HT 2010: Geschichten von Menschen und Dingen – Potenziale und Grenzen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) für die Geschichtswissenschaft

HT 2010: Geschichten von Menschen und Dingen – Potenziale und Grenzen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) für die Geschichtswissenschaft

Organisatoren
Christina Benninghaus, Universität Bielefeld; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Catarina Caetano da Rosa, Lehrstuhl für Geschichte der Technik, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen; Marcel Streng, Zentrum für europäische Studien (ZEUS), Universität Köln

Auf dem deutschen Historikertag 2010 am 29. September 2010 fand zum ersten Mal eine Sektion zur Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) statt. Die ANT ist im Rahmen der Science and Technology Studies entwickelt worden. Im angloamerikanischen Raum wird sie seit Mitte der 1980er-Jahre diskutiert, in Deutschland jedoch erst seit Kurzem. Die Referierenden zielten darauf ab, die Potenziale und Grenzen der ANT für die Geschichtswissenschaft auszuloten. Insgesamt beschäftigte sich die Diskussion mit der Frage, ob und wie es diesem Forschungsansatz gelingen werde, in der Geschichtswissenschaft Fuß zu fassen.

CHRISTINA BENNINGHAUS (Bielefeld) stellte die ANT einleitend als sozialgeschichtliche Heuristik und weniger als Sozialtheorie vor. Die ANT nehme nicht die „Gesellschaft“, sondern „Kollektive“ von Menschen und nicht-menschlichen Dingen in den Blick, wobei sie diese als gleichberechtigte Partner auffasse. Es gelte, die Interaktionen solcher Entitäten nachzuzeichnen. Laut einer Maxime von Bruno Latour, dem Hauptvertreter dieser Forschungsrichtung1, sollte die für die Moderne charakteristische Dichotomie zwischen Menschen und Nicht-Menschen selbst zum Gegenstand werden, um Akteur-Netzwerke als Mischwesen (Hybride) untersuchen zu können. Daran schloss sich die Frage an, ob sich diese Betrachtungsweise auch auf die Vormoderne übertragen lasse.

In ihrem Kommentar stellte MARTINA HESSLER (Hamburg) heraus, dass das Konzept des Aktanten für die ANT zentral sei und sie sich dadurch von anderen (Sozial-)Theorien unterscheide. Die damit verbundene Idee laute, nicht-menschlichen Dingen ein Handlungspotenzial (agency) und eine aktive Rolle im Aufbau von Wissens- und Sozialordnungen zuzuschreiben. Michel Callon, ein weiterer Vertreter der ANT, habe diesen Gedanken am Beispiel von Jakobsmuscheln illustriert2: Diese Aktanten würden Fischer dazu veranlassen, sie zu angeln. Die Fischernetze wiederum könnten als Aufforderung an die Muscheln verstanden werden, sich daran zu heften. Da dieses Vorhaben in der Empirie jedoch scheitern könne, zeige das Beispiel, dass nicht-menschliche Aktanten zuweilen anders reagieren würden als erwartet. Erst diese Sichtweise auf Mensch-Ding-Beziehungen, die den Dingen Handlungsmacht zugestehe, führe zu ihrer Neubeschreibung. Die Technikhistorikerin aus Hamburg spitzte ihre Ausführungen wie folgt zu: Falls man der Idee des Aktanten nicht zustimme, dann empfehle sich der Rückgriff auf andere Theorieangebote.

Es wäre interessant, diese Sektion unter den folgenden Fragestellungen zu besprechen: Ist es den Vortragenden gelungen, das Konzept der ANT für die historische Forschung zu erschließen? Haben sie den Anspruch, von einer Sozialgeschichte der Menschen zu einer Geschichte der Assoziationen von Menschen und Nicht-Menschen überzugehen und symmetrische Netzwerkbildungen zwischen Akteuren und Aktanten nachzuzeichnen, eingelöst?

KLAUS WEINHAUER (Wassenaar, NL) ging in seinem Vortrag „Vom Hustenmittel zur illegalen Droge (1898-1912)“ auf die Geschichte des Heroins ein. Die Firma Bayer hatte dieses halbsynthetische Opiat zunächst als Medikament gegen Hustenreiz verkauft, bevor es auf Opiumkonferenzen um 1910 zum illegalen Suchtmittel deklariert wurde. Der Referent interessierte sich für das Wissen, das vor dem Ersten Weltkrieg über Heroin zirkulierte. Im Rückgriff auf ein von Bruno Latour3 entwickeltes Modell zeigte er auf, wie sich zwischen Ärzten, Patienten, Versuchsapparaten und Labortieren verschiedene Allianzen bildeten. Die Anwendung von Heroin sei nicht nur durch ‚reine Wissenschaft‘ oder ‚korrumpierende Industriepolitik’, sondern auch durch Mediziner gefördert worden, die nach Professionalisierung strebten, stellte er fest.

Da Klaus Weinhauer der Idee des Aktanten misstraute, legte er sich hinsichtlich der Wirkungsmacht des Heroins nicht fest. Der „Stoff“, seine Dosierungen und Verabreichungsformen traten daher nicht trennscharf in den Blick. Doch der Referent hob hervor, mit Hilfe der ANT zu der Einsicht gelangt zu sein, dass Wirkungen von Heroin (wie Angewöhnung oder Abhängigkeit) nicht auf das Problem eines Patienten oder dessen Persönlichkeit zurückzuführen seien, sondern einem Effekt des Medikaments entspreche. Der Vortragende plädierte dafür, Medikamente resp. Drogen mit Hilfe der ANT zu erforschen, weil diese Stoffe ihre Wirkung erst in einem tierischen oder menschlichen Körper entfalten und mit diesen ein hybrides Netzwerk bilden würden.

CHRISTINA BENNINGHAUS (Bielefeld) griff auf dasselbe Latoursche Modell zurück wie der Vorredner, um am Beispiel der Tubendurchblasung zu zeigen, wie sich der Begriff von „Unfruchtbarkeit“ veränderte. Vor 1920 gab es keine Möglichkeit, die Durchlässigkeit der Eingeweide zu beurteilen. Kontrastmittel führten zu Infektionen. Der Einsatz von Luft verhinderte das und war sogar in Röntgenbildern sichtbar. Die Methode war umständlich, dennoch ließen sich Ärzte davon überzeugen. Die Eileiter wiederum spielten nicht immer mit. Denn in einigen Fällen ließen sich keine oder nur widersprüchliche Ergebnisse erzielen. Neue, unvorhergesehene Fragen entstanden: Warum konnte die Luft nicht immer passieren? Ärzte fassten den Eileiter als Aktant auf. Sie isolierten ihn vom menschlichen Körper und führten Tierversuche durch. Christina Benninghaus zeigte auf, dass sich die Technik der Tubendurchblasung deshalb stabilisieren konnte, weil sie zum einen verfügbar war, und weil sich das Verfahren zum anderen so verändern ließ, dass sich die Eileiter nicht mehr entzündeten.

Die Referentin nahm auch die Frauen, die sich solch einer Behandlung unterzogen, als Mitspielerinnen in den Blick. Sie suchten die Kliniken wegen Kinderlosigkeit auf. Die Frage, wer an der Unfruchtbarkeit Schuld trage, diskutierte die Presse. Die Patientinnen sahen sich nicht selbst als Objekte, sondern das Objekt des Interesses befand sich im Inneren ihres Körpers. Das heißt, sie stellten ihren Körper als Laboratorium zur Verfügung. Benninghaus beschrieb die Innovation im Rückgriff auf die ANT, ohne anonyme Kräfte zitieren zu müssen. Sie betonte die Momente der Kontingenz, der Vorläufigkeit, aber auch der Expertise. Am Beispiel der Eileiterdurchblasung wurde deutlich, welch wichtige Rolle das Organ selber spielte. Demgegenüber erschienen die Ärzte weniger autonom, als die klassische Medizingeschichtsschreibung behauptet. Benninghaus betonte, sie untersuche nicht primär den Diskurs, sondern die Apparatur. Diese rücke viel näher an den Körper heran. Die Hybriden entstünden nicht erst im Diskurs, sondern in den Untersuchungspraktiken. Sie historisierte die Widerständigkeit der Eileiter und betonte damit deren Agency. Deutlich wurde, dass sie die Geschichte gerne aus der Sicht der Eileiter schreiben würde. Allerdings meldete sie Zweifel an, ob solch ein Text nicht für neue Meistererzählungen der Biopolitisierung verwendet werden könnte.

MARTIN KOHLRAUSCH (Bochum) widmete sich in seinem Vortrag der Architektengruppe „Congrès Internationaux d’Architecture Moderne“ (CIAM). Er zeichnete nach, wie sich die CIAM von deren Gründung im Jahr 1928 bis Ende der 1950er-Jahre zu einem professionellen Zusammenschluss entwickelte. Im Spiegel von Briefwechseln prominenter Architekten (wie Le Corbusier und Sigfried Giedion) stellte Martin Kohlrausch gruppeninterne Kontroversen vor, wobei auch „Antigruppen“ (wie das Architekturkomitee des Völkerbundes, die Weltausstellung etc.) für den Zusammenhalt der CIAM konstitutiv gewesen seien. Die CIAM habe es verstanden, die Probleme, die sie zu lösen beabsichtigte, selbst zu definieren, erklärte der Referent. Er griff die ANT auf, um „die soziale Dimension der Architektur“ zu analysieren. Die „technischen“ Innovationen gerieten dabei aus dem Blick: Dinge wie Baupläne, Zeichnungen, Baumaterialien, Statistiken, Modelle, etc. spielten in seinem Vortrag keine Rolle. Diese Lücke spiegelt eine selektive Rezeption der ANT wider, denn diese zieht das Soziale gegenüber der materiellen Dimension der Geschichte nicht vor, sondern versucht in ihren Untersuchungen, Personen, Artefakte und Zeichen gleichermaßen zu beachten.4

DAGMAR ELLERBROCK (Bielefeld) unternahm in ihrem Vortrag den Versuch, Bruno Latours Denkfigur des Schütze-Waffen-Hybrids5 als Handlungseinheit des Schießens zu historisieren. Sie argumentierte, die in den 1880er-Jahren eingeführten Revolver hätten die von der vorgängigen „Messerkultur“ geprägten Interaktionen nachhaltig verändert. Allzweckmesser galten als Alltagsgegenstände, führte sie aus. Die Kunst des Messerführens habe in Streitereien darin bestanden, nur die Kleider und damit das soziale Ansehen des Gegenspielers zu beschädigen. Die Revolver hingegen hätten sich in den ungeübten Händen vor allem junger Männer als gefährliche Dinge entpuppt, weil sich Schüsse zuweilen ungewollt lösten und Unbeteiligte verletzten oder töteten.

Die Referentin beschrieb eine Phase des alltagskulturellen Wandels, in der „soziale Skripte“ aus der vorherrschenden Messerkultur angesichts der neuen Waffen zwar obsolet wurden, aber solche für den Umgang mit Handfeuerwaffen noch nicht gefunden waren. Sie ging von der Grundannahme eines „männlichen Waffenhabitus“ aus, um auf die bedeutende Rolle von Waffen in gesellschaftlichen Virilisierungsstrategien hinzuweisen. An diesem Punkt blieb unklar, worin der Mehrwert der ANT gegenüber praxeologischen und ethnomethodologischen Ansätzen liegen soll, die in der Alltags- und Konsumgeschichte bereits seit einiger Zeit erprobt werden.6

Die Schlussfolgerung Dagmar Ellerbrocks, Schütze und Waffe seien im Rahmen der Schusswaffenkultur „zu einem neuartigen Aktanten verschmolzen, der Praktiken vollführte, die sich zwar an hergebrachten Skripten orientierten, aber aufgrund des Eigengewichts der Artefakte eine ganz neue, eigensinnige Wirkungskraft entwickelten und so […] am Gewebe der Gesellschaft“ mitwirkten, scheint an einer zentralen These der ANT vorbeizugehen: Es gibt a priori weder „die Gesellschaft“ noch „das Gewebe der Gesellschaft“ noch unspezifische „soziale“ Skripte. Nach Ansicht der ANT ist „die Gesellschaft“ (der Menschen) stattdessen ein ebenso erfolgreiches wie folgenreiches Produkt der modernen Sozialwissenschaften, das die eigengewichtige Mitwirkung von Artefakten gerade ausschließt. ANT-Begriffe wie „Kollektiv“ und „Assoziation“ sollen darauf verweisen, dass Dinge nicht am „Gewebe der Gesellschaft“ mitwirken, sondern selber wie ein netzwerkartig aufgebautes Gewebe gesehen werden können.

Christina Benninghaus charakterisierte die ANT schließlich, indem sie ein Diktum von Karl Marx paraphrasierte: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie gemeinsam mit den von ihnen geschaffenen Artefakten und mit den von ihnen […] auf den Plan gerufenen nicht-menschlichen Wesen.“7 Es ist fraglich, ob diese Form der anthropozentrischen Sozialgeschichtsschreibung dem Potenzial der ANT gerecht werden kann, wie Martina Heßler andeutete. Christina Benninghaus äußerte dagegen die Sorge, dass mit der konsequenten Übernahme des Aktanten-Konzepts der biopolitischen Instrumentalisierbarkeit Vorschub geleistet werde. Ob allerdings die anthropozentrische Sozialgeschichte gegen „Ideologisierung“ gefeit ist, mag man ebenfalls bezweifeln. Das Latoursche Konzept der agency wird für seinen Minimalismus kritisiert, ist aber gerade deshalb auch für Historikerinnen und Historiker interessant: Nichts und niemand ist per se Aktant. Stattdessen wird er, sie oder es erst dann zum Akteur, wenn er, sie oder es einen Unterschied macht, die Assoziationsketten minimal verändert, die Liste der Kollektivglieder unmerklich ergänzt oder kürzt. Die verzweigte Geschichte solcher Verbindungen nachzuzeichnen, zu zeigen, welche Materialität Dinge entfalten, aber auch, wie sich Dinge als Netzwerke materialisieren, wäre der ANT zufolge das Geschäft der Historikerinnen und Historiker.

Sektionsübersicht:

Klaus Weinhauer (Wassenaar, NL): Heroin: Vom Hustenmittel zur illegalen Droge (1898-1912)

Christina Benninghaus (Bielefeld): Eine neue Art, unfruchtbar zu sein: Die Einführung der Tubendurchblasung um 1920

Dagmar Ellerbrock (Bielefeld): Browning, Mauser und Co. als Startschuss einer neuen deutschen Waffenkultur

Martin Kohlrausch (Bochum): Jenseits des Bauwerks: Professioneller Wandel und neue soziale Relevanz moderner Architekten nach 1918

Martina Heßler (Hamburg): Kommentar

Anmerkungen:
1 Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main 2010.
2 Michel Callon, „Einige Elemente einer Soziologie der Übersetzung. Die Domestikation der Kammmuscheln und der Fischer der St. Brieuc-Bucht“, in: Andréa Belliger / David J. Krieger (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, 2006, S. 135-174.
3 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 121.
4 Zur weiterführenden kritischen Diskussion der ANT siehe: Georg Kneer / Markus Schroer / Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Frankfurt am Main 2008.
5 Vgl. Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main 2002, S. 214-219.
6 Siehe z.B. Arjun Appadurai (Hrsg.), The social life of things. Commodities in cultural perspective. Cambridge 1986.
7 Im Original lautet der nicht zuletzt für die Alltagsgeschichte seit den 1980er-Jahren einschlägige Satz: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Ders. / Friedrich Engels, Werke. Berlin, 1969, Bd.8, S.111-207, hier S. 115.


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