'Leibniz' in der Zeit des Nationalsozialismus

'Leibniz' in der Zeit des Nationalsozialismus

Organisatoren
Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft; Leibniz-Stiftungsprofessor der Universität und Stadt Hannover
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2010 - 25.09.2010
Von
Hartmut Rudolph, Hannover

Aus der in unserem Jahrzehnt zunehmend intensivierten Aufarbeitung der Geschichte der Universitäten, einzelner akademischer Disziplinen und Institutionen im Nationalsozialismus (NS) und der akademischen Emigration ist zwar eine Reihe beachtenswerter Veröffentlichungen hervorgegangen, in denen jedoch das damalige Leibnizbild oder überhaupt ein Rekurs auf den Universalgelehrten und Philosophen kaum Erwähnung gefunden haben. Mit ihrer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten internationalen Arbeitstagung wollte die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der neu gegründeten Leibniz-Stiftungsprofessur der Universität und Stadt Hannover die Forschung an einem Thema initiieren, das bislang noch keine monographische Darstellung erfahren hat und nun erstmals Gegenstand einer wissenschaftlichen Konferenz werden sollte. Es war die Überzeugung der Organisatoren und sämtlicher Teilnehmer, dass die bisherige Enthaltsamkeit nicht in einer Irrelevanz des Themas gründet, sondern vielmehr die Notwendigkeit anzeigt, sich gezielt um dessen Erforschung zu bemühen, das heißt zunächst die dazu nötige Forschung anzustoßen, Material zu sammeln, Einzelergebnisse vorzulegen, nicht jedoch durch vorschnelle Zuordnungen den Interpretationsrahmen thematisch und sachlich einengen oder verbiegen zu lassen.

Diese Überlegung hat auch die von formalen Gesichtspunkten bestimmte Gliederung der Tagung begründet. Sie orientierte sich vorrangig an den wissenschaftlichen Disziplinen, in denen der Gelehrte Leibniz bekanntlich für seine Zeit Außergewöhnliches geleistet hat und deshalb im Diskurs zur Zeit des Nationalsozialismus Spuren hinterlassen haben muss. Dass dies in unterschiedlicher Intensität und Wahrnehmbarkeit geschah, zeigten etwa die an Leibnizbezügen damals eher arme Geschichtswissenschaft und eine doch sehr explizit geführte Diskussion über die Bedeutung der Leibnizschen Metaphysik in der protestantischen Theologie, wie sie in ihrer Breite durch die Positionen von Emanuel Hirsch, die Erich-Seeberg-Schule bis hin zu Karl Barths dialektischer Theologie markiert wurde. Schon der Blick auf diese Disziplin bestätigte die von den Organisatoren von Anfang an vermutete Notwendigkeit, zum Verständnis der verschiedenen Positionen die Zeit zwischen dem 1. Weltkrieg und 1933 in die Betrachtung ebenso einzubeziehen wie nach der Kontinuität einzelner Ansätze über 1945 hinaus zu fragen. Unter den prominenten Vertretern der Rechtswissenschaft im NS sind es Karl Larenz und Erik Wolf, die in ihren rechtsphilosophischen Anschauungen auf Leibniz Bezug nehmen zu können glaubten, und Ernst Rudolf Huber, der in seinen staatsrechtlichen und verfassungsgeschichtlichen Arbeiten auf Leibniz’ politische Schriften rekurrierte und dort affine Ansätze hinsichtlich der Reichsidee und eines vermeintlichen „Nationalbewusstseins“ reklamierte. Carl Schmitt sah dagegen eine große Distanz zwischen seinen rechtstheoretischen Positionen und Leibniz’ „geistigen Welten“.

Ausgehend von den „Vereinnahmungen“ des Leibnizschen Werkes als eines eminenten Beispiels „deutscher“ Naturforschung durch Philipp Lenard lassen sich weitere Leibnizbezüge in der NS-Zeit, etwa in der Zeitschrift „Deutsche Mathematik“ und in anderen Arbeiten der damaligen deutschen, österreichischen und französischen Forschung in den 1930er-Jahren finden. Es sind großenteils Versuche, Leibniz’ Arbeiten, zum Beispiel zum Raumproblem oder zur „Analysis situs“, für holistisches Gedankengut und andere im NS aktuelle Anliegen in Anspruch zu nehmen.

Den größten Raum nahm auf der Tagung naturgemäß die Philosophie ein; dies entspricht der Wahrnehmung, die der Universalgelehrte Leibniz seit jeher in der Forschung erfährt, und der Tatsache, dass wir ihn auf allen Feldern seines Wirkens (von der Mathematik bis zur Politik) nur dann zureichend interpretieren können, wenn wir ihn als Logiker, Metaphysiker, Ethiker, eben als Philosophen zu verstehen uns bemühen. Das von den Vorträgen und der Diskussion auf der Tagung erfasste Spektrum reichte von der kantianisch bestimmten Interpretation der Leibnizschen Metaphysik, wie sie vor allem durch die Schriften Ernst Cassirers geleistet wurde, über Gerhard Krüger, Kurt Huber bis zu Arnold Gehlen und Martin Heidegger. Ernst Cassirer hatte sich bereits in seiner Hamburger Verteidigungsrede auf die Weimarer Republik am Verfassungstag 1928 auf Leibniz’ Metaphysik bezogen. In ähnlicher Weise, jedoch von Leibniz’ politischer Philosophie her argumentierend, bezog etwa der 1933 emigrierte, bis dahin an der Leibniz-Akademieausgabe wirkende Philosophiehistoriker Paul Schrecker 1937 in London, öffentlich Stellung gegen den Nationalsozialismus. Gerhard Krügers Leibnizbild, dem auch ein Teil des öffentlichen Abendvortrags galt, lässt sich wohl nicht unmittelbar dem nationalsozialistischen Figment einer spezifisch „deutschen“ Philosophie einordnen, es ermöglichte jedoch, wie nicht zuletzt das von Krüger beigetragene Leibnizporträt in dem von Theodor Haering edierten Sammelband „Das Deutsche in der deutschen Philosophie“ (1941, 1942) belegen kann, offensichtlich eine Symbiose mit den sich explizit als nationalsozialistisch gebenden Positionen. Krüger und der Leibniz als Zeugen vermeintlicher Überlegenheit der „deutschen“ gegenüber einer „westlichen“ Philosophie aufrufende Kurt Huber nötigen zu weiteren Differenzierungen und bieten Material für die Frage nach der Kontinuität des jeweiligen Ansatzes in die Nachkriegssituation und den weiteren akademischen Diskurs hinein. Vor allem, aber nicht nur in diesem Zusammenhang, wurde bereits auf der Tagung die Frage ansatzweise erörtert, ob und inwieweit der Leibnizsche Rationalismus und Universalismus, seine metaphysisch begründete Ethik sich einer wie auch immer mit dem Nationalsozialismus kompatiblen Interpretation entziehen, gerade wenn diese sich dem semantischen Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 anschließt, und ob nicht die Inanspruchnahme für die NS-Ideologie deshalb mit dem Preis methodisch höchst anfechtbarer Uminterpretation bezahlt werden musste. Man könnte diese Frage auch so stellen: Inwieweit könnte Leibniz’ intellektueller Nachlass als eine Art „Gegengift“ (Gereon Wolters) gegen jene NS-Ideologie und Weltanschauung angesehen werden?

Von Anfang an wollten die Organisatoren das Thema nicht auf die innerdeutsche Situation beschränken, gerade wenn man diese genauer analysieren und bewerten möchte. So sollte beides, der Blick von außen auf Deutschland, etwa von der oben mit Cassirer und Schrecker beispielhaft bereits angesprochenen Emigration her, aber auch eine hiervon unabhängige zeitgenössische Leibnizforschung in anderen Ländern, zu komparatistischen Zwecken einbezo-gen werden. Die dazu notwendige Auswahl fiel neben dem in dieser Hinsicht ambivalenten klassischen Leibnizland Frankreich auf solche Länder, die, wie Spanien, Italien und Japan, dem nationalsozialistischen Deutschland politisch relativ nahe standen.

Nahezu sämtliche Strömungen der zeitgenössischen Philosophie in Frankreich haben sich auf Leibniz bezogen, seien es Léon Brunschvigs Rationalismus, Emile Boutroux’ Spiritualismus, Henri Bergsons Lebensphilosophie, seien es die Phänomenologie, die religiös bestimmte und schließlich eine soziologisch orientierte Philosophie, etwa bei Georges Gurvitch und Victor Basch. Der Rekurs auf Leibniz betrifft nahezu sämtliche Bereiche, von der Logik über die Metaphysik (als natürliche Theologie) bis hin zur politischen und Rechtsphilosophie. Am Beispiel des Philosophen Jacques Chevalier lässt sich zudem eine gewisse Kontinuität eines Teils jener Leibnizrezeption bis in den Konservativismus der „Révolution nationale“ des Pétain-Regimes aufzeigen. Eine ähnliche Breite des Spektrums zeigt auch die Leibnizforschung im faschistischen Italien, die einerseits unter dem Einfluss des Aktualismus Giovanni Gentiles stand und andererseits durch den aktiv gegen den Faschismus kämpfenden Philosophen Eugenio Colorni vertreten wurde. In beiden Ländern finden sich „Leibnizianer“ in den jeweiligen Regierungen oder in kritischer Auseinandersetzung mit diesen. Der Rekurs auf Leibniz ist deutlich vielfältiger, das Spektrum der Leibnizrezeption erheblich breiter als im nationalsozialistischen Deutschland. Die Situation in Spanien wurde am Beispiel Ortega y Gassets beleuchtet, der nach dem spanischen Bürgerkrieg bis zuletzt in seiner Leibnizmonographie (La idea de principio en Leibniz y la evolución de la teoría deductiva, erschienen 1958) eine kritische Distanz zur dominanten Philosophie des spanischen Katholizismus markierte. Im Gegensatz zu diesen Ländern konzentriert sich die zur Zeit des expansiven Ultranationalismus in Japan mit bahnbrechenden Arbeiten von Torataro Shimomura und Goichi Miyake aufblühende Leibnizrezeption unter dem Einfluss Kitaro Nishidas (1870-1945) und dessen Uminterpretation der Monadologie auf wenige Kernfragen der Metaphysik. Die ebenfalls erörterte Frage, inwieweit sich jener spezifische Nationalismus im zeitgenössischen japanischen Leibnizbild widerspiegelt, lässt sich nicht einfach im Sinne unmittelbarer Beeinflussung positiv beantworten.

Betraf alles bisher Angesprochene die Ebene der Interpretation, des Bildes, das vom Gelehrten und Philosophen in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen, besonders in der Philosophie, gezeichnet werden kann, so wurde zunächst doch auch nach dem „Leibniz“ gefragt, dessen sich die nationalsozialistische Politik in den verschiedenen organisatorischen Zusammenhängen annahm, sei es die Wissenschafts- und Universitätspolitik allgemein, die Politik in der Leibnizstadt Hannover oder der politische Einfluss auf die Leibniz-Edition in der von Leibniz gegründeten Preußischen Akademie der Wissenschaften. Entgegen systemtheoretischen Vereinfachungen (etwa der Behauptung einer vermeintlichen Wissenschaftsfeindlichkeit des Nationalsozialismus) wurde in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit verwiesen, auch im Falle „Leibniz“ bei der Analyse der Wissenschaftspolitik im Dritten Reich sowohl von antagonistischen, wie auch von komplementären und symbiotischen Beziehungen zwischen den Subsystemen Politik und Wissenschaft auszugehen und die konkreten wissenschaftspolitischen Maßnahmen auf struktureller, institutioneller und personeller Ebene zu beobachten. Einen Schwerpunkt hierbei bildeten auf der Tagung die Geschichte der Leibniz-Edition, gerade auch die bis in die Kriegsjahre hineinreichenden administrativen Maßnahmen. Detailliert wurde der Einfluss der NS-Politik mit ihren Merkmalen der Nazifizierung, „Arisierung“ und Militarisierung auf die personelle Zusammensetzung und die Arbeit der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften betriebenen Leibniz-Edition beschrieben. 1938, als das Reichsministerium eine neue Akademieleitung unter Karl Theodor Vahlen durchgesetzt hatte, kam es zu entsprechender Neubesetzung der Leibniz-Kommission. Auch die Verlagsgeschichte, besonders der Versuch des Verlegers Otto Reichl 1933 die Leibniz-Ausgabe in Gänze Adolf Hitler zu widmen, war in die Betrachtung einbezogen worden. Die Geschichte der beiden internationalen Philosophiekongresse, die 1934 und 1937 in Prag und Paris stattgefunden haben, bot reichlich Material, aus dem einige Zusammenhänge zwischen der Leibniz betreffenden NS-Politik an den philosophischen Fakultäten und den zuvor beschriebenen Themenbereichen ersichtlich wurden.

Die Teilnehmer gewährleisteten eine lebhafte und äußerst konstruktiv geführte Diskussion der einzelnen Referate. An deren Veröffentlichung in einem Sonderheft der Studia leibnitiana wird sich die Fülle der dadurch bereits erzielten wissenschaftlichen Erkenntnisse ermessen lassen. Vor allem aber sind aus der Tagung heraus mehrere Initiativen entstanden, in Gruppenarbeit einzelnen Themenbereichen gezielt weiter nachzugehen. Die Veranstalter, die Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft und die Leibniz-Stiftungsprofessur in Hannover, sind gewillt, diese Vorhaben zu fördern, und haben hierzu bereits erste organisatorische Schritte unternommen.

Konferenzübersicht:

Einführung
Hartmut Rudolph (Hannover)

I. Rückgriffe auf Leibniz in der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik

Carsten Klingemann (Osnabrück): Leibniz in der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zwischen Politisierung und Modernisierung

Jens Thiel (Berlin): Leibniztag, Leibnizmedaille, Leibnizkommission, Leibnizausgabe. Die Preußische Akademie der Wissenschaften
und ihr Ahnherr im ‘Dritten Reich’

Karljosef Kreter (Hannover): Politik mit „Leibniz” in der Stadt Hannover

II. Rekurs auf Leibniz in einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen

Jürgen Elvert (Köln): Das Leibnizbild in der Geschichtswissenschaft im Dritten Reich

Ewald Grothe (Wuppertal): „Reichsidee“ und „Nationalbewußtsein“. Das Leibnizbild des Verfassungsjuristen Ernst Rudolf Huber in der Zeit des Nationalsozialismus

Norbert Schappacher (Strasbourg): Einige wissenschaftshistorische Vereinnahmungen des Leibnizschen Werks im Bereich der Logik, Mathematik und Physik

Matthias Wilke (Göttingen): Leibniz in der Theologiegeschichtsschreibung Emanuel Hirschs (1888-1972)

Hartmut Rudolph (Hannover): Leibniz als „deutscher“ Denker in der Schule des Kirchenhistorikers Erich Seeberg

Jaime de Salas (Madrid): Ortega y Gasset and his interpretation of Leibniz in the ‘40’s

Abendvortrag
Rolf Wernstedt (Hannover): Prominenz und Propaganda

III. „Leibniz“ zwischen Neu-Kantianismus und „deutscher“ Philosophie

Enno Rudolph (Luzern): Philosophie: Cassirers „Leibniz“ als Gegenbild zum „deutschen Philosophen“

George Leaman (Charlottesville, VA): Continuities/Discontinuities in the Work on the Leibniz-Ausgabe before and after 1933

Dominic Kaegi (Luzern): Leibniz‘ Bedeutung für Kurt Huber und
die „Weiße Rose“

Hans-Joachim Dahms (Berlin): Leibniz auf den Internationalen Philosophie-Kongressen in Prag und Paris (1934 und 1937)

IV. Leibnizforschung außerhalb des Deutschen Reiches zur Zeit des Nationalsozialismus

Olivier Agard (Paris): Leibniz in der französischen akademischen
Philosophie der Dritten Republik

Luca Basso (Padua): Die Leibniz-Rezeption in Italien unter dem
Faschismus

Patrick Riley (Cambridge, MA): Paul Schrecker’s way from Berlin to Pennsylvania and his meaning for the Leibniz scholarship in the
1930/40s

Kiyoshi Sakai (Tokio): Die japanische Leibnizforschung in der Zeit des
expansiven Ultranationalismus

http://www.uni-hannover.de/de/universitaet/leibniz/stiftungsprofessur/veranstaltungen/2010/
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
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