Religiöse Identität – zum Zusammenhang von religiöser Praxis, Gesellschaft und Identitätskonstruktion

Religiöse Identität – zum Zusammenhang von religiöser Praxis, Gesellschaft und Identitätskonstruktion

Organisatoren
Theologisches Forschungskolleg, Universität Erfurt
Ort
Erfurt
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.11.2010 - 06.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Henning Bühmann, Theologisches Forschungskolleg, Universität Erfurt

Am 5. und 6. November 2010 fand in Erfurt ein von den Doktoranden des Theologischen Forschungskollegs Erfurt ausgerichteter Workshop statt. Thema des Workshops war „Religiöse Identität – zum Zusammenhang von religiöser Praxis, Gesellschaft und Identitätskonstruktion“. Die Frage nach religiöser Identität bot sich an, da sie in vielen am Forschungskolleg entstehenden Projekten implizit oder explizit thematisiert wird. Während des Workshops wurden am Forschungskolleg entstehende Arbeiten vorgestellt. Darüber hinaus gaben Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete Einblick in ihre eigenen Forschungen.

Eine fulminante Einführung lieferte der Historiker URS ALTERMATT (Fribourg) mit einem Vortrag zum Zusammenhang von „Identität – Religion – Nation“, in dem er den Forschungsstand prägnant zusammenfasste. Der Referent betonte die große Bedeutung der Nationalisierung im 19. Jahrhundert für den Wandel politischer, kultureller und religiöser Identität in West- und Mitteleuropa. Durch die Pluralisierungsprozesse im 20. Jahrhundert seien die im 19. Jahrhundert entstandenen stabilen Milieus jedoch aufgebrochen und durch fragilere Identitätskonstruktionen ersetzt worden. Besonders Altermatts Wort von einer „katholischen Zivilgesellschaft“, mit dem er die Wirkungen der Entstehung eines katholischen Verbandswesens im 19. Jahrhundert charakterisierte, wurde im Verlauf des Workshops wiederholt aufgegriffen.

In einem ersten Block zur „Religiösen Identität in der Gegenwart“ stellten zunächst die Soziologinnen FRIEDERIKE BENTHAUS-APEL (Hofgeismar) und MONIKA WOHLRAB-SAHR (Leipzig) die Ergebnisse der 4. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD vor und erörterten deren methodische Konzeption. Sie legten einen Schwerpunkt auf die Analyse des Zusammenhangs von Weltsichten und Lebensstilen und der Gestaltung von Kirchenmitgliedschaft. Die Studie ergab eine starke Korrelation von traditionell und hochkulturell geprägten Lebensstilen mit einer aktiven Kirchenmitgliedschaft. Durch die Erlebniskultur geprägte Lebensstile seien dagegen mit einer geringeren kirchlichen Praxis und stärkerer Austrittsneigung verbunden. Ferner stellte ANNIKA BENDER (Erfurt) ihr liturgiewissenschaftliches Forschungsprojekt „Die gesellschaftliche Bedeutung des Sonntags in der Gegenwart: Eine liturgiewissenschaftliche Perspektive“ vor. Sie verortete in ihrem Vortrag die Sonntagsliturgie im Spannungsfeld von Kirche, Theologie und pluraler Gesellschaft. Bender betonte in ihrem Vortrag die Bedeutung eines von einer geringen Zahl von Teilnehmern vollzogenen Gottesdienstes für das gesellschaftliche Zusammenleben in Europa.

In einem zweiten Block zur „Emanzipation religiöser Akteure“ ging es um die Wirkungen des II. Vatikanischen Konzils. Der Kirchenhistoriker SEBASTIAN HOLZBRECHER (Erfurt) stellte am Beispiel des Aktionskreises Halle Identitätskonstruktionen katholischer Laien in der DDR vor. Er zeigte, wie die Dekrete des Konzils im Raum der katholischen Kirche der DDR Erwartungen der Emanzipation und ein neues Selbstbewusstsein weckten, die von diesem Geist geprägten Laien und Priester aber gleichzeitig in Konflikte mit der kirchlichen Hierarchie gerieten. MYRIAM WIJLENS (Erfurt) setzte sich aus kirchenrechtlicher Perspektive mit den Konsequenzen des II. Vaticanums für „Die Wiederentdeckung der Ortskirche“ auseinander. Sie betonte, dass das Konzil die eigenständige Bedeutung der bischöflich verfassten Ortskirche gegenüber der Gesamtkirche wieder ins Bewusstsein gerückt und rechtlich kodifiziert habe. Hierbei brachte sie eine kritische Perspektive auf zentralistische Entwicklungen in der gegenwärtigen katholischen Kirche ein.

In einem abschließenden Block wurde am Beispiel der Zwangsmigrationen nach dem 2. Weltkrieg nach „Religiöser Identität in der Diaspora“ gefragt. Der Volkskundler MICHAEL PROSSER-SCHELL (Freiburg im Breisgau) stellte westdeutsche „Wallfahrten der Heimatvertriebenen als kulturelles Kraftfeld religiöser und sozialer Identität“ dar. Er beschrieb die Bedeutung der Heimatvertriebenenwallfahrten als Beitrag zur Identitätspflege und gab dabei auch wertvolle Hinweise auf die Notwendigkeit der Verbindung von Interviews und Archivforschung, um die Bedeutung der Heimatvertriebenenwallfahrten zwischen Kirche und Politik recht einschätzen zu können. TORSTEN W. MÜLLER (Erfurt) ergänzte das Bild der Beheimatung der Vertriebenen in Westdeutschland mit einem mit „Kirche und Koalitionsverbot“ betitelten Überblick über sein kirchenhistorisches Dissertationsprojekt zur Beheimatung heimatvertriebener Katholiken in der katholischen Kirche der DDR. Hierbei trat der Unterschied zwischen einer in einer mehr oder weniger offenen westdeutschen Zivilgesellschaft und der durch den Staat erzwungenen Repression jeder Äußerung einer eigenen Identität der Vertriebenen klar zutage. Das Verhältnis von religiöser Identität und Migration wird wohl noch längere Zeit ein innovatives und ungemein ergiebiges Feld für weitere Forschungen bleiben, wie auch die Ergebnisse des von der DFG geförderten Projektes „Liturgie und Migration“ am Lehrstuhl für Liturgiewissenschaft der Universität Erfurt zeigen.

Die Abschlussdiskussion wurde durch eine konzise Zusammenfassung der Vorträge des Workshops durch JÜRGEN MANEMANN (Hannover) eingeleitet. Die Diskussionen konzentrierten sich naturgemäß auf das Schwerpunktthema des Theologischen Forschungskollegs: Christentum in Minderheitensituationen. Ferner wurde deutlich, dass die Einladung von Wissenschaftlern aus verschiedenen Fachgebieten, den Ertrag ungemein bereicherte. Insgesamt gab der Workshop ein Beispiel für die auch sonst am theologischen Forschungskolleg geübte interdisziplinäre Zusammenarbeit. Obwohl ein so komplexes Thema wie religiöse Identität im Verlauf einer einzigen Tagung natürlich nur angerissen werden konnte, werden die Ergebnisse des Workshops hoffentlich die weitere Arbeit im Forschungskolleg wesentlich beflügeln.

Konferenzübersicht:

Benedikt Kranemann : Begrüßung

Urs Altermatt : Identität – Religion – Nation

Sektion I: Religiöse Identität in der Gegenwart

Friederike Benthaus-Apel / Monika Wohlrab-Sahr: Die Analyse von Weltsichten in der 4. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD: Konzept und Empirie

Annika Bender: Die gesellschaftliche Bedeutung des Sonntags in der Gegenwart: Eine liturgiewissenschaftliche Perspektive

Sektion II: Emanzipation religiöser Akteure

Sebastian Holzbrecher: „Zur Verantwortung berufen“ – Anmerkungen zur Identität katholischer Laien nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil

Myriam Wijlens: Die Wiederentdeckung der Ortskirche – Was wurde aus dem II. Vatikanischen Konzil?

Sektion III: Religiöse Identität in der Diaspora

Michael Prosser-Schell: Wallfahrten der Heimatvertriebenen als kulturelles Kraftfeld religiöser und sozialer Identität nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland

Torsten W. Müller: Kirche und Koalitionsverbot – Zur Beheimatung der katholischen Flüchtlinge und Vertriebenen im Ostteil des Bistums Fulda (SBZ / DDR)

Jürgen Manemann: Zusammenfassung, Diskussion, Ausblick


Redaktion
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Deutsch
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