Die gesammelte Welt. Wissensformen und Wissenswandel in Zedlers "Universal-Lexicon"

Die gesammelte Welt. Wissensformen und Wissenswandel in Zedlers "Universal-Lexicon"

Organisatoren
Flemming Schock; Kai Lohsträter
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2010 - 19.11.2010
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Von
Frank Weiske, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Spätestens seit Einführung der Zedler-Medaille als Preis für den besten natur- und geisteswissenschaftlichen Beitrag in der Wikipedia ist das Universal-Lexicon Johann Heinrich Zedlers auch einem weiteren Publikum ein Begriff. Gleichwohl steht die wissenschaftliche Beschäftigung mit dieser 68 Bände umfassenden und ca. 288000 Artikel beinhaltenden größten Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts noch immer an einem Punkt, an dem mehr Fragen offen denn geklärt sind. Auf der Grundlage bisheriger Ergebnisse sollte die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung Impulse für neue und etablierte Forschungsperspektiven zum Zedler geben. Konkret formulierten die Veranstalter Flemming Schock (Darmstadt) und Kai Lohsträter (Hamburg) drei Ziele: So sollte vor dem Hintergrund einer verstärkten Enzyklopädieforschung seit den 1990er Jahren zum einen ausgemacht werden, welchen „Ort“ der Zedler in der Wissens- und Sammlungskultur der Vormoderne einnahm. Zum anderen sollte näher beleuchtet werden, wie bzw. auf welche Weise das im Zedler dargestellte Wissen formiert und präsentiert wurde. Über diesen Zugriff versprach man sich nicht zuletzt weiteren Aufschluss zu Autoren und Quellen hinter den Artikeln des Universal-Lexicons. Die als „offener Workshop“ konzipierte Tagung sollte ferner Fragestellungen zur Rezeption und zur Leserschaft des Zedlers sowie zu dessen Einordnung in den frühneuzeitlichen Medienverbund in den Blick nehmen.

CHRISTINE HAUG (München) verwies in ihrer Einführung darauf, dass die Desiderate, die am Ende des 2006 stattgefundenen letzten Arbeitsgespräches zum Zedler formuliert wurden, noch immer uneingeschränkte Gültigkeit besäßen. So bleibe weiterhin wünschenswert, die Vertriebsstrategien auf dem Buchmarkt des 18. Jahrhunderts näher zu beleuchten, etwa das auch von Zedler verwandte „Marketinginstrument“ der Bücherlotterie. Ferner stellte Haug die Mitarbeiter und Autoren des Lexikons, ihre Lebensumstände und Arbeitsweise in den Mittelpunkt noch zu leistender Untersuchungen. Eine umfassende Kenntnis über die Beiträger könne helfen, die Situation des Leipziger Buchgewerbes in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts insgesamt weiter zu erhellen. Darüber hinaus wären Studien wünschenswert, die Intermedialität des Universal-Lexicons näher zu beleuchten.

Um mediale Parallelen ging es auch im Beitrag von INA ULRIKE PAUL (München), die den Zedler in die Enzyklopädielandschaft Europas einbettete. Seit dem ersten „enzyklopädischen Werk in Landessprache“, Louis Moréris Grand Dictionaire Historique (1674), gab es eine Vielzahl ähnlicher Versuche, gesammeltes Wissen zu ordnen: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es nicht weniger als 30 vergleichbare Werke in 11 Sprachen. Diese zu großen Teilen in der Auseinandersetzung mit Moréri, der Berichtigung oder Übernahme von Inhalten seines Werkes entstandenen Enzyklopädien nutzen dabei gezielt Abgrenzungsstrategien zur Steigerung der Marktattraktivität. Paul ging hierbei ausdrücklich auf die vormodernen ökonomischen Realitäten mit ihren Monopolstrukturen ein, die viele europäische Enzyklopädieprojekte prägten. Insbesondere in den (aufklärerischen) Programmatiken offenbarten sich nach Paul jedoch oft deutliche Parallelen der Werke. Hier bilde der Zedler als alles inkorporierende „Zusammenstellung mit wenig programmatischen Konzept“ eine deutliche Ausnahme.

Dem Charakter dieser „Zusammenstellung“, das heißt dem Wesen des Zedlers als vermeintliche Ansammlung von Filiationen und Versatzstücken anderer Werke war der Beitrag JUTTA NOWOSADTKOs (Hamburg) gewidmet. Sie verwarf dabei das allzu einfache Bild vom Universal-Lexicon als bloßer Anreihung von Entlehnungen und Übernahmen. Nowosadtko verwies auf die Heterogenität der Artikel, die das Bild eher komplizierter mache, und konstatierte in diesem Zusammenhang einen fehlenden einheitlichen Bearbeitungsstandard. Zudem widmete sie sich der zeitgenössischen Diskussion um das Privilegienrecht, das sie von der retrospektiven Charakterisierung als Keimzelle der Urheberrechtsdebatte gelöst sehen wollte. Insgesamt zeige der zeitgenössische Diskurs das Schwanken des Universal-Lexicons zwischen Kompilation und Plagiat.

Ausgehend von der heutigen Nutzung der digitalisierten Version des Universal-Lexicons informierten ULRICH JOHANNES SCHNEIDER (Leipzig) und THOMAS WOLF-KLOSTERMANN (München) über das zukünftige Projekt einer Volltexterschließung der Enzyklopädie, die technischen Möglichkeiten und deren Grenzen. Schneider plädierte für einen pragmatischen Ansatz. Wichtig sei die Erkenntnis, dass der Zedler keine innere Systematik aufweise. In seinem Ansatz des „Deep Linkings“ formulierte er das Ziel, das Universal-Lexicon in der nach 1999 und 2004 nunmehr dritten Erschließungsphase als Textkompilation sichtbar zu machen, um etwa diskursanalytische Untersuchungen zu erleichtern. Dass dieses Projekt eines „Zedlers 3.0“ auch knapp 11 Jahre nach der ersten Digitalisierungsphase allerdings nach wie vor mit technischen Problemen behaftet sei, unterstrich Wolf-Klostermann im Anschluss. Dabei wies er zum Beispiel auf die hohen Fehlerquoten bei Schriftarterkennung und Buchstabendeutung hin. Andererseits stellte er aber auch einige interessante Möglichkeiten in Ausblick, wie z.B. einen neuen Kategorienfilter, eine erweiterte Lemmatasuche, eine Volltextsuche sowie die Anlage von Datenbanken. Hierbei werde auf die bereits vorhandene Zusammenarbeit der Staatsbibliothek München mit dem Unternehmen Google sowie eine Einbeziehung von Freiwilligen, in Anlehnung an das Wikipedia-Modell, gebaut.

In der sich anschließenden größten Sektion der Tagung stand das eigentliche „Wissen im Zedler“ im Mittelpunkt.

Das gesammelte Wissen der Zeit, so konstatierte INES PRODÖHL (Washington, D.C.), würde im Zedler erstmals auch nicht-akademischen Kreisen zugänglich gemacht. Im „Spannungsfeld zwischen Humanismus, Pietismus und Aufklärung“ stehend, sei das Universal-Lexicon als ein Bildungsangebot zu verstehen. Ebenso wie die pragmatisch-pädagogischen Ansätze in Pietismus und Aufklärung sei, so Prodöhl weiter, die Geschichte in ihrem zeitgenössischen Verständnis als Lehrmeisterin des Lebens ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des Lexikons.

Da thematisch bisher wenig beachtet, wurde der Beitrag WERNER TELESKOs (Wien) zu den Bildern im Zedler mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Telesko stellte heraus, dass Bildlichkeit im Universal-Lexicon lediglich in drei Formen vorkomme: Portraits (Widmungen), Schemata und Frontispiz-ähnliche Stiche, die von ihm letztlich insbesondere analysiert wurden. Dabei wies er nach, dass es an einem direkten Bezug von Text und Bild im Zedler weitgehend mangele. Durchgängig erscheine jedoch das Motiv des Bildungsprogramms, sodass die Kombination von theoretischer Abhandlung und mythologisch symbolisierter, praktischer Arbeit im Mittelpunkt der graphischen Addonata stehe.

Dass der Zedler nicht nur die europäische Mythologie kannte, sondern auch das Wissen um außereuropäische Kulturen inkorporierte, zeigte TOBIAS WINNERLING (Düsseldorf) anhand der Wahrnehmung des Buddhismus in der Enzyklopädie. Winnerling kam dabei zu dem Schluss, dass die Deskription der fernostasiatischen Religion, die allerdings an keiner Stelle des Zedlers als solche anerkannt worden sei, nahezu ausnahmslos mit Pauschalisierungen arbeite. Das Universal-Lexicon offenbare eine recht diffuse, eurozentristische Wahrnehmung dieser Thematik.

SABINE TODT (Hamburg) eröffnete den zweiten Tagungstag mit einem Beitrag zu den Körperkonstruktionen im Zedler. Unter Verweis auf den Artikel „Selbstbefleckung“ und auf den ihm zu Grunde liegenden Onaniediskurs des 18. Jahrhunderts konnte sie nachweisen, dass der Zedler hier eher den zeitgenössischen Diskurs wiedergab, als eine klare Position zu beziehen. Todt konnte zudem aufzeigen, dass der von ihr analysierte Artikel in weiten Teilen eine Kopie des entsprechenden Abschnittes der in England verfassten und ab 1716 auch im Reichsgebiet in deutscher Sprache verfügbaren „Onania“ sei.

Dass der Zedler allerdings nicht immer auf Wertungen verzichtete, konnte KARSTEN MACKENSEN (Gießen) belegen. In seinem Vortrag über die Krise der musikalischen Episteme zeigte Mackensen, dass das Universal-Lexicon im musiktheoretischen Diskurs zwischen der Ars, vertreten durch den Hamburger Musiktheoretiker Mattheson, und Scientia, in Person des Leipziger Musikwissenschaftlers Mizler, stark zur letzteren Position tendierte, was vorrangig an der Nähe Mizlers zum Verleger des Universal-Lexicons gelegen haben könnte. Letztlich, so Mackensen, handle es sich jedoch bei vielen musiktheoretischen Einträgen um „kompilatorisch unsystematische Eklektik“, die durch das Einbeziehen beider Positionen das systematische Fehlen eines musiktheoretischen Paradigmas verdeutliche.

Obgleich die Beiträge zu Körperkonstruktionen und musikalischen Epistemen den Eindruck erwecken konnten, der Zedler hinterließe durchweg mehr Fragen als Antworten, konnte KAROL SAUERLAND (Warschau) mit seiner Untersuchung der kameralwissenschaftlichen Beiträge aufzeigen, dass sich das Universal-Lexicon durchaus auch als Ratgeber mit praktischen Handlungsanweisungen präsentierte. An den Texten berühmter zeitgenössischer Kameralwissenschaftler orientiert, lieferte der Zedler zudem geradezu ‚Tipps und Tricks’ für richtiges Regieren.

Dem Bereich der Geschichte und Politik wandte sich im Anschluss daran GERMAN PENZHOLZ (Augsburg) zu, der sich der Darstellung von „Friedensarbeit“ und Friedensverträgen widmete, welcher über die Jahre und Bände ein sichtbar größerer Raum innerhalb des Lexikons eingeräumt wurde. Penzholz interessierte dabei neben den Gründen für diese Veränderung vorrangig die Behandlung interkultureller Probleme bei der Beschreibung von Friedensverhandlungen. Neben der Verortung eines Wandels im Wesen von Friedensverträgen – von „Gedankenstützen zu Herrschaftsausdrücken“ – konstatierte er ein gestiegenes Interesse der bürgerlichen Gesellschaft an der Friedensdiplomatie und stellte fest, dass sprachliche Differenzen kaum, zeremonielle Unterschiede hingegen starke Beachtung innerhalb der Beiträge fanden.

Nicht selten wandten sich die anonymen Lexikonautoren auch dem philosophischen Feld zu. So wies PETER KÖNIG (Heidelberg) in seinem Beitrag zum Artikel „Grausamkeit“ im Universal-Lexicon nach, dass man sich hierbei deutlich einer antiken Seneca‘schen Grausamkeitsterminologie und -definition angeschlossen habe, den Blick auf die Gegenwart jedoch durch eine modern anmutende innere Erweiterung über klassische Herrschaftsverhältnisse hinaus nicht verstellte. In seiner von der Erkenntniskategorie der Erfahrung ausgehenden Argumentation zeige sich der Autor des Artikels, so König, geradezu modern.

Als ebenso modern und vor dem Hintergrund der Debatten seiner Zeit deutlich kontrovers charakterisierte DANIEL KERSCHBAUMER (Klagenfurt) den nicht stringent wirkenden Versuch des Zedlers, die Frage nach der Abolution zu beantworten. Kerschbaumer verwies auf die ebenso uneindeutige Haltung bekannter Aufklärer, die oftmals nicht minder davor gefeit waren, von einer „Überlegenheit der weißen Hautfarbe“ auszugehen. Die Sklaven- und Sklavereibeiträge im Universal-Lexicon seien somit als Kinder ihrer Zeit anzusehen, bedienten sie sich deren Autoren doch nur allzu oft der Rechtfertigungsstrategien der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, denen ein deutlicher Überlegenheits- und Missionsanspruch Europas inne wohnte.

Die Autoren und Verfasser der Beiträge im Zedler standen schließlich noch einmal im Fokus des letzten Tagungsbeitrages. IRA DIEDRICHs (Potsdam) Vortrag zur „Wahrnehmung und Konstitution des literarischen Autors im 18. Jahrhundert“ richtete das Interesse nicht nur auf die Motivation der Beitragsschreiber, sondern auch auf deren Wertung des zeitgenössischen Schriftstellergewerbes insgesamt. Diedrich erklärte, dass die schriftstellerische Tätigkeit im 18. Jahrhundert primär der Erlangung von Anerkennung und Lob geschuldet gewesen sei. Im Hinblick auf die Darstellung anderer (auch nicht-deutschsprachiger) Autoren erkannte sie deutliche protonationale Stereotypen des Berufsschriftstellers, der sich im 18. Jahrhundert aus der ständischen Verortung zum „freien Autor“ emanzipierte.

Die Tagung konnte mit ihrem weiten thematischen Horizont die Sonderstellung des Zedlers in der Enzyklopädielandschaft des 18. Jahrhunderts weiter akzentuieren. Das Universal-Lexicon markiert eine wissensgeschichtliche Umbruchphase, was die zum Teil irritierende Vielfalt der vereinten Diskurse erklärt, die sich jeglichen retrospektiven Harmonisierungsversuchen entziehen. Ferner gaben die Beiträge, die vielen offengebliebenen Fragen und regen Diskussionen Anstöße für die zukünftige Zedler-Forschung. Die projektierte Volltexterschließung wird dabei in den kommenden Jahren völlig neue Potentiale eröffnen.

Tagungsübersicht:

I. Begrüßung und Einführung

Kai Lohsträter, Flemming Schock

Der Verleger Zedler und das ‚Universal-Lexicon‘. Zwischenbilanz und Forschungsdesiderate
Prof. Dr. Christine Haug

II. Der ‚Zedler‘ im enzyklopädischen Zeitalter

Enzyklopädische Vorläufer von Zedlers ‚Universal-Lexicon‘ im Alten Reich und in Europa
Ina Ulrike Paul

Kompilationsstrategien und Plagiate im ‚Zedler‘
Jutta Nowosadtko

III. ‚Zedler 2.0‘ – Die Enzyklopädie im digitalen Zeitalter

Deep Linking 1750: Das ‚Universal-Lexicon‘ im Volltext
Ulrich Johannes Schneider

Die Digitalisierung des ‚Zedlers‘ – Status und Perspektiven
Thomas Wolf-Klostermann

IV. Das Wissen im ‚Zedler’ – Analysen und exemplarische Themenfelder

Die Historizität des ‚Zedlers‘ – Konzeption von Geschichte und Gegenwart im 18. Jahrhundert
Ines Prodöhl

Visuelle Strategien in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘
Werner Telesko

„Sie haben einen Abscheu vor dem Mahometanischen Gesetze, und wollen sich doch auch nicht Heyden nennen lassen“. Zur Buddhismus-Wahrnehmung im ‚Zedler‘
Tobias Winnerling

Körperkonstruktionen im ‚Zedler‘. Maschinen, Säfte und Sexualität
Sabine Todt

Dissoziation und Universalität. Zur Krise der musikalischen Episteme in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘
Karsten Mackensen

Kameralwissenschaft im ‚Zedler‘
Karol Sauerland

Der Weg zum Frieden in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘. Vermittlung historischer und zeitgenössischer Friedensverträge im 18. Jahrhundert
German Penzholz

‚Grausamkeit‘ in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘
Peter König

„Der Zustand dieser Sclaven in America ist noch ganz erträglich“ – Die Darstellung von Sklaverei und Sklavenhandel in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘: Apologie oder Anklage?
Florian Kerschbaumer

„… daß viele wohl nichts antreibet, als der Ruhm, ein Autor zu seyn …“. Zur Wahrnehmung und Konstitution des literarischen „Autors“ im 18. Jahrhundert in Zedlers ‚Universal-Lexicon‘
Ira Diedrich


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