"Religion" im historischen Diskurs der Frühen Neuzeit = Geschichte–Macht–Religion (I)

"Religion" im historischen Diskurs der Frühen Neuzeit = Geschichte–Macht–Religion (I)

Organisatoren
Susanne Rau, Universität Erfurt; Gérard Laudin, Universität Sorbonne-Paris IV; Internationales Forschungsnetzwerk "Histoire et pouvoir", Centre de recherche du château de Versailles (CRCV); Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (CIERA)
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.12.2010 - 04.12.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Tim H. Deubel, SFB 804 "Transzendenz und Gemeinsinn", Technische Universität Dresden

Im Mittelpunkt des Workshops, der im Pagenhaus von Schloss Friedenstein (Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt) veranstaltet wurde, stand das spannungsvolle Wechselverhältnis von „Religion“, „Macht“ und „Geschichte“. In sechs Vorträgen ging man frühneuzeitlichen Formen des Gebrauchs von historischem Wissen nach und diskutierte den jeweiligen Entstehungszusammenhang. Wenn von „historischem Wissen“ gesprochen wurde, stand dahinter auch die Frage nach der Ausbildung wissenschaftlicher Methoden und Weltbilder und inwiefern sich ihre Durchsetzung erklären lässt.

Dem Treffen, an dem neben Historikern und Historikerinnen auch Theologen, ein Ethnologe und ein Germanist teilnahmen, werden weitere Arbeitsgespräche folgen. Das Ziel der Veranstalter, Susanne Rau (Erfurt) und Gérard Laudin (Paris), ist es, jungen Wissenschaftler/innen ein Forum zu bieten, um sie an eine für das Frühjahr 2012 geplante internationale Tagung zum Verhältnis von Religion und frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung heranzuführen. Darüber hinaus war dieses Treffen eine Fortsetzung von zwei Tagungen über historische Bezüge und politische Modelle imperialer Macht in Europa (Versailles 2008) und über politische Mythologien und die Entwicklung von nationalem Bewusstsein in der Frühen Neuzeit (Madrid 2009). Neben Nachwuchswissenschaftlern stehen die Workshops auch fortgeschrittenen Wissenschaftlern offen.

PETER VOGT (München) sprach über ein Kapitel aus seiner abgeschlossenen Habilitationsschrift Kontingenz und Zufall, in welchem er die Verwendung des wechselseitigen Topos von virtù und fortuna innerhalb der Frühen Neuzeit untersucht. Zunächst ging er auf unterschiedliche frühneuzeitliche Konzepte von Geschichte ein, die er dann mit den „fortunadominierten“ (J.G.A. Pocock) Geschichtsauffassungen der italienischen Renaissance in Beziehung setzte. An Werken von Leon Battista Alberti, Niccolò Machiavelli, Francesco Guiccardini und anderen arbeitete Vogt heraus, dass sich diese Autoren zum einen gegen die spätantik-christliche „Einhegung“ der Fortuna wendeten und sich zum anderen an römisch-antike Autoren wie Cicero und Seneca anschlossen. Schließlich wies Vogt darauf hin, dass auch im „Herbst der Renaissance“ und im Barock ein Weiterleben des Topos von virtù und fortuna zu beobachten ist. Die Untersuchungsbeispiele dieser Zeitepochen entnahm Vogt unter anderem Werken des elisabethanischen Theaters sowie der deutschen und spanischen Literaturgeschichte des Barocks.

MILAN WEHNERT (Tübingen) ging einem einzelnen Fall aus der französischen Byzantinistik der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach. Wehnert zeigte, wie der französische Theologe Isaac Habert in der Edition eines byzantinischen Ritualkompendiums neue methodische Wege einschlug, indem er Rituale der griechisch byzantinischen Kirche in einen spezifischen historischen Zusammenhang einordnete und jedes Aufzeigen einer Überlegenheit der lateinischen Kirche unterließ. Wehnert machte deutlich, dass dieses methodische Vorgehen, so verwandt es zunächst mit modernen wissenschaftlichen Arbeitsmethoden erscheint, dazu diente, Wissensbestände zu erzeugen, die in der zeitgenössischen Auseinandersetzung der Sorbonne mit dem Jansenismus eingesetzt werden konnten. Wehnert argumentierte, es sei Habert in der historischen Kontextualisierung des byzantinischen Ritualkompendiums darum gegangen, ein „organisches Geschichtskonzept“ zur Legitimation der katholischen Monarchie herauszuarbeiten, um auf diese Weise den Jansenismus als künstlich-diskontinuierlich zu delegitimieren.

Um konkurrierende Ansprüche ging es auch MARKUS SCHOLZ (Heidelberg) in seiner Analyse der von Diego de Córdoba y Salinas verfassten Chronik des spanischen Vizekönigreichs Peru. Als kreolischer Franziskanerbruder beschrieb Fray Diego das Leben seiner Ordensbrüder gemäß den Idealen der Franziskaner und blieb in dieser Hinsicht in den üblichen Bahnen der Ordenschroniken, die der Bildung und Erbauung des Nachwuchses dienten. Außergewöhnlich an der umfangreichen Chronik sei hingegen die Tatsache, dass sie als einzige der südamerikanischen Chroniken nach ihrer Vollendung gedruckt wurde. Scholz erklärte dies mit dem Ziel von Fray Diego, die Leistungen des Franziskanerordens in der Missionierung Südamerikas gegenüber den Konkurrenzorden der Dominikaner, Mercedarier und Augustiner (später auch den Jesuiten) ins rechte Licht zu rücken. Schließlich wies Scholz auch darauf hin, dass sich die Chronik auch zur Profilierung einer kreolischen Identität einsetzen ließ, so dass das Werk im Ganzen gesehen sehr unterschiedliche Zielrichtungen besessen habe.

Im Unterschied zu dieser um das Handeln und die Interessen einzelner historischer Personen kreisenden Perspektive untersuchte CHRISTIAN WEDOW (Rostock) theologische Diskurse, die in den Jahren zwischen 1600 und 1648 aus dem Alten Reich nach Schweden importiert wurden. Eine wichtige Rolle nahm hierbei neben den Universitäten und schwedischen Studenten an der Universität von Rostock, die nach der Rückkehr in ihre Heimat das lutherische Wissen verbreiteten, der heimische Buchmarkt ein. Innerhalb seiner Analyse dieses für die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts bisher kaum erforschten Wissenstransfers ging Wedow besonders auf die Rezeption einzelner Diskurse durch den schwedischen Adel ein. Anhand von Schriften, die sich zum einen in den Verzeichnissen adeliger Bibliotheken finden und die zum anderen in den breiteren Schichten der Bevölkerung verbreitet waren, wies Wedow darauf hin, dass die Ausbreitung des Luthertums in Schweden langsamer, widersprüchlicher und diskontinuierlicher verlief als dies in der Forschung üblicherweise angenommen wird.

CLARISSE ROCHE (Paris) rückte mit ihrer Untersuchung des weit verbreiteten antijesuitischen Breve Colloqvivm Iesuiticvm wieder einzelne Protagonisten in den Mittelpunkt der Diskussion. Anhand von Christian Francken und Paulus Florenius zeigte sie, wie beide ihre polemischen Angriffe gegen die katholische Kirche und den Jesuitenorden in jeweils unterschiedlicher Weise auf historisch-versachlichten Analysen aufbauten – ein Argumentationsmuster, das Roche als „argument historique“ bezeichnete. Während Florenius die Entstehung des Lichtfestes aus heidnisch antiken Bräuchen herleitete, relativierte Francken den Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche durch einen Vergleich mit der japanischen Glaubenswelt. Der außerordentliche Erfolg des Werks führte sich indes darauf zurück, dass die Autoren ihre Kritik an dem Jesuitenorden und der katholischen Kirche als ehemalige Jesuiten übten, was ihnen eine besondere Authentizität verlieh.

DAMIEN SÉVENO (Erfurt/Lyon) ging dem Bauernkrieg von 1525 als einem „lieu de mémoire allemand“ nach. Über die Jahrhunderte hinweg bewegte sich die Erinnerung an dieses einschneidende Ereignis der deutschen Geschichte zwischen den Polen einer „légende noire“, in der die Schrecken der Erhebung in den Vordergrund gerückt und einer „légende dorée“, in der freiheitliche Ziele der Aufständigen betont wurden. In diesem Sinne gab Séveno einen Ausblick auf seine Dissertation, in der er mit Hilfe eines diskurs-, kultur- und politikgeschichtlichen Zugangs die widerstreitenden Aneignungen des Bauernkriegs in Deutschland herausarbeiten möchte, um auf diese Weise ein Licht auf die unterschiedlichen Bedingungen und Ziele in der Auseinandersetzung mit einem Stück der Vergangenheit zu Tage zu fördern.

In der Schlussdiskussion wurde von Rau auf das paradoxe Nebeneinander von „Modernem“ und „Vormodernem“ im historischen Diskurs der Frühen Neuzeit aufmerksam gemacht, das die Vereinbarkeit von Gegensätzen als ein Spezifikum dieser Epoche erscheinen lässt. Ebenso warnte sie vor einer Teleologisierung modern erscheinender Phänomene wie der Ausbildung eines historisch-kritischen Umgangs mit Texten. Laudin merkte daran anschließend an, dass insbesondere das auf Thomas S. Kuhn zurückgehende Modell des Paradigmenwechsels in dieser Hinsicht ein alternatives Erklärungsmodell aufgezeigt habe, das auch geeignet sei, um Veränderungsprozesse im Verhältnis von „Religion“ und „Geschichte“ angemessener beschreiben zu können. Für den kommenden zweiten Workshop, der im März in Paris stattfinden wird, wurde von Ulman Weiß angeregt, kontrastive Gegensätze in den Blick zu nehmen, um so zum Beispiel das religiös Nonkonforme und konfessionelle Auseinandersetzungen in der frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung mit in die Diskussion einzubeziehen.

Insgesamt zeigte sich auf der Tagung eine breit gefächerte Themenvielfalt, wobei die meisten Beiträge sich dem Spannungsverhältnis von „Religion“ und „Geschichte“ widmeten (Vogt, Wehnert, Schulz, Roche). Andere ordneten sich dagegen mehr in den Komplex „Religion“, „Macht“ und „Erinnerung“ ein (Wedow, Séveno). Deutlich wurde, dass die Ausbildung wissenschaftlicher Methoden nicht unbedingt im Widerspruch zu christlich-religiösen Weltbildern stehen musste, sondern dass diese durchaus ihre Entwicklung befördern konnten. Für die Erforschung der Geschichte der Geschichtsschreibung hat sich dagegen ein Forum etabliert, welches ebenso internationale und nationale Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler miteinander ins Gespräch bringt wie es auch eine wohl in dieser Form kaum wieder anzutreffende Möglichkeit darstellt, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an eine große Tagung heranzuführen.

Konferenzübersicht:

Peter Vogt (München): Virtù vince fortuna: Zur Ideengeschichte eines Topos in der frühen Neuzeit

Milan Wehnert (Tübingen): APXIEPATIKON (Paris 1643) – ein Liber pontificalis Ecclesiae Graecae der Sorbonne und die historische Kontextualisierung des religiösen Anderen bei Isaac Habert

Markus Schulz (Heidelberg): Religion im Dienste Spaniens und Perus – die Crónica Franciscana de las Provincias del Perú (Lima, 1651) von Fray Diego de Córdoba y Salinas

Christian Wedow (Rostock): Die Rolle von politischer Macht bei der Etablierung des Luthertums in Schweden

Clarisse Roche (Paris): L’argument historique comme ferment de la polémique anti jésuite à Vienne dans le Breve Colloquium de 1579

Damien Séveno (Erfurt/Lyon): Les représentations de la Guerre des Paysans de 1525 dans les pays germaniques du XVIe siècle à nos jours

Schlussdiskussion


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Französisch, Deutsch
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