Verflochtene Lebenswelten, 16. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit

Verflochtene Lebenswelten, 16. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit (AKGG-FNZ)
Ort
Stuttgart-Hohenheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.11.2010 - 06.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Mariss, DFG-Graduiertenkolleg 1599 „Dynamiken von Raum und Geschlecht“, Universität Kassel

Vom 4. bis 6. November 2010 fand an der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart die 16. Fachtagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit (AKGG-FNZ) statt. In Anlehnung an das Konzept der ‚entangled histories‘ stellte die Tagung den Begriff der „Verflochtenen Lebenswelten“ in den Mittelpunkt. Mit dieser Schwerpunktsetzung griffen die Veranstalterinnen aktuelle Tendenzen der Forschung auf, den Stellenwert globalgeschichtlicher und außereuropäischer Entwicklungen zu betonen und europäische Geschichte verstärkt aus einer transkulturellen Perspektive zu betrachten. Verbunden wurde die Abkehr von eurozentrischen Sichtweisen mit geschlechtergeschichtlichen Fragestellungen, die die Verknüpfung europäischer mit außereuropäischen Lebenswelten fokussierten. In drei Sektionen thematisierten die Vorträge die Verflechtung von Praktiken, Diskursen und Beziehungen auf transnationaler Ebene.

In der Sektion ‚Verflochtene Praktiken‘ konnte anhand zweier Fallbeispiele gezeigt werden, wie sich europäische und außereuropäische Lebenswelten gegenseitig beeinflussten. EVA BISCHOFF (Berlin) und MURIEL GONZÁLEZ (Barcelona) fragten in ihrem Vortrag nach der Praxis des ‚cultural cross-dressing‘ im Kontext des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges. Anhand verschiedener bildlicher Darstellungen zeigten die Referentinnen auf, dass die Praxis des Tragens spezifischer Kleidung eines anderen Geschlechts auch auf einen kulturellen Kontext übertragen werden kann. Cultural cross-dressing sei dann als ein performativer Akt zu verstehen, der die Aneignung des fremden Anderen bzw. spezifischer Aspekte des Anderen meint. So ‚verkleideten' sich etwa die weißen Aktivsten der „Boston Tea Party“ im Jahr 1773 als ‚wilde' Indianer, um auf den Kampf der ‚native americans‘ gegen die britische Kolonialherrschaft zu verweisen. NADINE AMSLER (Bern) verwies in ihrem Vortrag auf die komplexen Aushandlungsprozesse im chinesischen Christentum im 17. Jahrhundert, während derer sich sowohl die Geschlechterpraktiken der Jesuiten wie auch jene der chinesischen Christen veränderten. Die Verflechtung christlicher und konfuzianischer Lebenswelten wird laut Amsler besonders deutlich in der Praxis der katholischen Liturgie. Die Berührung durch den Priester bei der Taufe oder der letzten Ölung etwa galt nach konfuzianischen Normen als unsittlich. Indem europäisch-christliche mit chinesisch-konfuzianischen Geschlechternormen verhandelt wurden, entstanden also neue Formen der katholischen Liturgie.

In der geschichtswissenschaftlichen Diskussion wurde zuletzt immer wieder darauf verwiesen, dass europäische Debatten und Diskurse und das dadurch vermittelte Wissen in der Frühen Neuzeit untrennbar mit der Expansion Europas zusammenhängen. Besonders eindrucksvoll belegte dies der Vortrag von DOROTHEE SCHMIDT (Basel), der aus Krankheitsgründen in Vertretung von Antje Flüchter referiert wurde. Laut Schmidt zeugen die in den Reiseberichten entworfenen sexuellen Gegenwelten nicht nur von einer in Europa tabuisierten Sexualität, sondern legen kulturelle Differenzen offen. In der Inszenierung des kulturell und sexuell Anderen spiele weibliche Sexualität eine große Rolle. Hier werde der Geschlechterdiskurs des 16. Jahrhunderts zum einen verfestigt, zum anderen sexuelle Differenz neu verhandelt. Denn die den Reiseberichten beigefügten Illustrationen zeigen auch eine gewisse Brüchigkeit des Diskurses. Die Fremderfahrungen und -beschreibungen lassen sich damit in europäische Diskurse einbetten, in denen die patriarchale Herrschaft in Frage gestellt wurde, wie etwa die Fastnachtsspiele oder den „Kampf um die Hose“. CHRISTINA BRAUNER (Münster) ging es in ihrem Vortrag mehr um einen diskursanalytischen Vergleich der Auseinandersetzungen mit Polygamie inner- und außerhalb Europas. Während Polygamie im Heiligen Römischen Reich in der zeitgenössischen Diskussion ausschließlich als Wollust und Tyrannei ausgelegt worden sei, weise der europäische Diskurs über Polygamie in Westafrika eine größere Vielfalt der Erklärungsansätze auf. Unter dem Aspekt der Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern spiegele die Verurteilung der Mehrehe als "ungerecht“ vertraute europäische Geschlechterrollen und -normen wider.

Ein Round table mit Antje Flüchter, MONIKA MOMMERTZ (Freiburg) und RENATE DÜRR (Kassel) diskutierte am Freitagabend unter Leitung von ANDREA GRIESEBNER (Wien) die Perspektiven transkultureller Geschlechterforschung. In einer Feststellung waren sich die Teilnehmerinnen einig: Je größer die Betrachtungsräume werden, desto weniger spiele die Analysekategorie Geschlecht in der gegenwärtigen deutschen Forschung eine Rolle.1 Die methodische Herausforderung der transkulturellen Gender-Forschung liege also darin, globalgeschichtliche Fragestellungen mit der Geschlechterfrage zu verbinden. Nach Meinung der Diskutantinnen gehe es in Zukunft zum einen um die Infragestellung und Dekonstruktion von Meistererzählungen und die damit verbundene Abkehr von eurozentrischen Sichtweisen, zum anderen um die Ausweitung des Blickes in der deutschsprachigen Geschlechterforschung auf transkulturelle und transnationale Phänomene. Die damit verbundene Chance sei es, größere Zusammenhänge auch auf einer globalen Ebene zu erkennen, ohne in universalistische Denkmuster zu verfallen sowie Dynamiken, Prozessen und Kommunikationszusammenhängen eine größere Bedeutung beizumessen.

In der Sektion ‚Verflochtene Beziehungen‘ legte ANTJE FLÜCHTER (Heidelberg) in ihrem Vortrag den Fokus auf die Beziehungen zwischen männlichen Angehörigen der niederländischen Ostindien-Kompanie und indigenen Frauen als „Bühne“ für verschiedene Verflechtungsmöglichkeiten. Die Referentin fragte danach, welche ethnischen, religiösen und sozialen Grenzen ausschlaggebend waren für die Bewertung transethnischer Beziehungen und Ehen. Für die Legitimierung transethnischer Beziehungen sei die ethnische Differenz, d.h. die unterschiedliche Hautfarbe der Partner, wichtig, aber nicht entscheidend gewesen. Auch die soziale Differenz war laut Flüchter verhandelbar, während die religiöse Differenz kaum auszuhandeln und eine Konversion zum christlichen Glauben zwingend erforderlich war für die Legitimität einer transethnischen Beziehung aus einer europäisch-christlichen Perspektive. Eine andere Art von Beziehung, nämlich das Verhältnis von Personifikation und Geschlecht, thematisierten JULIA RÜTHEMANN und MIRIAM OESTERREICH (Heidelberg). Vor allem in der Repräsentation des Exotischen und Fremden auf bildlichen Erdteilallegorien des 16. Jahrhunderts bis hin zur kolonialen Bildreklame des 19. Jahrhunderts wurde die ostensible Personifikation der Frau als Land deutlich. In der Forschung werde häufig betont, dass realpolitische Umwälzungen an der Wende zum 19. Jahrhundert eine ‚Krise der Allegorie‘ auslösten. In der Tat verschwanden die weiblichen Erdteilallegorien jedoch nur aus der Hoch- und Monumentalkunst, in der Populärkunst waren sie aber sehr verbreitet. Anhand der verschiedenen Beispiele aus Literatur und Kunst konnten die Referentinnen sichtbar machen, dass das weibliche Prinzip der Personifikation epochenübergreifend wirkte und es über einzelne Elemente immer wieder neu bestätigt wurde.

Durch die unterschiedlichen Beiträge der Tagung wurde deutlich, wie fruchtbar die Verbindung der Kategorie Geschlecht mit globalgeschichtlichen Aspekten sein kann: Die Betrachtung verflochtener Praktiken etwa unterstrich die gegenseitige kulturelle und religiöse Beeinflussung von Missionaren und Missionierten oder die jeweilige situative Aneignung des fremden ‚Anderen‘, während eine Analyse der verflochtenen Diskurse aufzeigte, inwiefern europäische Debatten auf dem Wissen über außereuropäische Welten und fremde Kulturen basierten. Insgesamt stellten die Vorträge heraus, dass es für die Frühe Neuzeit zwar eine Menge an auswertbaren Quellen gibt, diese aber immer nur bestimmte Ausschnitte einer „Lebenswelt“ zeigen. Ein weiteres Problem bleibt, dass die Quellen einen größtenteils europäisch geführten Diskurs über das Außereuropäische widerspiegeln. So liegt die große Herausforderung einer modernen ‚world history‘ vor allem darin, die Dynamik von Raum und Handlung in außereuropäischen Räumen nicht wieder nach westlichen Vorstellungen zu universalisieren. Die Tagung stellte in ihrer thematischen Breite insgesamt einen guten Einstieg in das noch neue Feld der transnationalen historischen Geschlechterforschung dar.

Tagungsübersicht:

Eröffnungsvortrag Antje Flüchter (Heidelberg): „Asiatisch-europäische Ehen und Beziehungen in der Vormoderne zwischen Akzeptanz und Devianz“

Sektion I. Verflochtene Praktiken

Eva Bischoff (Berlin) und Muriel González (Barcelona): „Kleider machen Leute. Cultural Cross-Dressing und Männlichkeiten des ausgehenden 18. Jahrhunderts“

Nadine Amsler (Bern): „Weiblichkeitsideale im interkulturellen Austausch. Geschlechterpraktiken in chinesisch-christlichen Gemeinden“

Sektion II. Verflochtene Diskurse

Eva Zhang (Heidelberg) „‘Sineser und Japponer‘ Geschlechterrollen Ostasiens im Spiegel frühneuzeitlicher, europäischer Diskurse“

Christina Brauner (Münster): „Unkeuschheit oder wirtschaftliche Notwendigkeit? Westafrikanische Vielweiberei, männliche Beobachter und verschiedene Entwürfe von Geschlecht im europäischen Diskurs der Frühen Neuzeit“

Dorothee Schmidt (Basel): „Das Sagbare und das Unsichtbare. Sexualität und Geschlechterordnung im kolonialen Diskurs um 1600“

Round table „Perspektiven transkultureller Geschlechterforschung“ mit Renate Dürr (Kassel), Monika Mommertz (Freiburg), Antje Flüchter (Heidelberg) und Andrea Griesebner (Wien)

Sektion III. Verflochtene Beziehungen

Almut Höfert (Basel): „Eunuchen an islamischen Höfen der Kalifen“

Julia Rüthemann und Miriam Oesterreich (Heidelberg): „Der Troubadour und die America? Das Prinzip Personifikation und Geschlechtercodes“

Anmerkung:

1 Vgl. Sarah Mahler / Patricia R. Pessar, Gendered Geographies of Power: Analyzing Gender across Transnational Spaces, Introduction to special volume with same title edited with Patricia Pessar, in: Identities Global Studies in Culture and Power 7, No. 4 (2001), S. 441-459; sowie Ulrike Strasser / Heidi Tinsmann, It’s a Man’s World? World History Meets the History of Masculinity, in Latin American Studies, for Instance, in: Journal of World History 21, No. 1 (2010), S. 75-96.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger