Privatisierung - Idee, Ideologie und Praxis seit den 1970er Jahren

Privatisierung - Idee, Ideologie und Praxis seit den 1970er Jahren

Organisatoren
Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.12.2010 - 11.12.2010
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Von
Tobias Gerstung, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Die Tagung stand im Zeichen jener globalen Kontroverse um das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, welche in den 1980er-Jahren an Dynamik gewann und in deren Verlauf bis dato gültige Ordnungsvorstellungen grundlegend transformiert wurden. In dieser Zeit wurden die Weichen in Richtung mehr Markt und mehr Individualismus gestellt und dieser Umbruch prägt die Entwicklung bis in unsere Gegenwart. Mit dem Begriff der ‚Privatisierung’, so DIETMAR SÜß (Jena) im Eröffnungsvortrag, sei also deutlich mehr gemeint, als der Verkauf oder die Umstrukturierung staatlicher Unternehmen nach den Kriterien des freien Marktes. Vielmehr solle die Totalisierung des Marktprinzips und das Ende des Traums von der Steuerbarkeit der Gesellschaft in den Blick genommen werden. Damit greife eine Geschichte der Privatisierung zentrale Themenfelder der Phase „nach dem Boom“ (Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael) auf und stelle ein alternatives Deutungsmuster zur Verfügung, das einen Ausweg aus den bisher bekannten Untergangs- und Verfallsgeschichten weise.

Großbritannien unter Margaret Thatcher war Vorreiter und Vorbild in Sachen Privatisierung. Dass der Entstaatlichungsprozess erst in ihrer zweiten und dritten Amtszeit in Fahrt kam, werde bisweilen so interpretiert, dass diese Politik zunächst nicht im Zentrum von Thatchers Agenda gestanden habe, so DOMINIK GEPPERT (Bonn). Er vertrete hingegen die These, es habe an der Basis der Tories seit den 1950er-Jahren eine breite Grundströmung gegeben, welche die Verstaatlichungen der Attlee-Regierung als gefährlichen Irrweg ansah und diesen Prozess habe rückgängig machen wollen. Während der Nachkriegs- und Boomjahre war eine solche Politik jedoch nicht mehrheitsfähig, weshalb die Parteiführung – teilweise aus wahltaktischen und strategischen Gründen, teilweise auch aus Überzeugung – am Status quo festhielt. Erst mit den wirtschaftlichen Krisen der 1970er-Jahre und den sich ändernden gesellschaftlichen und poltischen Rahmenbedingungen setzten sich 1975 innerhalb der Partei die Privatisierer mit ihrer Gallionsfigur Thatcher durch.

Ein weiteres Vorbild für marktorientierte Reformen waren in den 1980er-Jahren die USA. Zwar habe es dort, so LLOYD E. AMBROSIUS (Lincoln), keine Staatsbetriebe und somit auch keine Privatisierungen im engeren Sinne gegeben, Ronald Reagan habe jedoch einen Politikwechsel hin zu einer nachfrageorientierten, auf Steuersenkungen und Deregulierungen setzenden Wirtschaftspolitik vollzogen. Gleichzeitig wurden die Rüstungsausgaben in die Höhe getrieben, um die angeschlagene Rolle der USA als Weltmacht wieder herzustellen. Da sich die Regierung aber weigerte, die so entstehende Finanzierungslücke durch Einsparungen in anderen Bereichen auszugleichen, stieg die Staatsverschuldung rasant an, während Steuergeschenke an die Reichen die soziale Ungleichheit im Land verstärkten. Die wirtschaftliche Erholung der späten 1980er-Jahre und der Zusammenbruch des Ostblocks hätten diese dunkle Seite der Reaganomics lange Zeit verdeckt und sowohl George H. W. Bush als auch seinen Sohn dazu verleitet, diese falsche Politik fortzusetzen. Die Konsequenzen zeigten sich heute in der enormen Staatsverschuldung und der aktuellen Wirtschaftskrise.

Wie in Großbritannien galten auch in Frankreich die Verstaatlichungen der Kriegs- und Nachkriegszeit als Errungenschaft und Privatisierungen waren lange Zeit Tabu, so HERVÉ JOLY (Lyon). Dies habe sich erst mit den umfangreichen Verstaatlichungen der Jahre 1981/82 unter François Mitterrand geändert. Die Opposition forderte, dieses Nationalisierungsprogramm rückgängig zu machen und als Jaques Chirac 1986 die Wahl gewann, erließ seine Regierung ein umfassendes Privatisierungsgesetz, das die Entstaatlichung weiter Teile des öffentlichen Sektors im Rahmen eines Fünfjahresplans vorsah. Begründet wurde dies einerseits damit, dass es der öffentlichen Hand nicht gelinge, genügend Investitionskapital aufzubringen um die Zukunft der Unternehmen zu sichern und andererseits damit, dass Führungspositionen rein politisch besetzt würden. Dieser erste umfassende Privatisierungsschub wurde vorübergehend durch den Börsenkrach des Jahres 1987 und die Wiederwahl Mitterrands 1988 gebremst. Seit dem Wahlerfolg der rechten Parteien 1993 wurde die Entstaatlichungspolitik jedoch über alle politischen Wechsel hinweg fortgesetzt und bis 2002 weitgehend abgeschlossen.

Aus der Sicht von HANS GÜNTER HOCKERTS (München) stand der deutsche Sozialstaat schon immer in einem ambivalenten Verhältnis zum Markt. Einerseits sollten staatliche Eingriffe die schädlichen Folgen des freien Spiels der Kräfte begrenzen, andererseits setzte der Sozialstaat immer wieder auf den Markt und marktergänzende Maßnahmen. Angesichts des Wandels der Sozialpolitik in den letzten Jahren könne man deshalb nicht einfach vom Rückzug des Staates sprechen. Zwar habe sich das Mischungsverhältnis zwischen staatlichen und marktwirtschaftlichen Steuerungsformen verändert, aber selbst dort, wo vermehrt auf den Markt gesetzt wurde, sei dies im Rahmen strenger sozialpolitischer Vorgaben geschehen, wie etwa bei der Schaffung stark regulierter Märkte in den Bereichen Riesterrente oder Pflegeversicherung.

Die zweite Sektion befasste sich mit der praktischen Umsetzung von Privatisierungsprojekten im Westen. FRANK BÖSCH (Gießen) untersuchte die Debatte um die Zulassung privater Rundfunk- und Fernsehsender in der BRD seit den 1970er-Jahren. Er betonte die besondere Bedeutung technischer Entwicklungen in diesem Zusammenhang, zeigte aber auch, wie die politische Auseinandersetzung zu einer Art Rollentausch zwischen SPD und CDU geführt hätte. Während die Konservativen mit dem technologischen Fortschritt, mit Meinungsvielfalt und Bürgernähe für den Privaten Rundfunk eingetreten seien, hätten die Sozialdemokraten mit dem Schutz der Familie, einer drohenden Fremdkommerzialisierung der heimischen Medienwirtschaft und der Angst vor unkontrollierter Einflussnahme durch Unbekannte dagegen argumentiert. Von zentraler Bedeutung sei schließlich die boomende Werbewirtschaft gewesen, die sich von der Zulassung privater Sender große Umsatzzuwächse erhofft habe. Die Umsetzung nach 1994 sei dem britischen Vorbild gefolgt: Staatliche Sender behielten ihren öffentlich-rechtlichen Charakter, erhielten aber private Konkurrenz. Zusätzlich vergaben sie vermehrt Teile ihrer Programmgestaltung an private Anbieter. Es habe also eine Deregulierung und eine Teilprivatisierung staatlicher Aufgaben stattgefunden.

Post und Bahn hatten, so KARL LAUSCHKE (Dortmund), zu Beginn der Privatisierung sehr ungleiche Ausgangspositionen. So sei die Bundespost zu Beginn der 1980er-Jahre ein gut funktionierendes Unternehmen gewesen, das einen wichtigen Beitrag zum Bundeshaushalt leistete und darüber hinaus mit der Telekommunikationssparte in einer zukunftsweisenden Branche tätig gewesen sei. Die Bundesbahn habe hingegen als ewiges Verlustgeschäft und technologisches Auslaufmodell gegolten. Durch die zusätzliche Aufgabe, das Streckennetz der Reichsbahn zu sanieren und an das Netz der Bundesbahn anzuschließen, verschärften sich die Schwierigkeiten der Bahn nach der Wende noch zusätzlich. Dass in beiden Fällen an den Privatisierungsplänen unbeirrt festgehalten wurde, führte Lauschke darauf zurück, dass es in erster Linie um die Durchsetzung des politischen Willens zur Implementierung von Markt und Wettbewerb und nicht so sehr um die jeweiligen Unternehmen gegangen sei. Diese staatliche Selbstentmachtung deutete er als Teil eines umfassenden Wandels, in dessen Verlauf ein neues Produktions- und Wirtschaftssystem etabliert worden sei.

DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) befasste sich mit den soziokulturellen Dimensionen des Privatisierungsbegriffs, indem er Subjektkonstruktionen im linksalternativen Milieu analysierte. Die Befreiung des Ich im selbst gewählten klassenlosen Kollektiv, individualistische, gegen staatliche Bevormundung gerichtete Konzepte von Erziehungs- und Gesundheitswesen sowie das Ideal einer selbstbestimmten, durch fließende Übergänge von Freizeit und Beruf geprägten Arbeit als Projekt, all dies seien Kernpunkte des linksalternativen Selbstverständnisses in den 1970er-Jahren gewesen. Im Laufe der 1980er-Jahre erzeugte die Differenzierungsdynamik innerhalb der alternativen Szene einen Individualisierungsschub, der schließlich zur Auflösung des Milieus führte. Viele Elemente des linksalternativen Denkens beeinflussten jedoch in der Folgezeit die Neuen Sozialen Bewegungen und gingen schließlich im Mainstream auf.

Die Religionssoziologie glaubte in den 1960er-Jahren, so HUBERT KNOBLAUCH (Berlin), eine Privatisierung des Religiösen als gegenwärtigen Trend ausmachen zu können. Gemeint war damit zum einen die zunehmende Verlagerung des Religiösen in den privaten Bereich, zum anderen der Bedeutungsverlust religiöser Institutionen. Unterfüttert wurde dieses Konzept mit marktheoretischen Überlegungen vom religiösen Subjekt als Sinnstiftungsinstanz, das sich auf einem pluralistischen Weltanschauungsmarkt mit unterschiedlichen Deutungsangeboten und Wertvorstellungen eindeckt. Aus der Rückschau machte Knoblauch jedoch auch gegenläufige Trends aus. So habe zwar die institutionelle Religionsausübung im öffentlichen Raum abgenommen, dafür würden individuelle religiöse Bekenntnisse jeglicher Art jedoch seit den 1970er-Jahren – und erst Recht im Internetzeitalter – zunehmend öffentlich.

Die dritte Sektion wandte sich der Praxis der Privatisierung im Osten zu. Der Umbau der postkommunistischen Staaten Osteuropas nach der Wende sei, so JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena), weit weniger von radikal marktliberalen Konzepten bestimmt gewesen als gemeinhin angenommen werde. Am Beispiel Polens zeigte er, dass die Privatisierung staatlicher Betriebe in den politischen Auseinandersetzungen der 1980er-Jahre lange Zeit überhaupt keine Rolle gespielt hatte. Das Thema sei erst spät und dann von Seiten einiger katholischer Ökonomen in die Reformdebatten getragen und schließlich von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei in die Verhandlungen am Runden Tisch eingebracht worden. Die Privatisierungspolitik, die nach dem Wahlsieg der Solidarność im Juni 1989 und dem damit eingeleiteten Systemwechsel einsetzte, sei also weniger das Ergebnis langjähriger wirtschaftstheoretischer Debatten als Folge eines politischen Kompromisses innerhalb der oppositionellen Bewegung und Teil eines pragmatischen Lernprozesses gewesen.

Der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft nach der Wende werde häufig als eine Folge der Einführung eines radikalen Kapitalismus und der Landnahme durch die westdeutsche Industrie dargestellt, so WOLFGANG SEIBEL (Konstanz). Die entscheidende Weichenstellung hin zu einem raschen und radikalen Systembruch sei jedoch durch die Bestimmungen zur Währungsunion erfolgt. Die vereinbarte Übertragung der Löhne und Gehälter im Verhältnis 1:1 habe in keiner Weise den ökonomischen Verhältnissen entsprochen. Ausschlaggebend für diesen Beschluss seien sowohl der Druck der Straße als auch das politische Ziel gewesen, die Gesellschaft in Ostdeutschland rasch zu stabilisieren. Damit sei jedoch jede Chance auf eine allmähliche Angleichung der wirtschaftlichen Verhältnisse in Ost und West, wie sie zuvor noch diskutiert worden war, nicht mehr möglich gewesen. Die Treuhandanstalt als Hauptakteur der Privatisierung, so Seibel weiter, sei institutionell wesentlich durch eine Verbindung ost- und westdeutscher Vorstellungen geprägt und insgesamt eher neokorporatistisch und konsensorientiert föderalistisch ausgerichtet gewesen.

In Russland erfolgte die eigentliche Privatisierung der Staatsbetriebe erst unter Boris Jelzin. Aus Sicht des Ökonomen WOLFRAM SCHRETTL (Berlin) handelte es sich hierbei um einen weitgehend von oben verordneten Prozess. Sie habe nur wenige Effizienzgewinne und lediglich geringe Einnahmen für den Staatshaushalt erbracht. Um den Widerstand von Seiten der Politik und der Bevölkerung gegen umfassende Privatisierungen und somit einen irreversiblen Systemwechsel zu minimieren und weil sie glaubten, dass ihnen nur ein kurzes Zeit- und Möglichkeitsfenster zur Verfügung stehen würde, hätten sich die Akteure um Anatoli Tschubais für den Weg einer Voucherprivatisierung nach tschechischem Vorbild entschieden. Hierzu wurden handelbare Anteilsscheine am öffentlichen Vermögen an die Bevölkerung ausgegeben, die in der Folge jedoch rasch von einigen wenigen kapitalstarken Investoren aufgekauft wurden.

Die lebhaften Debatten im Anschluss an die Vorträge sowie die rege Beteiligung an der Abschlussdiskussion zeigten, dass die Tagung einen Nerv getroffen hatte. Ein großes Verdienst der Initiatoren besteht darin, mit Hilfe des Begriffs der Privatisierung die transatlantisch-westeuropäische Zeitgeschichtsschreibung mit ihrem osteuropäischen Pendant in einen Dialog gebracht zu haben. Dies gilt gerade auch da, wo gravierende Unterschiede in den Entstaatlichungsprozessen sichtbar geworden sind. Die Frage, ob Privatisierungen im Sinne einer Entstaatlichung im weitesten Sinne ein wichtiges Element der historischen Entwicklung in der Phase „nach dem Boom“ darstellen, ließ sich jedoch nicht so klar beantworten. Trotz aller ideologischen Debatten scheint der Eindruck im Bereich der Volkswirtschaft zwiespältig zu sein: Zwar wurde überall in Europa der Anteil staatlicher Unternehmen in der Volkswirtschaft verringert, dem stehen jedoch neue Formen der staatlichen Einflussnahme auf die – häufig durch Privatisierungsmaßnahmen erst geschaffenen – Märkte gegenüber. Verlässt man den Bereich des Ökonomischen, stehen andere Begriffe zur Verfügung, die auf den ersten Blick genauso zutreffend zu sein scheinen. So ließe sich etwa in Bezug auf das linksalternative Milieu oder die religiöse Sphäre mit ‚Individualisierung‘ oder dem Konzept der ‚Patchwork-Identität‘ arbeiten. Insgesamt bot die Tagung mit dem Label der ‚Privatisierung‘ aber einen anregenden und interessanten Perspektivenwechsel an, aus dem sich zahlreiche Ansatzpunkte für weitere Forschungsvorhaben ergeben dürften.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Norbert Frei (Jena)

Abendvortrag: Dietmar Süß (Jena): Idee und Praxis der Privatisierung in Europa

Erste Sektion: Idee und Ideologie der Privatisierung

Moderation: Tim Schanetzky (Jena)

Dominik Geppert (Bonn): Thatcher und die "Englische Krankheit"

Lloyd Ambrosius (Lincoln): The Reagan Revolution

Hervé Joly (Paris): Erst verstaatlicht, dann privatisiert. Das Beispiel Frankreich

Hans Günter Hockerts (München): Vom Wohlfahrtsstaat zum Wohlfahrtsmarkt?

Privatisierungstendenzen im deutschen Sozialstaat

Kommentar: Stephan Lessenich (Jena)

Zweite Sektion: Praxis der Privatisierung / West

Moderation: Thomas Kroll (Jena)

Frank Bösch (Gießen): Kampf dem "Rotfunk". Die Privatisierung von Rundfunk und Fernsehen

Karl Lauschke (Dortmund): Staatliche Selbstentmachtung. Die Privatisierung von Post und Bahn

Kommentar: Axel Schildt (Hamburg)

Detlef Siegfried (Kopenhagen): Linke Gefühle. Subjektkonstruktionen im alternativen Milieu

Hubert Knoblauch (Berlin): Der Markt der Religion und die populäre Spiritualität

Kommentar: Sybille Steinbacher (Wien)

Dritte Sektion: Praxis der Privatisierung / Ost

Moderation: Annette Weinke (Jena)´

Joachim von Puttkamer (Jena): Der schwere Abschied vom Volkseigentum. Die Logik der "Systemwechsel" in Polen und Ungarn

Wolfgang Seibel (Konstanz): Wenn ein Staat zusammenbricht. Die Geschichte der Treuhand

Wolfram Schrettl (Berlin): Chicago Boys in Moscow? Two Decades of Economic Transformation in Russia

Kommentar: Olaf Leiße (Jena)

Podiumsdiskussion
Es diskutierten: Franziska Augstein (München), Matthias Machnig (Erfurt), Charles S. Maier (Cambridge, MA), Hartmut Rosa (Jena)
Moderation: Norbert Frei (Jena)


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