"Polen im Ruhrgebiet 1870 - 1945" - Deutsch-polnische Tagung

"Polen im Ruhrgebiet 1870 - 1945" - Deutsch-polnische Tagung

Organisatoren
Prof. Dr. Dittmar Dahlmann und Prof. Dr. Albert Kotowski (Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn); Institut für internationale Beziehungen der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Torun/Thorn
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.11.2003 - 09.11.2003
Von
Susanne Peters-Schildgen, Oberschlesisches Landesmuseum, Ratingen-Hösel

Die polnische Migration im Ruhrgebiet erscheint bereits umfassend erforscht. Es gibt mehrere Gesamtdarstellungen und zahlreiche Aufsätze zu einzelnen Fragestellungen, so daß von einer Tagung über "Polen im Ruhrgebiet" kaum neue Erkenntnisse zu erwarten waren. Daß der wissenschaftliche Diskurs zwischen polnischen und deutschen HistorikerInnen - um es vorwegzunehmen - dennoch neue Einsichten brachte, hat diese, immerhin fast drei Tage ausfüllende Tagung mit 16 Referentenbeiträgen gezeigt. Darüber hinaus sind deutsch-polnische Fragestellungen vor dem Hintergrund des nahenden Beitritts Polens zur Europäischen Union gegenwärtig offenbar von besonderem Interesse. So kann es nicht verwundern, daß diese Tagung als Beitrag zur EU-Erweiterung deklariert wurde, mit dem übergeordneten Ziel, zur Verankerung aktueller Erscheinungen im historischen Kontext sowie zur Pflege und zum Ausbau von Kontakten zwischen deutschen und polnischen HistorikerInnen beizutragen. Die Idee hierfür entstand bereits vor zwei Jahren anläßlich eines Seminars in einem Gespräch zwischen der Generalkonsulin der Republik Polen in Köln, Elzbieta Sobótka, Schirmherrin dieses Projekts, Josef Herten (Polnisches Institut, Düsseldorf) sowie Dittmar Dahlmann und Albert Kotowski (Seminar für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn). Letztere waren gemeinschaftlich mit dem Institut für internationale Beziehungen der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Torun/Thorn verantwortlich für diese Tagung, die mit Mitteln der Robert Bosch Stiftung, der Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wurde.

Den Einführungsvortrag am Eröffnungsabend in Anwesenheit der Generalkonsulin Elzbieta Sobótka und des Ministers und Chefs der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, Wolfram Kuschke, übernahm Josef Herten. Er berichtete über die mit dem Künstler Thomas Rother konzipierte Ausstellung "Kaczmarek und andere", die nach ihrem erfolgreichen Auftakt 1997 im Kunstschacht Katernberg in Essen an verschiedenen Orten in Polen, dann 2001 in Gelsenkirchen präsentiert wurde und derzeit in Dresden zu sehen ist. Über viele Jahre hinweg sind zahlreiche persönliche Erinnerungen, Interviews, Fotos und Quellen in diese Erlebnisausstellung eingeflossen, die einen wichtigen Beitrag zur deutsch-polnischen Verständigung liefert und jetzt nach einer ständigen Bleibe sucht.

Ein großer Teil der Tagungsbeiträge behandelte die für die ruhrpolnische Migration typischen Aspekte in einem zeitlichen Rahmen von etwa 1880 bis in die 1930er Jahre: Dazu gehören auch die Bereiche Religion und Kirche, die im Alltagsleben der polnischen Immigranten im Ruhrgebiet einen hohen Stellenwert besaßen: Witold Matwiejczyk (Lublin) hob in seinem Beitrag mit dem Titel "Zwischen kirchlicher Integration und gesellschaftlicher Isolation. Polnische Katholiken im Ruhrgebiet zwischen 1871-1914" die Bedeutung der religiösen polnischen Vereine hervor und skizzierte Entstehung und Entwicklung der Polenseelsorge im Ruhrgebiet. Kennzeichnend hierfür ist die Diskrepanz zwischen den seelsorgerischen Bedürfnissen polnischsprachiger Migranten, die für ihre Betreuung eigene Landsleute forderten, und dem Verhalten der preußischen Obrigkeit sowie der Katholischen Kirche, die dies aus Angst vor der Ausbildung eines eigenen polnischen Staats im Westen des Deutschen Reiches möglichst unterbinden wollten. Dieser Konflikt bestand auch noch nach dem Ersten Weltkrieg.

Unter den polnischen Seelsorgern im Ruhrgebiet ist Vikar Franz Liss sicherlich die bedeutendste Persönlichkeit. Mit ihm befaßte sich Anastazy Nadolny (Pelplin) in seinem Beitrag "Die Frage der Polenseelsorge im Ruhrgebiet am Beispiel des Schicksals von Priester Liss". Dieser betreute von 1890 bis 1894 von Bochum aus die polnischen Katholiken im Ruhrgebiet. Sein Wirken fiel in die kurze Phase der nach Bismarcks Entlassung zeitweilig entschärften Polenpolitik, so daß er seine Arbeit zunächst weitgehend unbehelligt ausüben konnte. Liss förderte darüber hinaus die Organisation unter den Polen, besonders in den Bereichen des Vereins- und Pressewesens, und trug somit zur Festigung ihrer Gemeinschaft bei. War seine Arbeit auch erfolgreich, so bedeutete seine Abberufung im Jahr 1894 wie auch bereits der Weggang seines Vorgängers Szotowski im Jahr 1890 für die Ruhrpolen einen Rückschritt, insofern es ihnen nicht gelungen war, einen polnischen Seelsorger dauerhaft im Ruhrgebiet zu halten. Nadolny hob die Bedeutung des Bochumer Redemptoristenklosters für die Polenseelsorge hervor, das auch noch nach Liss' Weggang aus Bochum eine wichtige Rolle spielte. Im Kloster selbst findet man heute keine Hinweise mehr darauf.

Als gegen Ende der 1880er Jahre die Zahl der polnischen Bergarbeiter im Ruhrgebiet rapide anstieg, rückte diese Migrantengruppe stär-ker in den Blickpunkt des Staates und der Behörden. In der Folgezeit war sie permanenter sozia-ler Diskriminierung und politischer Verfolgung ausgesetzt. Am Beispiel eines polnischen Vereins aus Werne beschrieb Valentina Maria Stefanski (Bochum) in ihrem Beitrag das Verhältnis zwischen polnischen Arbeitsmigranten und der preußischen Obrigkeit in der Zeit von 1871 bis 1918. Stefanski wies in diesem Zusammenhang auf ein generelles Forschungsproblem hin: die Dominanz der "offiziellen" Sichtweise in vielen Beiträgen als ein Resultat der zahlreich erhaltengebliebenen Überwachungsdossiers in den städtischen und staatlichen Archiven. Spuren hätten vor allem die sogenannten "Scharfmacher" hinterlassen, die die Bewegung der Ruhrpolen mit besonders rigorosen Mitteln zu bekämpfen versucht hätten.

Bereits in den 1890er Jahren versuchten polnische Sozialisten, im Ruhrgebiet Fuß zu fassen, waren dabei jedoch nicht sonderlich erfolgreich, wie Ryszard Kaczmarek (Kattowice/Kattowitz) in seinem Vortrag über "Polnische Sozialisten im Ruhrgebiet" feststellte. 1898 schlossen sich in Herne 20 polnische Bergleute zu dem Verein "Przedświt" (Morgen-rot) zusammen, der in engem Kontakt zur 1890 gegründeten Berliner Zentrale der "Polnischen sozialistischen Partei in Preußen" (Polska Par-tia Socjalistyczna zaboru pruskiego - PPS) stand. Die weitere Entwicklung dieses Vereins, der später den Namen "Oswiata" (Aufklärung) trug, war - auch nach Gründung einer Parteizentrale in Oberhausen und der Reorganisation im Jahr 1908 - von einem ständigen Auf und Ab gekennzeichnet. Ob dies auf die im Vergleich zu den östlichen Provinzen besseren Arbeitsbedingungen im Ruhrgebiet zurückgeführt werden kann, ist fraglich, zumal polnische Bergleute 1902 eine eigene Gewerkschaft gründeten, mit dem Ziel, ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern und bei Streik, Krankheit, Sterbefällen und Arbeits-losigkeit Unter-stützung zu leisten. Tatsächlich war die katholisch-nationale Ausrichtung der Ruhrpolen auch nach ihrem Bruch mit der Zentrumspartei um 1900 bestimmend.

Die Bedeutung der Gründung einer eigenen Gewerkschaft namens "Zjednoczenie Zawodowe Polskie" (ZZP) für die Polen im Ruhrgebiet kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sieht der amerikanische Historiker John J. Kulczycki in dieser Gewerkschaft die besonderen organisatorischen Fähigkeiten und das ausgeprägte Klassenbewußtsein der Ruhrpolen verwirklicht, haben deutsche Wissenschaftler ihren Stellenwert zum Teil unterschätzt. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse rekonstruierte Jerzy Kozlowski (Poznan/Posen) in seinem Referat über "Die Polnische Berufsvereinigung (ZZP) im Ruhrgebiet 1902-1939" ihre Gründungsgeschichte sowie ihre Rolle bei den beiden großen Streiks von 1905 und 1912. Der Erste Weltkrieg beendete die erfolgreiche Arbeit zunächst, und der ZZP verlegte seinen Wirkungskreis nach Polen. Die Reaktivierung erfolgte 1917. Durch die Rückwanderung zahlreicher Ruhrpolen in den 1918 neugegründeten polnischen Staat bzw. in die nordfranzösischen und belgischen Kohlenreviere wurde der Niedergang der polnischen Gewerkschaft eingeleitet. Kaum bekannt ist ihre Rolle während der Ruhrbesetzung. So entsandte sie eine Delegation nach Paris, um die Polen den französischen Bergwerken zuzuführen. 1934 erfolgte die Selbstauflösung des ZZP.

Die fundamentale Bedeutung der polnischen Vereine im Ruhrgebiet als zentralen Bestandteil des ruhrpolnischen Gemeinwesens stand im Mittelpunkt des Beitrags von Susanne Peters-Schildgen (Ratingen) über "Das polnische Vereinsleben im Ruhrgebiet zur Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik: Ein Vergleich". Bezweckten die polnischen Zuwanderer mit den ersten Vereinsgründungen, sich und anderen Landsleuten in einer fremden Umgebung zu helfen sowie ihre religiösen Bedürfnisse zu befriedigen, entstand bis zum Ersten Weltkrieg ein engmaschiges organisatorisches Netzwerk mit übergeordneten zentralen Einrichtungen, das nahezu alle Lebensbereiche der Zuwanderer abdeckte. Dieses Netzwerk trug Merkmale einer Subkultur mit national-polnischen Tendenzen als Reaktion auf den zunehmenden politischen und gesellschaftlichen Druck. Nach der Abwanderung eines großen Teils der Ruhrpolen in den neugegründeten polnischen Staat bzw. nach Frankreich standen in den Vereinsversammlungen gesellige Aspekte im Vordergrund, wenngleich polnische Traditionen weiterhin gepflegt wurden. Gesellschaftliche und soziale Forderungen waren von dem in Auflösung begriffenen polnischen Organisationswesen nicht mehr durchzusetzen.

Britta Lenz (Bonn) konzentrierte sich in ihrem Beitrag über "Polnischsprachige Turn- und Sportvereine im Ruhrgebiet 1918 - 1939" auf den Fußballsport, der nach dem Ersten Weltkrieg zum Massensport avancierte und sich auch bei der polnischsprachigen Jugend großer Beliebtheit erfreute. Die polnischen "Sokól" (Falke) genannten Turnclubs reagierten darauf mit der Gründung von Fußballabteilungen, um die Jugend zu gewinnen. Jedoch stand der Wettkampfgedanke der Abschließung in den "Sokól"-Vereinen entgegen. Schließlich ging 1927 aus der "Sokól"-Bewegung der "Verband der Turn- und Sportvereine in Westfalen und im Rheinlande" hervor. Durch die Einführung des Achtstundentages gewann die Freizeitgestaltung an Bedeutung im Ruhrgebietsalltag. In den Bergarbeitersiedlungen spielten Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit Fußball und gründeten Straßenmannschaften. Beispielhaft hierfür ist die Geschichte des 1. FC Schalke 04, dessen Spieler wie Ernst Kuzorra und Fritz Szepan, beide masurischer Herkunft, zu Helden stilisiert wurden und als Identifikationsfiguren für den Mythos des Aufstiegs aus der Arbeiterklasse galten. Als Schalke 1934 deutscher Meister wurde, glaubte man die Meisterschaft in den "Händen der Polen". Der Verein distanzierte sich öffentlich von diesen "polnischen Gerüchten" und wirft damit einmal mehr die Frage nach der Rolle des Sports im Hinblick auf die Integrations- und Aufstiegsmöglichkeiten von Migranten auf.

Henryk Chalupczak (Lublin) ließ in seinem Beitrag über "Polnisches Bildungswesen im Ruhrgebiet in der Zwischenkriegszeit" die Rahmenbedingungen für die Entwicklung des polnischen Bildungswesen weitgehend außer acht. Statt dessen lieferte er eine Fülle statistischer Daten und beschrieb die Rolle des Polnischen Schulvereins in Bochum, der wie viele andere Minderheitenabteilungen zum "Bund der Polen in Deutschland" gehörte. 1918 gab es im Ruhrgebiet 260 Schulen für über 20.000 Kinder, die durch das Erlernen der polnischen Sprache, von Sitten und Gebräuchen mit der Kultur ihrer Eltern und Großeltern vertraut gemacht und auf das Vereinsleben vorbereitet werden sollten. Wünschenswert wäre hier die Einordnung der ruhrpolnischen Bildungsbestrebungen in den historischen Kontext gewesen, der durch die Aufnahme der Minderheitenschutzbestimmungen in die Reichs- und Landesverfassung der Weimarer Republik und das 1928 verabschiedete "Minderheiten-schulgesetz" umrissen werden kann.

Neben den für die ruhrpolnische Migration "klassischen" Themen gab es solche Beiträge, die das Tagungsthema entweder nur am Rande berührten, oder vergleichende Aspekte und Gegenwartsbezüge berücksichtigten. Hier waren am ehesten neue Erkenntnisse zu erwarten. So beleuchtete Andreas Kossert (Warszawa/Warschau) in seinem Beitrag "Kuzorra, Szepan und Kalwatzki: Polnischsprachige Masuren im Ruhrgebiet" den nach 1871 entstandenen Konflikt um die ethnische und nationale Zugehörigkeit der aus Südostpreußen stammenden, vorwiegend evangelischen Masuren, von denen etwa ein Drittel ins Ruhrgebiet abwanderte und sich dort seit den 1880er Jahren hauptsächlich in Gelsenkir-chen und Umgebung niederließ. Die regionale Sonderrolle der Masuren mißfiel sowohl dem preußischen Staat und den Behörden als auch den polnischen Nationalisten. Beide Seiten strebten danach, die Masuren für ihre jeweilige nationale Geschichte zu vereinnahmen. Mehrere Fußballspieler des FC Schalke 04, darunter die bereits erwähnten Fußballidole Szepan und Kuzorra, waren masurischer Herkunft. Kossert, der seine Ergebnisse in seiner Dissertation und einer populärwissenschaftlicheren Publikation festgehalten hat, hob die Bedeutung der Religion und der kirchlichen Gemeinschaft hervor, die sich in der Gründung zahlreicher Gebetskreise als Rückzugsgebiete für die Masuren niederschlug. Einige Gebetskreise haben sich bis heute erhalten. Sie gelten als Hauptpfeiler der sogenannten Grómadki-Bewegung, die über Litauen nach Deutschland kam.

Etwa zeitlich parallel zur Ost-West-Migration ins Ruhrgebiet verlief der Eingliederungsprozeß der polnischen Zuwanderer in Berlin. Oliver Steinert bezog sich in seinem Beitrag über "Die Integration polnischer Einwanderer im Ruhrgebiet und in Berlin 1871-1911: Ein Vergleich" im wesentlichen auf die Ergebnisse seiner Monographie "Berlin Polnischer Bahnhof". Beschrieben wurde vor allem die Situation für die polnischen Zuwanderer in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches. Dorthin kamen nicht nur einfache Arbeitsmigranten, sondern auch Handwerker, Künstler, Studenten, Intellektuelle, Politiker und Adelige, die für ein vielfältiges Milieu sorgten. Sie lebten im Unterschied zu den für das Ruhrgebiet typischen abgeschiedenen Zechenkolonien in Streusiedlungen, hatten engen Kontakt zu Ansässigen und besuchten auch deren Vereine. So sei im Gegensatz zum Ruhrgebiet, wo die Ausbildung einer polnischen Subkultur die Integration der Polen verhindert habe, ihre Eingliederung im "Schmelztiegel" Berlin erfolgreicher verlaufen.

Zwar berührte der Beitrag von Zbigniew Karpus (Torun/Thorn) mit dem Titel "Die Internierungslager für die polnischen Soldaten der Russischen Armee in Nordrhein-Westfalen im Ersten Weltkrieg" das Tagungsthema kaum. Jedoch machte er mit einem wenig bekannten Aspekt der erzwungenen Migration vor dem Hintergrund des 1920 ausgebrochenen russisch-polnischen Krieges vertraut, der am 18. März 1921 im Frieden von Riga beendet wurde. Etwa 2.330 polnische Soldaten wurden während dieses Krieges zunächst in Ostpreußen, dann in Swinemünde und schließlich im September 1920 in Minden in Westfalen interniert, wo sie unter schlechten Bedingungen lebten. Durch vielfältige Unterstützung seitens des Deutschen Roten Kreuzes und polnischer Organisationen konnten ihre Lebensumstände im Laufe der Zeit verbessert werden. Mit dem Zug, in dem die Soldaten schließlich nach Polen zurückfahren durften, wurden auf dem Rückweg deutsche Optanten aus Polen nach Deutschland gebracht. Unklar blieben die Gründe für die Verschleppung der polnischen Soldaten nach Minden. Über die Haltung der deutschen Behörden gegenüber den Polen ist nichts Näheres bekannt.

Neue Einblicke in das komplizierte Optionsverfahren brachte der Vortrag von Miroslaw Piotrowski über "Polen im Ruhrgebiet als Objekt der deutsch-polnischen Beziehungen". Das im Versailler Friedensvertrages festgelegte "Optionsverfahren", dessen Frist im Januar 1922 endete, gewährte Deutschen in polnischen Gebieten und Polen in Deutschland die freie Entscheidung über die zukünftige Staatsbürgerschaft. Bilaterale und innere Schwierigkeiten auf beiden Seiten verzögerten das Optionsverfahren. Sie wurden von komplizierten Verhandlungen begleitet, in denen es auch um die Gewährleistung von Rentenauszahlungen und Versicherungsleistungen ging. Die Entscheidung der Ruhrpolen für die polnische Staatsbürgerschaft stand demnach in einer sehr komplizierten Gemengelage; sie war einschneidend und hatte weitreichenden Konsequenzen. Nach neuesten Erkenntnissen optierten insgesamt 55.000 Personen, darunter nur 5.000 aus dem Ruhrgebiet, für Polen. Zählt man die Familienangehörigen hinzu, ist von etwa 20.000 Optanten auszugehen. Vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen Deutschland und Polen während und nach der französischen Besatzungszeit wurde die Optanten-ausweisung zum zentralen Thema der politischen Ausein-andersetzungen beider Länder. Sie gipfelten im sogenannten "Optantenkrieg" zwischen Deutschland und Polen. Ausweisungen deutscher Reichsausländer aus Polen und Optanten polnischer Staatszugehörigkeit aus Deutschland waren die Folge. Die letzten Optantenfälle wurden noch in den 1930er Jahren abgewickelt.

Eine größere Rolle als im Ersten Weltkrieg spielte der Ausländer-einsatz der Nationalsoziali-sten im Zweiten Weltkrieg. Im Mittelpunkt des Beitrages von Christoph Seidel (Bochum) standen "Polnische Zwangsarbeiter im Ruhrbergbau 1949-1945". Sie prägten vor allem in den ersten beiden Kriegsjahren den Ausländereinsatz und traten seit Winter 1941 in den Hintergrund zugunsten der Zwangsrekrutierung russischer Arbeitskräfte. Seit Januar 1940 kam es zum Masseneinsatz polnischer Zwangsarbeiter im Deutschen Reich. Sie wurden aus dem polnischen Osten (Ukraine) nach Deutschland deportiert und fanden sich, entsprechend der NS-Rassenhierarchie, strengsten Reglementierungsmaßnah-men und einer besonders menschenverachtenden Behandlung ausgesetzt. Den Rahmen für die regionale Praxis solcher Repressionsmaßnahmen gaben die sogenannten "Polenerlasse" Himmlers von 1941 vor: So mußten polnische Zwangsarbeiter ihre Kleidung mit einem "P" kennzeichnen. Die Zechenleitungen befürchteten, daß derartige Maßnahmen sich auch gegen die alteingesessenen Ruhrpolen richten könnten. Gleichzeitig bestand immer noch die Angst vor einer "Polonisierung" des Ruhrgebietes durch den Kontakt zwischen deportierten Polen und der ruhrpolnischen Minderheit. Berichte von Zeitzeugen und Lebenserinnerungen hätten diesen Beitrag ergänzen können.

In einem Ausblick über "Posener Polen und Masuren in der Erinnerungskultur des Ruhrgebietes" ging Johannes Hoffmann (Dortmund) den Spuren polnischer Zuwanderung nach. Sie führen zurück von den vielen polnisch klingenden Namen in den Telefonbüchern der Ruhrgebietsstädte über einige mehr oder minder klischeebehaftete TV-Serien - wie den "Tatort" mit Kommissar Schimanski, den ARD-Mehrteiler "Rote Erde" (1983) und den ZDF-Zwölfteiler "Die Pawlaks" (1982) -, über "Kumpel Anton" und dessen promovierte Tochter "Dr. Antonia Cervinski Querenburg", über Trivial- und Volksbelustigungsliteratur, den Mythos "Schalke" bis hin zu den zeitgenössischen Schmähgedichten von Carl Regelmann. Hoffmann stellte fest, daß das Ruhrdeutsch weniger polnische Spracheinflüsse enthalte als gemeinhin angenommen wird, da das Plattdeutsche vieles überlagert habe. Sei die Ost-Migration für die Entstehung und Entwicklung des Ruhrgebietes zu einem der bedeutendsten Wirtschaftszentren Europas von fundamentaler Bedeutung, verwundere es um so mehr, daß dieses Thema kaum oder nur verfälscht Eingang in sachkundliche bzw. geschichtliche Lehrbücher gefunden habe.

Die überaus rege Diskussion unter den TagungsteilnehmerInnen ließ deutlich werden, daß der wissenschaftliche Diskurs zwischen polnischen und deutschen HistorikerInnen erst am Anfang steht. Auf beiden Seiten sind längst noch nicht alle Fragen zur Geschichte der Polen im Ruhrgebiet beantwortet worden. So bedarf beispielsweise die Zwischenkriegszeit einer genaueren Untersuchung. Weiterhin gibt es bisher keine Informationen zur medizinischen Versorgung der Immigranten. Interessant wäre auch eine Untersuchung, die sich mit den Stiftungen der Ruhrpolen in den Kirchen sowie mit ihrer Rolle im Hinblick auf die Errichtung neuer Kirchen im Ruhrgebiet befaßt. Dieser Aspekt wird in den meisten Jubiläumsschriften der Kirchengemeinden geflissentlich übersehen. Schließlich bieten das weite Feld der Mentalitäts- und Frömmigkeitsforschung sowie die vergleichende Erforschung von Migration neue Ansatzpunkte für zukünftige Untersuchungen. Die Tagungsbeiträge werden 2004 in zwei Bänden veröffentlicht: Die deutsche Fassung erscheint im Essener Klartext-Verlag, die polnischsprachige im Adam Marszalek Verlag in Torun/Thorn. Man darf gespannt sein.

Referentinnen und Referenten:

Prof. Dr. Henryk Chalupczak
Uniwersytet im. M.C.Sklodowskiej Lublin

Josef Herten
Polnisches Institut, Düsseldorf

AOR Johannes Hoffmann
Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund

Prof. Dr. Ryszard Kaczmarek
Instytut Historii Uniwersytetu Slaskiego Katowice/Kattowitz

Prof. Dr. Zbigniew Karpus
Uniwersytet im. Mikolaja Kopernika w Toruniu/Thorn

Prof. Dr. Jerzy Kozlowski
Uniwersytet im. Adama Mickiewicza Poznan/Posen

Dr. Andreas Kossert
Deutsches Historisches Institut, Warszawa/Warschau

Britta Lenz
Seminar für Osteuropäische Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Dr. Witold Matwiejczyk
Katolicki Uniwersytet Lubelski Lublin

Prof. Dr. Jan Molenda:
Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk Warszawa/Warschau

Prof. Dr. Anastazy Nadolny:
Uniwersytet im. Mikolaja Kopernika Torun/Thorn

Dr. Susanne Peters-Schildgen
Oberschlesisches Landesmuseum in Ratingen-Hösel

Prof. Dr. Miroslaw Piotrowski
Katolicki Uniwersytet Lubelski Lublin

Dr. Valentina Maria Stefanski:
Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Dr. Hans-Christoph Seidel:
Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Dr. Oliver Steinert:
Mainz

http://www.oberschlesisches-landesmuseum.de (in Vorbereitung)