Stadt zwischen Erinnerungsbewahrung und Gedächtnisverlust

Stadt zwischen Erinnerungsbewahrung und Gedächtnisverlust

Organisatoren
Joachim J. Halbekann; Sabine von Heusinger (Mannheim/Köln); Ellen Widder; Südwestdeutscher Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung; Stadtarchiv Esslingen; Fachbereich Geschichte, Universität Tübingen
Ort
Esslingen am Neckar
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2010 - 21.11.2010
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Von
Katrin Dillmann / Iris Holzwart-Schäfer / Marco Veronesi, Fachbereich Geschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Im Jahre 2010 jährte sich zum 400. Mal der Umbau der spätromanischen Allerheiligenkapelle in Esslingen am Neckar, der zum Ausgangspunkt für deren bis heute andauernde Nutzung als Stadtarchiv wurde. Dieses Jubiläum bildete den äußeren Anlass der vom Südwestdeutschen Arbeitskreis für Stadtgeschichtsforschung und dem Stadtarchiv Esslingen in Verbindung mit dem Fachbereich Geschichte der Universität Tübingen veranstalteten Tagung, die unter der Leitung von Joachim J. Halbekann (Esslingen), Sabine von Heusinger (Mannheim/Köln) und Ellen Widder (Tübingen) stand. Im Zentrum der Tagung standen sowohl städtische Erinnerungskulturen als auch deren Kehrseite, das kollektive Vergessen und die Zerstörung von Medien und Orten der Erinnerung. Diese Thematik bietet sich für den Arbeitskreis, dem viele Archivare und Archivarinnen angehören, geradezu an, und stieß denn auch auf reges Interesse bei den Anwesenden. Der geographische Rahmen der Vorträge umfasste neben deutschen auch italienische Städte, zeitlich wurde der Bogen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart gespannt.

Die Tagung wurde mit dem öffentlichen Vortrag des Leiters des Stadtarchivs JOACHIM J. HALBEKANN (Esslingen) eröffnet, der einen Überblick über die Geschichte des Esslinger Archivwesens gab. Die wichtigsten kommunalen Dokumente wurden bereits früh in einem eigenen Archivraum im Südturm der Stadtpfarrkirche St. Dionys aufbewahrt. In unmittelbarer Nachbarschaft dazu funktionierte man im Jahr 1610 die in der Reformation (1531) aufgehobene Allerheiligenkapelle mit dem Beinhaus am Südrand des Friedhofs durch ihre bauliche Zusammenführung mit der benachbarten Stadtkanzlei zunächst zum Registraturgebäude um, das sich schließlich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zum ,Stadtarchiv‘ entwickelte. Der Referent hob hervor, dass das Gebäude damit weiterhin ein zentraler Ort des kollektiven städtischen Gedächtnisses blieb, nun allerdings nicht mehr im Sinne der mittelalterlichen Totenmemoria, sondern als Lagerort der schriftlichen Überlieferung der Stadt. Die städtische Archivgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert war geprägt von Phasen der strukturellen Vernachlässigung, aber auch der Wertschätzung – so in der NS-Zeit, als das Gebäude aufwändig saniert wurde. In einem abschließenden Längsschnitt zur Bedeutung des Stadtarchivs für die städtische Erinnerungs- und Gedächtniskultur wies der Referent vor allem auf die Interdependenz von allgemeiner Stadtgeschichte, zeitgebundenem Geschichtsbewusstsein und Wert- bzw. Geringschätzung des Stadtarchivs hin.

ELLEN WIDDER (Tübingen) betonte in ihrer Einführung, dass die in den letzten Jahren zu beobachtende Beschäftigung mit Erinnerungskulturen im Bereich der Geschichtswissenschaft ein verstärktes Interesse an der Archivgeschichte hervorgerufen habe. Andererseits wies sie auf das Dilemma hin, in dem sich das Archivwesen durch die Herausforderungen der gestiegenen Datenflut sowie weiterer Aufgabenveränderungen befinde, wodurch immer weniger Zeit für die Erforschung der eigenen Institutionengeschichte bleibe.

Die erste Sektion galt städtischen Erinnerungsorten. So legte unter anderem MARTIN HÖPPL (München/Bamberg) in seinem Vortrag dar, dass für das Verständnis der zeitgenössischen Rezeption von Gründerzeitdenkmälern die Berücksichtigung des Zu-Fuß-Gehens als Kulturtechnik entscheidend sei. Monumente und die sie umgebenden Plätze sollten dem gehobenen Bürgertum beim Promenieren Gesprächsstoff zur Hebung der Bildung und des nationalen Bewusstseins liefern. Durch aufwändig inszenierte, teils militärisch geprägte Enthüllungsfeiern sollten Erinnerungsräume konstruiert werden. Bereits um 1900 erfolgte ein Paradigmenwechsel in der Stadtplanung, die sich nun stärker an den Erfordernissen der Verkehrs- und sonstigen Infrastruktur zu orientieren begann. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden schließlich viele Denkmäler durch Umsetzung oder Zerstörung der umgebenden Anlagen dekontextualisiert, womit auch ihre ‚Lesbarkeit‘ weitgehend abhanden kam.

MARC VON DER HÖH (Bochum) behandelte am Beispiel der toskanischen Stadt Pisa das Thema „Erinnerungskultur und frühe italienische Kommune“. Er konstatierte dort bereits im 11. Jahrhundert eine außergewöhnlich breite historiographische wie literarische Überlieferung, die auf den Heidenkampf abhob und sich von anderen Seestädten wie etwa Genua sowie anderen italienischen Kommunen deutlich unterschied. Auch der Pisaner Dom fungierte als ein Zentrum der Memoria, bei der allerdings innerstädtische Konflikte der Kommune zugunsten der Betonung der concordia ausgespart blieben. Die in Pisa von Laien und Klerus gemeinsam getragene kommunale Bewegung habe zur Mitwirkung der Pisaner Schriftgelehrten bei der Konstruktion der kommunalen Memoria beigetragen. AXEL BEHNE (Cuxhaven/Stade) spezifizierte das Tagungsthema durch einen Blick auf die lombardischen Städte Mantua und Mailand, wobei er die Bedeutung der Archive beim Wandel der Kommunen in Signorien und schließlich in reichsrechtlich „legitimierte“ Fürstentümer herausstellte.

Die zweite Sektion zu den Medien des Stadtgedächtnisses wurde mit einem Vortrag von MARK MERSIOWSKY (Innsbruck) über die „Medien der Erinnerung in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten“ eingeleitet. Anknüpfend an Jan Assmann und Klaus Graf entwarf er eine Typologie der Medien der Erinnerung, zu denen er neben Archivalien, Inschriften, Gebäuden und Kunstwerken auch Symbole und Rituale wie Prozessionen, Lieder und Sprüche, Wahrzeichen und Spolien zählte. Auch Zerstörungen, etwa der Häuser von Aufständischen oder Juden, konnten zum Erinnerungsmedium werden. Archive gerieten erst spät zum Erinnerungsmedium, einzelne Archivalien schon früher, etwa bei den Schwörtagen in Ulm oder Esslingen, an denen der Schwörbrief verlesen und so von der Schriftlichkeit wieder in die mündliche Sphäre transferiert wurde. Solche Rituale zwischen Recht und Geschichte zeigen, wie Rechtstexte eine zentrale Rolle bei der Bildung und Wahrung von Identitäten spielen konnten. Derartig aufwändige mediale Inszenierungen sind jedoch nicht charakteristisch für die städtische Erinnerungskultur, wie die Bände der „Deutschen Inschriften“ belegen. Darin haben geistliche Memorialinschriften den größten Anteil, während die Orte und Medien der Vergegenwärtigung der Stadtgeschichte, die uns heute besonders auffallen, eher die Ausnahme bildeten.

GABRIELE BESSLER (Köln/Stuttgart) gab Einblicke in die Entstehung, Zusammensetzung und Funktionen städtischer Sammlungen aus der Zeit vor 1800, die bisher vergleichend noch kaum wissenschaftlich aufgearbeitet worden sind. Erste nennenswerte städtische Sammlungen sind im 16. Jahrhundert nachweisbar, etwa in Nürnberg und Augsburg. Die Initiative zur Gründung ging oft auf gelehrte Mittelschichten zurück, die an Kulturgütern interessiert waren, sich deren Erwerb aber nicht leisten konnten. Den Grundstock öffentlicher Sammlungen bildeten häufig Bibliotheken im Verbund mit Wunderkammern. Die oft auch in Hinblick auf gymnasialen Unterricht initiierten Sammlungen dienten neben diesem praktischen Zweck der Selbstnobilitierung, der Stärkung des bürgerlichen Gemeinwesens und waren profane Alternative zu kirchlichem Engagement.

CARLA MEYER (Heidelberg) skizzierte ihr Projekt einer Kultur- und Technikgeschichte des Papiers. Gegenüber der pergamentenen sei die papierne Überlieferung „ein breiter Strom“, in dem sich letztlich eine kulturelle Revolution manifestiere und über den die Zeitgenossen aber im Gegensatz zum Buchdruck mit Schweigen hinweggegangen seien. Davon ausgehend erläuterte sie denkbare Ansätze, die historischen Wirkungen der Verbreitung des Papiers greifbar machen zu können. Dazu gehören eine Geschichte des Papier-Imports aus dem arabischen Raum in das hochmittelalterliche Europa ebenso wie eine Untersuchung der „technisch-materiellen Voraussetzungen“ einer eigenen europäischen Papierproduktion in Italien und im nordalpinen Raum. Meyer räumte aber ein, dass bis weit in die Neuzeit hinein wichtige oder zur langen Aufbewahrung bestimmte Dokumente weiterhin auf Pergament geschrieben wurden.

Ein Novum bildeten die „Videos gegen das Vergessen“ des Künstlers CHRISTOPH BRECH (München), der darin Erinnerung und Vergänglichkeit thematisierte. Gleichartige weiße Grabkreuze werden von Eltern totgeborener Kinder im heutigen Rom mit Gegenständen unterscheidbar gemacht, die schon bald Zeichen der Vergänglichkeit aufweisen. Ähnliches galt für jahrhundertealte, kaum noch Relief aufweisende Gesichter auf römischen Marmorgrabplatten, für Portraits aus dem 19. Jahrhundert auf dem römischen Friedhof Campo Verano sowie für einen irischen Friedhof auf freiem Feld, auf dem unbearbeitete Steine an ungetaufte Kinder erinnern.

Die dritte Tagungssektion wandte sich besonders dem neuzeitlichen Umgang mit der städtischen kollektiven Erinnerung zu. MALTE THIESSEN (Oldenburg) referierte über „Erinnerungen an den Bombenkrieg in Städten der Bundesrepublik und der DDR“, den er auf nationaler Ebene als jahrzehntelanges Tabuthema bezeichnete, was allerdings für die Geschichte der betroffenen Städte nicht zutraf. Hier sah er eine „Mesoebene“ zwischen den Kriegserfahrungen einzelner und den nationalen Geschichtsbildern. Dabei diagnostizierte er verschiedene Erinnerungsmuster, die vom Bombenkrieg als „Heldengeschichte“ der Stadtbevölkerung, als Gründungsmythos in der Geschichte der DDR und nicht zuletzt auch als Ausgangspunkt einer Versöhnungsgeschichte reichten. Der städtische Raum verknüpfte „kommunikatives“ und „familiäres Gedächtnis“, Bunker und Bombenlücken dienten als Medien der Erinnerung. Andererseits entstanden internationale „Netzwerke der Erinnerung“ (Partnerstädte) an den Bombenkrieg, verstanden als universale Opferschaft des Krieges, die sich im Rahmen einer Vergleichsgeschichte zur Untersuchung anbieten.

Zum Abschluss der Tagung berichtete die Archivleiterin BETTINA SCHMIDT-CZAIA (Köln) über „Zerstörung, Bergung und Wiederaufbau“ des Kölner Stadtarchivs. Seit dessen Einsturz im März 2009 wurden mittlerweile 85 Prozent der Archivalien, größtenteils mit mittleren und schweren Schäden, geborgen, demgegenüber müssen fünf Prozent als verloren gelten, während die aufwändige Bergung der letzten zehn Prozent derzeit noch läuft. Man rechnet mit einem Zeitaufwand von bis zu 50 Jahren und einem erforderlichen Einsatz von bis zu 400 Mio. Euro, um zumindest die Schäden aufzuarbeiten und die Archivalien in irgendeiner Form wieder nutzbar zu machen. Gleichzeitig versucht man, auf nationaler Ebene Gelder einzuwerben und durch Ausstellungen sowie ein ambitioniertes Begleitprogramm die Kölner Bürger für ,ihr‘ Archiv als „Bürgerarchiv“ auch langfristig zu interessieren. Mittlerweile ist es an zwei Standorten in Köln wieder eingeschränkt nutzbar, die Pläne für den Neubau liegen ebenfalls vor.

Die Vorträge bewegten sich durchweg auf hohem Niveau und gaben Anlass zu lebhaften Diskussionen. Trotz der großen thematischen und methodischen Bandbreite waren alle Beiträge eng auf das Tagungsthema bezogen und es ergaben sich vielfältige Querverbindungen zwischen ihnen. Insgesamt ist dem Resümee von Bernd Roeck (Zürich), dem Vorsitzenden des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, zuzustimmen, der die Bedeutung und das Potential des Themas für die vergleichende Stadtgeschichtsforschung herausstellte. Besonders aufschlussreich und weiterführend erscheint die während der Tagung gewonnene Erkenntnis, dass sich gerade in der Gedächtniskultur und ihren „Erinnerungslücken“ spezifische städtische Identitäten und Praktiken vom Mittelalter bis in die neueste Zeit, das heißt bis in die Zeit der Nationalstaaten und darüber hinaus, nachweisen und erforschen lassen.

Tagungsübersicht:

Joachim J. Halbekann (Stadtarchiv Esslingen)
Vom knöchernen zum papiernen Gedächtnis. 400 Jahre Stadtarchiv Esslingen in der Allerheiligenkapelle

Ellen Widder (Universität Tübingen)
Thematische Einführung

Sektion I: Stadt und Erinnerung: Orte

Klaus Krüger (Universität Halle-Wittenberg)
Um der Gnade der Auferstehung willen und zum Gedächtnis der Nachwelt – Der Stadtgottesacker in Halle und seine Inschriften

Martin Höppl (Universitäten München/Bamberg)
Denkmäler der Gründerzeit und der Verfall öffentlicher Erinnerungsräume

Marc von der Höh (Universität Bochum)
Erinnerungskultur und frühe italienische Kommune

Axel Behne (Archiv des Landkreises Cuxhaven)
Archiv und Herrschaft - Die Wandlung der oberitalienischen Stadtkommunen in Signorien

Sektion II: Stadt und Gedächtnis: Medien

Mark Mersiowsky (Universität Innsbruck)
Medien der Erinnerung in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten

Gerold Bönnen (Stadtarchiv und Jüdisches Museum Worms)
Die ,Neuerfindung‘ städtischer Identität: Der Wandel von kollektiver Erinnerung und Gedächtnis der Stadt Worms im langen 19. Jahrhundert

Gabriele Beßler (Köln/Stuttgart)
Vormoderne städtische Sammlungen: Erinnerung und Identifikation

Carla Meyer (Universität Heidelberg)
Pergament für die Ewigkeit, Papier für den Moment? Überlegungen zur Materialität des Erinnerns und Vergessens in der spätmittelalterlichen Stadt

Christoph Brech (München)
Zeit, Übergang, Erinnerung – ,Traspasso‘ und andere Videos gegen das Vergessen

Sektion III: Stadt und Geschichte: Amnesie

Peter Glasner (Universität Bonn)
Organisiertes Erinnern und Vergessen: Arbeit am (Straßen-) Namens¬gedächtnis der Stadt

Malte Thiessen (Universität Oldenburg)
Der Untergang im deutsch-deutschen Gedächtnis: Erinnerungen an den Bombenkrieg in Städten der Bundesrepublik und der DDR

Bettina Schmidt-Czaia (Stadtarchiv Köln)
Zerstörung, Bergung und Wiederaufbau – Das historische Archiv der Stadt Köln

Bernd Roeck (Universität Zürich)
Resümee