analysiert. Im Mittelpunkt des Vortrages von VIKTORIA SILWANOWITSCH (Heidelberg) standen die Frauen- und Familienbilder, welche die russischsprachige Presse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion – insbesondere unter der Militärverwaltung des rückwärtigen Heeresgebiets „Mitte“ – vermittelte. SVETLANA BURMISTR (Berlin) veranschaulichte abschließend die Selbst- und Feindbilder der nationalsozialistischen Propaganda in Weißrussland am Beispiel der Propagandaplakate.

Mit dem Themenkomplex „Sowjetische Partisanen und Untergrundkämpfer über die NS-Besatzungspresse in Weißrussland“ setzte sich in der vierten – von ALEXANDER PESETSKY (Minsk) geleiteten Sektion „Wahrnehmung der Presse“ – Andrei Zamoiski (Minsk) auseinander.

Die fünfte Sektion, die Heinz-Dietrich Löwe leitete, behandelte die NS-Propaganda in den einzelnen Gebieten: OLAF MERTELSMANN (Tartu) thematisierte die Presselandschaft des Generalkommissariats Estland. VASILIJ MATOCH (Minsk) konzentrierte sich auf den Rundfunk in Weißrussland unter der deutschen Okkupation. RALF FORSTER (Berlin) beschäftigte sich mit der deutschen Filmpropaganda in den besetzten „Ostgebieten“. Im Rahmen seines Vortrags wurde außerdem der NS-Propagandafilm „Roter Nebel“ (1942) gezeigt.

Autoren und Mitarbeiter der NS-Besatzungspresse in Weißrussland und in Russland standen im Mittelpunkt der sechsten Sektion, die Mykhaylo Tyaglyy leitete. Alexander Pesetsky (Minsk) untersuchte die publizistische Tätigkeit der weißrussischen Psychiaterin Nadzeja Abramava unter der deutschen Okkupation. Alexander Friedman (Heidelberg/Saarbrücken) befasste sich mit dem weißrussischen Autor Jurka Vic’bič, der vor 1941 eine bemerkenswerte literarische und publizistische Karriere in Sowjetweißrussland machte, sich im Krieg für die NS-Propaganda einsetzte und nach 1945 mit der Feder in der Hand für die „weißrussische Sache“ in der „freien Welt“ kämpfte. ANATOL SHARKOU (Minsk) fasste das Schicksal zahlreicher Autoren der Besatzungspresse aus Weißrussland zusammen. BORIS KOVALEV (Nowgorod) analysierte anhand von NKVD-, MGB- und KGB-Akten das Schicksal von Autoren und Mitarbeitern der NS-Besatzungspresse in Russland. Im Rahmen seines Vortrages wurde der Dokumentarfilm Russkij gestapovec (2009) über den Leiter des Ordnungsdienstes in Nowgorod und Autor der lokalen Zeitung "Za Rodinu" („Für die Heimat“), Boris A. Filistinskij, gezeigt.

Die siebte und letzte Sektion der Tagung, geleitet von Viktoria Silwanowitsch (Heidelberg), behandelte das Thema „Propaganda für bestimmte Zielgruppen“. FRANK GÖRLICH (Berlin) und VIKTORYIA LATYSHEVA (Minsk) thematisierten die Anpassung der Propaganda, in diesem Fall der Besatzungspresse, an die bestimmten Bevölkerungsgruppen und deren gezielte propagandistische Beeinflussung. Görlich stellte dem Publikum die Odessaer Wochenzeitung "Der Deutsche in Transnistrien" vor und ging dabei besonders auf solche Aspekte wie Volkstumspropaganda, Religion und Judenfeindschaft ein. Latysheva berichtete in ihrem Vortrag über die Zeitung "Boevoj put'" ("Der Kampfweg"), das Organ der “Russischen Befreiungsvolksarmee“ (RONA), das sich primär an die Angehörigen dieser Einheit richtete und zudem auch aktuelle Themen und Fragen berücksichtigte.

Wissenschaftliche Ergebnisse der Tagung und Möglichkeiten der künftigen Zusammenarbeit wurden in der von Heinz-Dietrich Löwe und Frank Grüner geleiteten Abschlussdiskussion besprochen. Die Ergebnisse der Tagung können insgesamt als fruchtbar bezeichnet werden. Wichtige Themenkomplexe, die bisher wenig Beachtung in der wissenschaftlichen Forschung fanden, wie z. B. bestimmte Inhalte der Besatzungspresse, ihre Wahrnehmung sowie die Rolle der einheimischen Akteure, die diese Presse weitgehend mitgestalteten, sind während der Tagung angesprochen und diskutiert worden. Die Fragestellung des Heidelberger Projektes zur Besatzungspresse – die Vermittlung von bestimmten Wertvorstellungen an die Bevölkerung der besetzten sowjetischen Gebiete durch die Okkupationspresse, wurde in vielen Vorträgen aufgegriffen und zum Vorschein gebracht. Aus der Abschlussdiskussion ist zudem deutlich hervorgegangen, dass eine weitere Erforschung der Besatzungspresse notwendig sei und dabei insbesondere eine vielschichtige Untersuchung wichtig wäre, welche regionale Unterschiede des gesamten okkupierten Sowjetterritoriums, einzelne Aspekte dieser Presse sowie andere Propagandamittel berücksichtigen sollte. Bei der Abschlussdiskussion sind bestimmte Aspekte und Fragen besonders ins Blickfeld geraten, wie z. B. die Wirkung und Effektivität der Besatzungspresse. Diese können aber in der jetzigen Forschungsphase noch nicht eindeutig beantwortet werden.

Die Besatzungspresse in den okkupierten sowjetischen Gebieten ist eine bis heute kaum untersuchte, überaus wertvolle historische Quelle, ohne deren Einbeziehung eine komplexe Untersuchung sowohl der NS-Herrschaft in Osteuropa im Gesamtkontext des Zweiten Weltkrieges als auch bestimmter Aspekte der NS-Besatzung, etwa des Alltagslebens unter der deutschen Okkupation oder auch der Kollaboration (vor allem der intellektuellen Kollaboration) nicht erfolgen kann. Außerdem bietet die Untersuchung dieser Presse nicht nur die Möglichkeit, die in der Forschung lange ausgebliebenen Fragen zu beantworten und Teilaspekte zu erforschen, sondern bereitet auch eine Ausgangsposition für die Untersuchung der im Krieg besetzten Gebiete nach 1945 vor, insbesondere zur Politik der Restalinisierung.

Konferenzübersicht:

Eröffnung der Tagung/ Grußworte (Leiter: Frank Grüner):

Heinz-Dietrich Löwe: Projekt „NS-Besatzungspresse in der Sowjetunion, 1941-44“

Rainer Hudemann (Saarbrücken): Projekt „Krankenmorde in Belarus, 1941-44“.

Ilya Altman (Moskau): Kooperation mit dem Russischen Forschungs- und Bildungszentrums "Holocaust".

I. Methoden der Quellenanalyse (Leiter: Frank Grüner)

Ilya Altman (Moskau): Die nationalsozialistische Besatzungspresse in der UdSSR: Methoden der Quellenanalyse.

II. Organisation und Funktion der Presse in den besetzten Gebieten (Leiter: Ilya Altman)

Sergei Zhumar (Minsk): Die nationalsozialistische Besatzungspresse in Weißrussland 1941-1944: administrative und politische Aspekte.

Maryna Mykhaylyuk (Kirowohrad): Organisation und Funktion der NS-Besatzungspresse in der Ukraine (1941-1944)

III. Inhalte der Besatzungspresse (Leiter: Rainer Hudemann / Andrei Zamoiski / Alexander Friedman)

Tamara Viarshytskaya (Novogrudok): System of public, political and moral values of local population in Baranovichi-Slonim-Novogrudok region (Western Belarus) under the Nazi occupation (1941-1944) on pages of local occupational press.

Leonid Rein (Yad Vashem, Jerusalem): “Do not spare the Jews, death serves them right!”: Radical antisemitism at the pages of "Belaruskaja hazėta".

Mykhaylo Tyaglyy (Kiew): Antisemitische Doktrin auf den Seiten der Krimtatarischen Zeitung “Azat K’rym”, 1942-44.

Julia Smiljanskaja (Kiew): Besatzungspresse in der Ukraine (1941-1944):  Herausbildung und Festigung der antijüdischen Stereotypen als Konsolidierungsversuch der Besatzer mit der Bevölkerung der besetzten Gebiete.

Kostiantyn Kurylyshyn (Lwiw): Bewertung und Kritik des politischen Systems der Sowjetunion in der NS-Presse in der besetzten Ukraine (1939-1944).

Dmitrij Titarenko (Donezk): Die Besatzungspresse in der Ukraine als Faktor der ukrainischen nationalistischen Propaganda. 

Viktoria Silwanowitsch (Heidelberg): Frauen- und Familienbilder in der russischsprachigen Presse in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. (am Beispiel der Presse unter der Militärverwaltung des rückwärtigen Heeresgebiets „Mitte“).

Svetlana Burmistr (Berlin): Selbst- und Feindbilder in der nationalsozialistischen Propaganda in Weißrussland am Beispiel der Propagandaplakate

IV. Wahrnehmung der Presse (Leiter: Alexander Pesetsky)

Andrei Zamoiski (Minsk): Sowjetische Partisanen und Untergrundkämpfer über die NS-Besatzungspresse in Weißrussland.

V. NS-Besatzungspresse und Nazipropaganda in den einzelnen Gebieten (Leiter: Heinz-Dietrich Löwe)

Vasilij Matoch (Minsk): Rundfunk in Weißrussland unter der deutschen Okkupation (1941-1944).

Olaf Mertelsmann (Tartu): Die Presse im „Generalkommissariat“ Estland.

Ralf Forster (Berlin): Abschrecken, Aufhetzen, Anwerben - deutsche Filmpropaganda in den besetzten „Ostgebieten“. Im Rahmen dieses Vortrags wird ein Propagandafilm gezeigt: "Roter Nebel" 1942.

VI. „Kämpfer für ein Neues Europa“ oder „faschistische Schreiberlinge“?: Autoren, Herausgeber und Mitarbeiter der NS-Besatzungspresse (Leiter: Mykhaylo Tyaglyy)

Alexander Pesetsky (Minsk): Die Psychiater Nadzeja Abramava und ihre publizistische Tätigkeit in Weißrussland unter der deutschen Okkupation.

Alexander Friedman (Heidelberg / Saarbrücken): Schriftsteller und Journalist Jurka Vic’bič: „talentierter weißrussischer sowjetischer Autor“, „faschistischer Propagandist“, „weißrussische Stimme in der freien Welt“.

Anatol Sharkou (Minsk): Besatzungspresse in Weißrussland unter der deutschen Okkupation: Schicksal von Redakteuren.

Boris N. Kovalev (Weliki Nowgorod): Autoren und Mitarbeiter der NS-Besatzungspresse in Russland (anhand von NKVD-, MGB- und KGB-Akten). (Russisch) 

VII. Propaganda für bestimmte Zielgruppen (Leiter: Viktoria Silwanowitsch)

Frank Görlich (Berlin): Volkstumspropaganda, Religion und Judenfeindschaft in der Odessaer Wochenzeitung "Der Deutsche in Transnistrien", 1942-1944.

Viktoryia Latysheva (Minsk): Zeitung Boevoj put': Presseorgan der Russischen Befreiungsvolksarmee (RONA). (Russisch)

Abschlussdiskussion (Leiter: Heinz-Dietrich Löwe, Frank Grüner)

Anmerkung:
1 Näheres zum Projekt unter: http://www.besatzungspresse.uni-hd.de. (16.03.2011)


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