Research Approaches to Former Soviet States: A Practical Introduction

Research Approaches to Former Soviet States: A Practical Introduction

Organisatoren
Jonathan Waterlow, History Faculty, University of Oxford; University of East Anglia
Ort
Oxford
Land
United Kingdom
Vom - Bis
12.11.2010 - 13.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Gleb J. Albert, Bielefeld Graduate School in History and Sociology, Universität Bielefeld

Die Recherche in postsowjetischen – vor allem russischen – Archiven gestaltet sich für Forscher/innen aus dem Westen oft als ein Abenteuer für sich. Undurchschaubare Regeln und Hierarchien, eine nicht immer arbeitsfreundliche Umgebung, launige Archivmitarbeiter/innen, zudem eine Deklassifizierungspolitik ehemals geheimer Dokumente, die trotz gegenläufiger Tendenzen oft die Züge einer Reklassifizierung trägt und den Öffnungsbemühungen der 1990er-Jahre zuwiderläuft – all das lässt die ersten Archivreisen gerade für Doktorand/innen zu einem Sprung ins kalte Wasser werden.1 Dennoch lohnt die Mühe zumeist, denn gerade durch die jahrzehntelange Verschlossenheit sowjetischer Archive kann die Arbeit mit weitgehend „unberührten“ Archivbeständen Erfolgserlebnisse auslösen, auch wenn der „Archiv-Goldrausch“ der frühen 1990er-Jahre einer nüchternen Herangehensweise gewichen zu sein scheint. Um beide Seiten der Archivrecherche im postsowjetischen Raum – Hindernisse und Erfolge, Mühsal und Entdeckerglück – zu thematisieren und entsprechende Erfahrungen auszutauschen, hatte eine Gruppe britischer Doktorand/innen einen praktisch ausgerichteten Workshop initiiert.

In den Vorträgen wurden laufende und abgeschlossene Forschungen (zumeist Promotionsprojekte) präsentiert, die jeweils exemplarisch für eine bestimmte Quellengattung oder eine bestimmte Archivgruppe stehen. Während die Fachdiskussion um die postsowjetische „Archivrevolution“ zumeist Aspekte der Quellenkritik in den Vordergrund stellt, also „Arbeit mit/an den Archiven“ im Sinne wissenschaftlicher Textproduktion,2 wurden auf der Tagung vor allem praktische Fragen der Arbeit in den Archiven verhandelt: Zugänge, Arbeitsbedingungen, Planungs- und Recherchestrategien.

Im ersten Panel ging es darum, Quellenarbeit zu bestimmten Epochen anhand von Forschungsprojekten exemplarisch vorzustellen. CLARE GRIFFIN (London) stellte exemplarisch für vorrevolutionäre Quellen ihre Forschungen zur russischen Hofmedizin des 17. Jahrhunderts vor und thematisierte vor allem die praktischen Probleme, die der Forschungsgegenstand vor ihr aufgeworfen hatte, wie etwa das Entziffern von frühneuzeitlichen Handschriften oder die Odyssee durch Russlands Bibliotheken. Sie zeigte ebenfalls auf, wie stark die Beschaffenheit von Archiven und ihren Findmitteln Einfluss auf Umfang und Schwerpunktsetzung von Forschungsprojekten haben kann. Der Vortrag von ANDY WILLIMOTT (Norwich) hatte die Arbeit mit frühsowjetischen Quellen zum Thema. Willimott betonte die zentrale Bedeutung der Öffnung ehemals sowjetischer Archive für die Sozialgeschichte der Revolutionen 1917 und des Bürgerkriegs. Allerdings zeigte er am Beispiel seiner Forschungen zu „experimentellen Lebensweisen“ in der frühen Sowjetunion, dass Archivmaterialien gegenüber anderen Quellenarten oft überbewertet werden: Da sowjetische Archivalien zu einem großen Teil Überlieferungen zunehmend bürokratischer Institutionen darstellten, spieglen sich viele Themen in ihnen nur peripher oder gar nicht wider. Einen Ausweg stelle entweder das Ausweichen auf provinzielle Bestände dar, oder die Hinzuziehung anderer, nicht-archivischer Quellenarten. So seien etwa frühsowjetische Zeitungen und Zeitschriften „archives themselves“, in denen sich viele, in Partei- und Staatsarchiven nicht überlieferte, Aspekte wiederfänden.

JONATHAN WATERLOW (Oxford) problematisierte die Arbeit mit Quellen der Stalin-Ära am Beispiel seines in vielerlei Hinsicht außergewöhnlichen Dissertationsprojektes zum Humor und seinen sozialen Funktionen in der Sowjetunion der 1930er-Jahre. Hierfür wertet Waterlow vor allem polizeiliche und gerichtliche Akten aus. Neben Interpretationsfragen (wenn man etwa Humor als Mittel zur Formierung von trust groups betrachtete, lasse sich dies schlecht anhand von Archivquellen nachvollziehen, denn wenn eine trust group funktioniert habe, fände entsprechender Humor natürlich nicht seinen Weg in das staatliche Gedächtnis) werfe ein derartiges Thema gerade in Russland, wo die wissenschaftlichen Institutionen weitgehend an „klassischere“ Forschungsfragen gewohnt sind, auch praktische Probleme auf. Um inadäquate Reaktionen seitens verantwortlicher Archivmitarbeiter/innen („Es hat keinen Humor in den 1930er-Jahren gegeben!“; „Kennen Sie schon diesen Witz?“) vorzubeugen, habe Waterlow fiktive „konventionellere“ Forschungsfragen anführen müssen, um entsprechend seines Vortragsmottos „Working around the archives“ über einen derartigen Umweg Einsicht in relevante Archivmaterialien zu erhalten. Ähnliches berichtete in der anschließenden Diskussion Dan Healey, der seine Forschungen zur Homosexualität in der frühen Sowjetunion angesichts des weitgehend homophoben Klimas in der russischen Gesellschaft mithilfe vergleichbarer Strategien betreiben musste.

Als Beispiel für die Arbeit mit sowjetischen Quellen der 1950er- und 1960er-Jahre stellte schließlich ALESSANDRO IANDOLO (Oxford) seine Forschungen zur sowjetischen Westafrika-Politik vor. Für die Nachkriegszeit bereite eine restriktive Archivpolitik der Forschung nach wie vor Probleme, doch selbst das in diesem Sinne berüchtigte Historische Archiv des Außenministeriums (AVP RF) erweise sich, so Iandolo, als fruchtbare Arbeitsstätte, wenn man wisse, wo und wie man zu recherchieren habe.

In den weiteren Panels wurden Forschungsprojekte im Bereich der Intellectual History, der Kunst- und Literaturgeschichte und anderen Disziplinen vorgestellt, die auf Quellenarbeit im postsowjetischen Raum aufbauen. So präsentierte CLAIRE KNIGHT (Cambridge) ihre Forschungen zur sowjetischen Filmindustrie der Nachkriegsdekade (1945-1953). Während die sowjetischen Nachkriegsjahre von Apathie, Kriminalität und Hunger geprägt gewesen seien, stellten die wenigen Filme, die in dieser Zeit produziert wurden, eine „never-ending slideshow of abundance“ dar. Knights Recherchen konzentrieren sich vor allem auf die zentralen russischen Archive und den Staatlichen Filmfonds (Gosfil’mfond), doch appellierte sie dafür, stets auch die in den zahlreichen russischen Editionen veröffentlichen Quellen zu berücksichtigen.

Mehrere Vorträge widmeten sich den Interdependenzen zwischen Kulturkonsum und Kulturproduktion in der Sowjetunion. So befasste sich POLLY JONES (London) mit dem sowjetischen Schriftsteller Konstantin Simonov und seinen Leser/innen. Simonov (1915-1979), angesehener Schriftsteller und späterer Befürworter der Entstalinisierung, erlangte mit seinen Romanen zum 2. Weltkrieg eine große Popularität, die zu einer Flut an Zuschriften führte. Diese Briefe, zum großen Teil von Kriegsveteranen, aber auch von anderen Leser/innen, Kritiker/innen und Verehrer/innen stammte, seien von Simonov gewissenhaft ausgewertet und oft auch beantwortet worden. Jones wertete diese Kommunikation, die im Nachlass des Schriftstellers überliefert ist, aus, um Aufschluss über Erinnerungs- und Verdrängungsdiskurse der Nachkriegsjahrzehnte zu gewinnen.

Die Projekt- und Quellenpräsentationen wurden umrahmt und ergänzt durch mehrere Keynotes und Exkurse. TIMOTHY BLAUVELT (Tbilisi), Politikwissenschaftler und Mitarbeiter des American Council in der georgischen Hauptstadt, präsentierte einen Überblick über die zentralen georgischen Archive und die entsprechenden Zugangs- und Recherchebedingungen. Dabei stellte sich die Lage in Georgien teilweise diametral entgegengesetzt zu der in Russland dar. So dürfe man in manchen Archiven legal und kostenfrei fotografieren, und das ehemalige KGB-Archiv sei dank des Einsatzes von ehemaligen KGB-Offizieren offen zugänglich. Die Situation unmittelbar nach dem Fall der Sowjetunion sei allerdings für die georgische Archivlandschaft um Einiges prekärer gewesen als für die russische: Während der bürgerkriegsartigen Zustände 1991-1992 wurden viele Archivalien und Findmittel zerstört, und das ehemalige Parteiarchiv konnte nur dank des Einsatzes einer Gruppe junger Forscher/innen vor einer Entsorgung bewahrt werden. Nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die berühmte georgische Küche, was bei den Anwesenden für große Erheiterung sorgte, warb Blauvelt schließlich für Forschungsaufenthalte in georgischen Einrichtungen.

Des Weiteren gab CATHERINE MERRYDALE (London), eine Pionierin der russlandbezogenen Oral History, einen Einblick in ihre über zwanzigjährige Forschungspraxis. Sie wies auf die Unzulänglichkeiten der westlichen Trauma-Theorien im Bezug auf dem individuellen Umgang mit Kriegs- und Terrorerlebnissen im postsowjetischen Russland, und appellierte an die neue Generation, weniger zu „übersetzen“, sondern stattdessen mehr „zuzuhören“. Ihren Vortrag reicherte Merrydale mit hilfreichen Ratschlägen zum Umgang mit Zeitzeugen, etwa zur Herstellung einer vertrauenerweckenden Gesprächssituation. Ihre Präsentation erzeugte im Anschluss eine lebhafte Diskussion, in der unterschiedliche Vorstellungen und Arbeitsweisen der Oral History zutage kamen.

Ebenfalls großen Diskussionsbedarf brachte die Keynote von CATRIONA KELLY (Oxford) mit sich. Die Historikerin, die mehrere zentrale Studien zu russischer Kultur und sowjetischer Kindheit verfasst hat, setzte sich sichtbar emotionalisiert mit den Missverständnissen und Problemen auseinander, die in der Kommunikation mit den russischen Forschungsinstitutionen auftreten können. Ihre pessimistische Sicht auf den Dialog mit der russischen Wissenschaftswelt stieß nicht bei allen Anwesenden auf Zustimmung: In der anschließenden Diskussion wurde an die Entdeckerfreude appelliert, die stärker wiege als alle Kommunikationsprobleme.

Kellys Beitrag stand jedoch stellvertretend für einen Schwachpunkt des Workshops: In vielen Beiträgen wurden die Akteure der russischen historiographischen und archivalischen Landschaft als das tendenziell feindliche „Andere“ konstruiert, etwa in Gestalt übellauniger Archivar/innen, die es zu umgehen gelte, oder Historiker/innen sowjetischer Provenienz, deren Werke bestenfalls als Quellensteinbruch taugen würden. Dabei wäre es eine wirkliche Bereicherung gewesen, einige Vertreter/innen einer neuen Generation russischer Historiker vortragen zu hören, die zumindest Letzteres widerlegen könnten.

Eine äußerst kommunikative Atmosphäre zeichnete den Workshop aus. In den zahlreichen Pausen konnten Erfahrungen ausgetauscht und Kontakte geknüpft werden, und am Ende der Veranstaltung wurden an einem Runden Tisch handfeste Probleme der Forschungen im postsowjetischen Raum besprochen, wie etwa Visumsfragen, Probleme der Reisemittel und der richtigen Planung. Alle Teilnehmer/innen (allen voran – jedoch nicht nur – diejenigen, die ihren ersten Archivaufenthalt planten) konnten zweifellos wichtige Erkenntnisse, Erfahrungen, Kontakte und Informationen mit auf den Weg nehmen. Der gesamte Workshop strahlte einen Enthusiasmus aus, der einmal mehr den Beweis dafür erbrachte, dass die „Archivrevolution“ keineswegs spurlos verhallt ist.

Konferenzübersicht:

Panel I – Overview Panel

Clare Griffin (London): Using Manuscripts to Research Russian History - The Case of 17th Century Medical Texts.

Andy Willimott (Norwich): Researching Soviet Social History in the 1920s.

Jon Waterlow (Oxford): ‘But there was no humour in the 1930s!’ - Researching Around the System.

Alessandro Iandolo (Oxford): Using 1950s-1960s Sources: the Case of Soviet Policy in West Africa.

Panel II - Racial and Medical Histories
(Chair: Jon Waterlow)

Daniel Beer (London): The Human Sciences in Revolutionary Russia: Using Specialist and ‘Thick’ Journals.

Simon Pawley (London): More ‘History from the Side’: Researching Social History of Medicine of the Late Imperial and Early Soviet Era.

Keynote
Catriona Kelly (Oxford): Keynote

Panel III - Music, Visual Art & Film
(Chair: Andy Willimott)

Claire Knight (Cambridge): Silence in the Archives.

Joshua Walden (Oxford): Sonic Sources and the Study of Béla Bartók’s ‘Romanian Folk Dances’.

J.J. Gurga (London): Whose voice is it anyway? Film Dubbing in the Soviet Republics.

Seth Graham (London): A Russianist’s Adventures in Central Asian Cinema.

Panel IV – Memory
(Chair: Robert Gildea)

Catherine Merridale (London): Listening for Twenty Years.

Alexandra Wachter (London): Insecurities, Indoctrination and Release: Chances and Challenges in Using Eyewitness Accounts from the Former Soviet Union. [fiel aus]

Polly Jones (London): Myth, Memory, Fandom: Konstantin Simonov and his Readers in the 1950s and 1960s.

Timothy Blauvelt (Tbilisi): Special Talk: Working with Archives and Libraries in Georgia.

Panel V - Reading Between the Lines: Beyond the Text of Printed Sources
(Chair: David Priestland)

Samantha Sherry (Edinburgh): The Elusive Censor: The Difficulties of Researching Soviet Censorship.

Simon Huxtable (London): Newspapers Beyond Text: Mapping Komsomol’skaya pravda, 1950-1964.

Alex Titov (London): Research in Private vs. Institutional Archives: Difference in Approaches, Unity of Aims.

Anmerkungen:
1 Für ein äußerst negatives Fazit der Archivpolitik der letzten Jahre siehe: Markus Wehner, Gescheiterte Revolution. In Russlands Archiven gehen die Uhren rückwärts, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (2009), S. 377-390. Für ein differenzierteres Bild, das die Dynamiken der Provinzarchive mit einbezieht, siehe: Sören Urbansky, Auf in die Provinz! Recherchen in Russlands Regionalarchiven, in: Osteuropa 59 (2009), 11, S. 121-130.
2 Siehe die Themenausgabe der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51 (2003), 1, sowie die Mehrzahl der Beiträge in: Stefan Creuzberger / Rainer Lindner (Hrsg.), Russische Archive und Geschichtswissenschaft. Rechtsgrundlagen. Arbeitsbedingungen. Forschungsperspektiven, Frankfurt am Main 2003.


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