"Kollaboration" - im Spannungsfeld von Nation und (Fremd)Herrschaft

"Kollaboration" - im Spannungsfeld von Nation und (Fremd)Herrschaft

Organisatoren
Nordost-Institut Lüneburg
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.11.2003 - 16.11.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Markus Krzoska, Freie Universität Berlin

Den Erscheinungsformen von Fremdherrschaft und Kollaboration in Nordosteuropa in den Jahren 1900 bis 1950 war eine Tagung gewidmet, die das Nordost-Institut Lüneburg vom 13. bis 16. November 2003 in Lüneburg veranstaltete. In insgesamt 22 Referaten ging man unter anderem der Frage nach, wie und ob man den belasteten Begriff der Kollaboration verwenden sollte bzw. welche Formen die Zusammenarbeit mit einer fremden Macht im behandelten Zeitraum angenommen hat.

In seiner Einleitung stellte Joachim Tauber (Nordost-Institut Lüneburg) zur Diskussion, ob man Kollaboration, einen Begriff, der von seiner Entstehung her ganz eindeutig auf Marschall Pétain und die Zusammenarbeit mit den Deutschen zurückgeht, als historiographische Kategorie oder als politisches Schlagwort verstehen solle. Der in Frankreich vorherrschende Mythos des Widerstands habe die Erforschung des Alltags lange Zeit behindert. Tauber nannte verschiedene Erklärungsmodelle des Begriffes, die er insbesondere mit den Namen Werner Röhr und Hans Lemberg verband. Ziel des Kollaborateurs sei es gewesen, einen Statuswechsel hin zur Gleichberechtigung zu erlangen. Dabei hätten die Ziele beider beteiligter Seiten teilidentisch, aber auch klare Diskrepanzen vorhanden sein müssen. Zugleich müsse man Kollaboration immer in engem Zusammenhang mit dem Nationalismus sehen, eine These, die angesichts der Existenz dieses Phänomens durch die gesamte Menschheitsgeschichte von einigen Tagungsteilnehmern später immer wieder in Frage gestellt wurde.

Leonidas Donskis (Kaunas) widmete sich in seinem Referat dem Konzept der Kollaboration im Litauen des 20. Jahrhunderts und untersuchte diese ideengeschichtlich mit Hilfe der Begriffe Loyalität, Verrat und Dissens, die er als Symbole der säkularen Welt verstand. Er unterschied zwischen einem konservativen Nationalismus, in dem es keine Wahlmöglichkeiten gebe, und einem liberalen Nationalismus, in dem es geradezu eine Pflicht sei, die eigene Gemeinschaft zu kritisieren. Im Baltikum habe angesichts der historischen Entwicklung "kulturelle Widerständigkeit" eine große Bedeutung gehabt, vor allem, um die eigenen bedrohten Sprachen vor Russen, Deutschen, teilweise auch Polen zu schützen. Eine klare Definition von Kollaboration sei im heutigen Litauen nicht vorhanden, es habe aber immer ideologische Unterschiede im Verhalten gegenüber den Machthabern gegeben, wie Donskis am Beispiel des systemkritischen Intellektuellen Tomas Venclova und des Philosophen Aleksandras Stromas zeigte.

Werner Röhr (Berlin) stellte dagegen eher methodologische Überlegungen zum Kollaborationsbegriff an. Er plädierte für eine enge Begrenzung auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges, insbesondere auf die deutsche Besatzungspolitik in Europa, und konstatierte, man könne über eine Ausweitung auf den Ersten Weltkrieg nachdenken. Der reaktive Charakter der Kollaboration müsse ebenso bedacht werden wie der juristische Aspekt, dass die Haager Landkriegsordnung die Zusammenarbeit mit dem Besatzer vorsehe, was natürlich keine Unterstützung von deren Zielen bedeute. Als eine weitere Kategorie verwandte Röhr die des Agenten. Typisch für die Kollaboration sei die Bedeutung der traditionellen Eliten und eine Gewichtsverschiebung mit dem Kriegsverlauf.

Der Ablauf der Tagung zeigte Unterschiede in der nationalen Betrachtung von Kollaboration. Während vor allem die litauischen Wissenschaftler sich relativ offen auch für unangenehme Wahrheiten zeigten, lebte der Konflikt zwischen deutschen und polnischen Wissenschaftlern, der sich schon in der Jedwabne-Debatte gezeigt hatte, zum Teil wieder auf. Auslöser war das Referat von Klaus-Peter Friedrich (Marburg), der über polnische und jüdische Kollaboration im Spiegel der Presse sprach, sich dabei aber vor allem auf die polnische Rechtspresse und deren zum Teil eindeutig antisemitischen Ausfälle konzentrierte. Die Kritik an diesem Vortrag, vor allem von Seiten Tomasz Szarotas (Warschau) und Piotr Madajczyks (Warschau), erschien wegen Friedrichs Quellenauswahl zwar zum Teil berechtigt, zeugte aber auch von einer geringen Sensibilität gegenüber der Kollaborationsproblematik.

Der Beitrag von Darius Staliunas (Vilnius) über russische "Kollaborationsangebote" an nationale Gruppen im Nordwestgebiet nach 1863, das einzige Referat, das das 19. Jahrhundert zum Thema hatte, zeigte, dass man bestimmte Formen der Suche nach Verbündeten durchaus bereits früher ins Umfeld von Kollaboration einordnen konnte. Deutlich wurde jedoch, dass es für die Besatzer schwierig zu beurteilen war, wer sich loyal verhielt und wer nicht. Zwar griff die Bürokratie am liebsten auf Personen russischer Herkunft und orthodoxen Glaubens zurück, doch waren nationale und religiöse Aspekte nicht allein entscheidend. Radikal antideutsche oder antipolnische Kräfte konnten sich auf Dauer nicht durchsetzen. Der Vortrag von Otto Luchterhandt (Hamburg) löste dagegen mit seinem Vorschlag, den Kollaborationsbegriff auf das Verhältnis der Orthodoxen Kirche zum "ideologischen Feind", dem Sowjetregime, anzuwenden, eine Grundsatzdiskussion aus. Das eindrucksvolle Referat von Vejas Gabriel Liulevicius (Knoxville) bewies, dass ordnungspolitische Vorstellungen, die man gemeinhin mit der NS-Besatzungspolitik nach 1939 in Verbindung bringt, im kolonialpolitischen Musterland Ober-Ost bereits im Ersten Weltkrieg vorhanden waren. Nach seinen Worten ist ein gewisser Grad an Selbstbewusstsein und nation-building die Voraussetzung für Kollaboration. So hielt die Verwaltung von Ober-Ost die einheimische Bevölkerung für partiell kollaborationsfähig, die Erwartungshorizonte beider Seiten waren aber völlig unterschiedlich: hier der Wunsch nach politischer Mitbestimmung, dort die verbreitete Hoffnung auf eine deutsche Umgestaltung des Ostens. In Bezug auf die deutsche Besatzung in der Region Odessa am Ende des Ersten Weltkrieges lehnte Dr. Alfred Eisfeld (Göttingen) das Konzept der Kollaboration eher ab. Es sei den Vertretern der Minderheit in erster Linie um das Ausloten von Möglichkeiten zur Überlebenssicherung gegangen. Das Aufstellen eines Selbstschutzes sei eine legale Maßnahme gewesen, der Kampf der Bolsheviki dagegen illegitim, womit der Referent einen weiteren Aspekt der Debatte thematisierte, den der Legitimität von Zusammenarbeit. Dieser Frage ging auch Iskander Giljazov (Kazan) am Beispiel des Verhaltens der Turkvölker der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges nach. Ihre Situation stellte einen Sonderfall dar, da es in deren Siedlungsgebiet damals keine deutsche Besatzung gab und die Kriegshandlungen weit entfernt waren. Seine Unterscheidung zwischen Materialisten, Opportunisten und Idealisten könnte jedoch durchaus auch für andere Fälle der Kollaboration angewandt werden.

Vladimir Iljic Lenin musste sich über Legitimität keine Gedanken machen, wie Leonid Luks (Eichstätt) zeigte. Seine Kollaboration mit den Deutschen während des Krieges war kein Geheimnis, unter den Revolutionären galt jedoch ein differenter Ehrenkodex, gestützt auf den nationalen Nihilismus der Unterschichten. Zwanzig Jahre später scheiterte Andrej Vlasov mit einem ähnlichen Konzept an den gänzlich anderen Verhältnissen: die deutsche Besatzungspolitik war radikaler und bedrohte das russische Volk in seiner Existenz, so dass Stalin die Arbeiter dazu bewegen konnte, nationales Gedankengut zu übernehmen. Vlasov blieb somit - wie Matthias Schröder (Münster) zeigen konnte - wie Pétain oder Quisling ein Prototyp des Kollaborateurs, der lediglich im antikommunistischen Milieu Deutschlands zeitweise zum Helden verklärt wurde. Eine ähnliche Bewertung galt bis in die jüngste Zeit auch in der Tschechischen Republik bei der Bewertung der Protektoratsregierung. Detlef Brandes (Düsseldorf) erläuterte in seinem Referat verschiedene Phasen der Zusammenarbeit, die er mit Attentismus, Aktivismus und Faschismus bezeichnete, lehnte die Formulierung der Staatskollaboration aber ab, da keiner der Beteiligten auf einen deutschen Sieg gehofft oder eine nationale Revolution angestrebt habe.

Als eine wichtige Grundlage von Kollaboration wurde im Laufe der Tagung ein verbreiteter Defätismus in der Bevölkerung benannt, dem die längerfristige Erwartung fremder Herrschaft vorausgehen konnte. Die Fronten waren aber bei weitem nicht konstant, wie Saulius Suzedélis (Millersville) bemerkte. So entwickelte sich eine Gruppe litauischer Nationalsozialisten zu massiven Gegnern der deutschen Besatzung, als sie die veränderten militärischen und politischen Gegebenheiten erkannten. Der Referent sprach deshalb auch von Kollaboration als einer "Zusammenarbeit unter Vorbehalt", einem der zahlreichen Versuche während der Tagung, über andere Begriffe nachzudenken. Es war frei nach Czeslaw Milosz die Rede vom "ketman"-Prinzip, also der Trennung von Denken und Handeln, oder in Anlehnung an Adam Mickiewicz vom "Wallenrodismus" (Egidijus Aleksandravicius, Kaunas), ohne dass man auf das Wort Kollaboration letztlich verzichten wollte. Lediglich Christoph Dieckmann (Frankfurt/Main) vertrat in seinem erfrischenden Vortrag die Meinung, der Begriff sei "verbrannt". Eine Historisierung sei nun notwendig, denn für die Gegenwart besitze er keinerlei Erkenntniswert. Das Phänomen als solches sei gerade im Osten während des Zweiten Weltkrieges von großer Bedeutung gewesen, waren doch die Deutschen etwa in Litauen oder der Ukraine durchaus auf Unterstützung von Einheimischen angewiesen. In Litauen nahmen sie 80-90% der Stellen in Verwaltung und Polizei ein, ohne de iure Entscheidungskompetenzen zu besitzen. Die Shoah an den litauischen Juden fand unter tatkräftiger Mitwirkung lokaler Kräfte statt, u.a. aus der Überlegung heraus, dass die Folgen der Besatzung für die ethnischen Litauer auf Kosten der Nicht-Litauer möglichst gering gehalten werden sollten. Eine Reihe von Beteiligten am Massenmord von 1941 wurde zwei Jahre später wegen ihrer nationalen Positionen zu deutschen KZ-Häftlingen. Ohne den entscheidenden deutschen Einfluss wäre aus litauischen Vertreibungsutopien nie ein organisierter Judenmord geworden. Die Rolle der Einheimischen untersuchte auch Martin Dean (Washington) in seinem Beitrag über die einheimische Hilfspolizei als "Idealtyp" der Kollaborateure.

In dem der Abschlussdiskussion vorausgehenden zusammenfassenden Schlussstatement versuchte Gerhard Hirschfeld (Stuttgart) eine Bilanz der Tagung zu ziehen. Er schlug eine Festlegung des Untersuchungszeitraums auf die Zeit von 1914 bis 1945 vor und verband diese mit dem Konzept des totalen Krieges, der Kollaboration erst möglich gemacht habe. Unter Würdigung nationaler und kultureller sowie historiographischer Unterschiede könne eine Historisierung des Begriffes gelingen. Man müsse freilich stets zwischen semantischem, historischem und publizistischem Diskurs trennen. Die Zusammenarbeit mit den Besatzern impliziere eine Umwandlung der Feindbilder, neue Trennlinien innerhalb einer Gesellschaft müssten gezogen werden.

Wenn man einmal davon absieht, dass einige Aspekte während der Tagung etwas zu kurz kamen, z.B. die Frage nach den ökonomischen Gründen für Kollaboration oder ihre Langzeitwirkung auf die betroffenen Gesellschaften, gingen von der Veranstaltung eine Reihe von Impulsen aus, die nicht zuletzt von der internationalen Zusammensetzung der Referenten aus sieben Ländern und der erfreulichen Diskussionskultur herrührten.

http://home.t-online.de/home/krzoska
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts