Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte

Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte

Organisatoren
Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker; Herder-Institut Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.02.2011 - 25.02.2011
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Von
Jörn Happel, Historisches Seminar, Universität Basel

Globalgeschichte bedeutet, Themen neu zu denken und zu schreiben. Zwei Tage lang hatten Osteuropahistorikerinnen und -historiker im Marburger Herder-Institut ihre Fachdisziplin global ausgerichtet. Dass die osteuropäische Geschichte sich seit Jahren dabei vielerorts ohnehin schon transkontinental und transkulturell versteht, tat den Diskussionen bei der gemeinsamen Konferenz des Verbands der Osteuropahistorikerinnen und -historiker (VOH) und des Herder-Instituts keinen Abbruch. Im Gegenteil: Wenn Globalgeschichte globale Verhältnisse voraussetzt, dann hat die Osteuropäische Geschichte allerhand zu bieten. Zum einen sind hier Interaktionsräume zu beschreiben, zum anderen Transferstudien anzulegen, um zu erfahren, was die Welt aus Osteuropa übernommen hat. In vier Sektionen mit 13 Referaten umspannte die Tagung deshalb zeitlich die Jahrzehnte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und räumlich die osteuropäische Großregion von der Ostsee bis zum Pazifik, vom Nordmeer bis nach Zentralasien. Die Tagung, die JULIA OBERTREIS (Freiburg/Br.) und MARTIN AUST (München) organisiert hatten, rückte besonders die zarische und sowjetische Geschichte in den Mittelpunkt und suchte nach Vergleichs- und Einflussebenen in anderen Weltregionen. In den Referaten zeigte sich dann vor allem, wie Wissenschaft als Forschungsobjekt seit dem 18. Jahrhundert zu einem globalen Faktor geworden ist. So beeindruckten Studien zur Eroberung der Meere ebenso wie zum Kalten Krieg in den Polarregionen.

Nach der Begrüßung durch den VOH-Vorsitzenden JAN KUSBER (Mainz) und einleitenden Worten der beiden Organisatoren ging es in der ersten Sektion um „Globalgeschichte interimperial“. ULRICH HOFMEISTER (Wien/Gießen) berichtete von der russischen Eroberung Zentralasiens und wie für diese in der zeitgenössischen russischen Publizistik nach einer Legitimierung gesucht wurde. Um die Region beherrschen zu können, hatten zarische Offiziere bei ihren kolonialen Gegnern in französischen oder englischen Kolonien Erkundungen gemacht. Über die Herrschaftsmethoden und -verwicklungen der Zarenmacht mit dem Iran im frühen 20. Jahrhundert referierte MORITZ DEUTSCHMANN (Florenz). Drei Punkte konnte er für die Zusammenarbeit der beiden Regime festhalten: Erstens seien Russen im Iran rechtlich privilegiert gewesen, sie unterstützten zweitens den Schah und dessen Dynastie erheblich und drittens sicherten die Russen verschiedene Grenzen, unter anderem durch die Abstellung einer Kosaken-Einheit zum Schutz der Herrscherfamilie. Dabei bilanzierte Deutschmann, dass der russische Imperialismus vielfach keine Nachahmung, sondern Eigeninitiative gewesen sei. Die Kosaken als Spielball zweier Imperien interessierte SÖREN URBANSKY (Freiburg/Br.). Anhand eines japanischen Films aus dem Jahr 1940, über dessen Herkunft und Ziele kaum etwas bekannt ist, zeigte Urbansky, wie die einst als Kolonisatoren in das chinesisch-russische Grenzgebiet entsandten Kosaken, dann in China zu Kolonisierten und Getriebenen wurden.

Die Sektion „Mythos Ferner Osten“ wurde von FRANK GRÜNER (Heidelberg) eröffnet, der die von Russen im mandschurischen China 1898 gegründete Stadt Harbin als transkulturelle Musterstadt beschrieb. Gerade die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen des Eisenbahnkontenpunkts machten Harbin zu einem Musterbeispiel der Globalgeschichte im Kleinen, wenn der Fokus auf die globalen Prozesse und deren Auswirkungen gelegt wird – beispielsweise auf die Auswirkungen internationaler Wirtschaftskrisen, auf die Industrialisierung oder auf den Städtebau. MARTINA WINKLER (Münster) hatte die erste russische Weltumseglung 1803 bis 1806 im Blick und überzeugte mit ihrer Darstellung des Pazifiks als globaler Raum. Hier spielten die Zuordnungen zu einzelnen Nationen auf den von dem Zaren entsandten Schiffen Neva und Nadezhda kaum noch eine Rolle. Die Aufsuchung der Stelle auf Hawaii, an der einst James Cook ermordet worden war, ließe sich zudem als eine frühe Form des internationalen Tourismus verstehen. Die Schiffsbesatzungen, die Hawaii anliefen, statteten dem Ort stets einen Besuch ab. Vom Pazifik im frühen 19. Jahrhundert wechselte ANDREAS RENNER (Tübingen/Köln) zur Bedeutung Hiroshimas in der Nachkriegs-Sowjetunion. Hier sei der Atompilz als westliches Symbol wahrgenommen worden. Während die sowjetische Atomkraft den Fortschritt gebracht habe, stand die westliche Atomforschung für Tod und Zerstörung. Die Strahlungsrisiken seien jedoch hier wie dort heruntergespielt oder gar negiert worden.

BIRTE KOHTZ (Gießen) eröffnete die Sektion zu den russischen Nordmeer- und Polarexpeditionen. Sie berichtete über die frühen Expeditionen russischer Wissenschaftler und Militärs in das Nordmeer, deren Ergebnisse nicht wie im 18. Jahrhundert geheim gehalten, sondern schnell der internationalen Gelehrtengemeinschaft zugänglich gemacht worden seien. ALEXANDER KRAUS (Münster) knüpfte hier an und erläuterte die Bedeutung des Ersten Internationalen Polarjahrs 1882/83. Damals habe eine lange und im Grunde bis heute andauernde gemeinsame internationale wissenschaftliche Tätigkeit begonnen. Zur Polarisierung der Sowjetgeschichte sprach KLAUS GESTWA (Tübingen). Im Zuge des Kalten Kriegs wurde auch die Antarktis in das Blockdenken mit einbezogen. Ihren Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre begründete die Sowjetunion mit der Entdeckung des sechsten Kontinents durch einen russischen Seefahrer im Jahre 1820. Unter Chruščev sei die sowjetische Polarforschung dann massiv ausgebaut worden. Die Arktis wurde als internationales Freiluftlabor angesehen, in dem ab 1957/58, in der Hochphase des Kalten Kriegs, die Gegner miteinander friedlich forschen durften. Innerhalb der Sowjetunion wurde die Eroberung der Polarregionen ähnlich propagandistisch ausgeschlachtet wie die des Kosmos: Der neue Sowjetmensch habe menschenfeindliche Gebiete erobert und den Kommunismus vorangetragen.

In der letzten Tagungssektion wurden Imaginationen und Kooperationen während des Kalten Kriegs beleuchtet. Anfangs sprach ANDREAS HILGER (Hamburg) über den Literaturexport der Sowjetunion nach Indien und die Übersetzung indischer Autoren für den sowjetischen Büchermarkt. Nach Stalins Tod sei hierbei eine stärkere Hinwendung zu künstlerischer Freiheit zu konstatieren. Auch Autoren, die in der Sowjetunion der Zensur zum Opfer fielen, konnten nun in Übersetzung in Indien durchaus veröffentlicht werden. SARA LORENZINI (Trient) sprach über die sowjetische Entwicklungshilfe in Afrika. Ihre Untersuchung der Arbeit in der Kommission für technische Zusammenarbeit zeigte, wie sehr die Sowjetunion immer wieder darauf gedrängt habe, dass ihre Kredite zurückgezahlt würden. Die Diskussionen in der Kommission berichten somit nicht von Erfolgen, sondern einzig über (Geld-)Probleme. NATAŠA MIŠKOVIĆ (Zürich) fragte danach, wer die Blockfreiheit erfunden habe. Bei Tito und Nehru sei zwar die Blockfreiheit jeweils anders angesehen worden, doch seien beide inspiriert gewesen von ihren Erfahrungen vor dem Zweiten Weltkrieg. Mišković erläuterte, wie damals die Blockfreiheit langsam aus dem zeitgenössischen Diskurs heraus entstanden sei und sich vom Selbstbestimmungsrecht der Völker abgeleitet habe. Im letzten Beitrag der Slavistin GESINE DREWS-SYLLA (Tübingen) wurde anschaulich die Kritik am Sowjetsystem im provokanten Roman „Eto ja, Editschka“ (1979) von Eduard Limonov beschrieben. Wenn es sich dabei um eine Kritik am Regime der Sowjetunion gehandelt habe, seien einzelne Szenen des Romans zugleich auch als Angriffe auf die Zensur in den Vereinigten Staaten von Amerika und den dortigen Rassismus der 1970er Jahre zu lesen.

Vor der Schlussdiskussion kommentierten BIRGIT SCHÄBLER (Erfurt) und KATJA NAUMANN (Leipzig) die Tagungsbeiträge und -diskussionen. Schäbler betonte, dass Globalgeschichte ein „work in progress“ sei. Wie die Tagung gezeigt habe, orientiere sich die Globalgeschichte verstärkt an Prozessen, während die ältere Weltgeschichte vermehrt Zivilisationen untersuche. Schäbler hätte sich jedoch stärkere anthropologische Fragestellungen bei einzelnen Themen erhofft, denn letztlich seien es auch die Akteure, die global agierten und so auch beschrieben werden könnten. So hätte der Tagungstitel eventuell auch besser „Globale Perspektiven auf die Osteuropäische Geschichte“ geheißen. Naumann wies in ihrem Kommentar daraufhin, die Globalgeschichte nicht überzustrapazieren. Die Frage im Umgang mit dem empirischen Material laute, wozu man die globale Perspektive überhaupt benötige. So könne eine Globalgeschichte gängige Muster aufbrechen. Einige Fragen könnten hierbei lauten: Haben verschiedene Räume ihre eigene Globalität? Wessen Globalgeschichte ist es und für wen schreiben wir sie?

Die Tagung schloss mit einer kurzen Gesamtdiskussion der Ergebnisse. Während bei einzelnen Themen die globalhistorische Perspektive noch wenig ausgeprägt ist, sondern sie vor allem auf Transkulturalität verweisen, haben andere Beiträge das Neudenken durch den globalen Ansatz eindrucksvoll unter Beweis gestellt. So könnte die Geschichte der Sowjetunion im Kalten Krieg durch die Untersuchung ihrer Peripherien, wie der Antarktis, eine Neubewertung durch den globalen Ansatz erfahren. Ebenso verspricht die weitergehende Untersuchung der entdeckenden Schifffahrt um 1800 neue Erkenntnisse der wissenschaftlichen Zusammenarbeit von Europäern in der Welt und ihre Vernetzungen mit den Einwohnern Außereuropas. Doch bei aller Globalität könne auch betont werden, dass es zuerst eines vielleicht technischen oder wissenschaftlichen Anschubs bedurft habe, der den Globus überhaupt erfahrbar gemacht habe, so Klaus Gestwa mit seinem pointierten Ausruf zur Festsetzung eines Startpunkts der Globalgeschichte: „Am Anfang war das Schiff.“

Die gemeinsame Tagung von VOH und Herder-Institut hat eine fachinterne Diskussion angestoßen. Eventuell wird es hier der Osteuropäischen Geschichte sogar gelingen, der gesamten deutschsprachigen Historiographie wichtige Impulse in Richtung Globalgeschichte zu geben. Die Beiträgerinnen und Beiträger haben jedenfalls mit ihren Themen eine Fülle an Anknüpfungspunkte geliefert, die es nun weiter zu entwickeln gilt.

Konferenzübersicht:
Martin Aust (München), Julia Obertreis (Freiburg, Frankfurt/Oder):
Osteuropäische Geschichte und Globalgeschichte – eine Einführung

Sektion I: Globalgeschichte interimperial

Ulrich Hofmeister (Wien/Gießen):
Die Positionierung der russländischen Herrschaft in Zentralasien im globalen Kontext

Moritz Deutschmann (Florenz):
Das Zarenreich im Iran im frühen 20. Jh.

Sören Urbansky (Freiburg):
Kosaken im russisch-chinesischen Grenzgebiet

Moderation: Jan Kusber (Mainz)

Sektion II: Dal’nij Vostok – Mythos Ferner Osten: Die Bedeutung des ostasiatisch-pazifischen Raumes für Russland und die Sowjetunion

Eva-Maria Stolberg (Bonn):
„Natives have no voice?“: Neue Ansätze der post colonial studies für eine Verflechtung indigener-sibirischer und transpazifischer Geschichte

Frank Grüner (Heidelberg):
Zwischen Russland und Asien. Kontakte, Grenzüberschreitungen und transkulturelle Austauschprozesse in der mandschurischen Stadt Harbin 1898-1949

Martina Winkler (Münster):
Russland auf dem Weg nach Amerika – Der Pazifik als Fenster zur Welt?

Andreas Renner (Tübingen/Köln):
Die Sowjetunion und Hiroshima

Moderation: Ludwig Steindorff (Kiel)

Sektion III: Nordmeerexpeditionen und Polarforschung

Birte Kohtz (Gießen):
Forschungskonjunkturen im nördlichen Eismeer

Alexander Kraus (Köln):
Das Erste Internationale Polarjahr 1882/83. Die Entstehung einer transnationalen Wissenschaftsdisziplin

Klaus Gestwa (Tübingen):
Das Internationale Geophysikalische Jahr 1957/58. Die Geschichte der Antarktis im Kalten Krieg

Moderation: Andreas Lawaty (Lüneburg)

Sektion IV: Imaginationen und Kooperationen im Kalten Krieg

Andreas Hilger (Hamburg):
Imperiale Mission und nationale Dynamik: die UdSSR und Indien 1945-64

Sara Lorenzini (Trient):
Coordinating Modernisation: the Commission for Technical Cooperation in the CMEA

Nataša Miškovic (Zürich):
Wer erfand die Blockfreiheit? Überlegungen zur Verknüpfung von Osteuropäischer und Globalgeschichte

Gesine Drews-Sylla (Tübingen):
Eduard Limonovs Négritude-Lektüre: Eto ja, Edicka

Moderation: Peter Haslinger (Marburg/Gießen)

Kommentare: Birgit Schäbler (Erfurt) / Katja Naumann (Leipzig)


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