Identitätskonstruktionen in Medien und Öffentlichkeit

Identitätskonstruktionen in Medien und Öffentlichkeit

Organisatoren
Interdisziplinäres Verbundprojekt „Kulturelle Prozesse und Identitätsdiskurse im östlichen Europa“, Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo), Justus-Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2010 - 19.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Saltanat Rakhimzhanova, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Gießen

Mit dieser fächerübergreifenden Arbeitstagung sollte eine Zwischenbilanz des seit Dezember 2009 laufenden Verbundprojekts „Kulturelle Prozesse und Identitätsdiskurse im östlichen Europa“ gezogen werden. Das Ziel des DFG-geförderten Forschungsprojektes ist es, die diskursive Ebene der Identität in unterschiedlichen Regionen in Osteuropa zu beleuchten und sich dabei mit der Definition des breiten und mit einer Bedeutungsvielfalt beladenen, viel kritisierten Begriffs Identität und modernen Identitätstheorien auseinanderzusetzen1, so die Veranstalter des Workshops. Unter der theoretischen Grundvoraussetzung, dass sich Identitäten durch ihren multiplen und konstruktiven Charakter auszeichnen, sollten einzelne Beiträge zeigen, welche konstruierten Identitäten im mittel- und osteuropäischen Raum im Zeitraum vom Mittelalter bis heute vorhanden sind. Interdisziplinär zu beleuchten waren zwei Forschungsfragen: Welche Mechanismen zur Herausbildung von Identitäten zur Hilfe herangezogen werden und wie die letzteren medial vermittelt werden. Wichtig war zudem für die Tagungsveranstalter, frühere Epochen mit aktuellen Fragestellungen zu verbinden.

Den Workshop eröffnete IVAN PĂRVEV (Sofia) mit einer Analyse der Darstellung der Eroberung und des Verlusts Belgrads (1688-1739) in Zeitungen des Alten Reiches. Bei seiner Quellenarbeit konzentrierte sich der Geschichtswissenschaftler auf zwei Aspekte der Nachrichtenübergabe, nämlich die zeitliche Verzögerung zwischen einzelnen Zeitungen und den Darstellungsstil der Ereignisse. Von den Ergebnissen der Untersuchung des Zeitaspekts berichtete Părvev, dass die Nachricht über die Eroberung Belgrads 1717 zuerst im Wienerischen Diarium am 24. August, drei Tage später im Frankfurter Journal und zuletzt am 30. August im Schlesischen Kurier erschienen sei. Mit Zitaten aus Zeitungen belegte er im Weiteren, dass das Frankfurter Journal auf die Belgrad-Nachricht durch ihren eigenen Postboten, vom Diarium unabhängig, gekommen ist. Im nächsten Teil des Vortrages stellte Părvev die Ergebnisse des Vergleichs der Darstellungsstile vor und vertrat dabei die Ansicht, dass die Belgrad-Nachrichten „durch das Prisma der Politik“ erfasst worden seien. Wenn sich die Berichtserstattung über den Sieg in Belgrad 1717 im Wienerischen Diarium und Frankfurter Journal im Sinne des kaiserlich-habsburgischen Patriotismus gestaltet habe und Freude zu erkennen gewesen sei, sei der Darstellungsstil in den Zeitungen Münchens und Breslaus neutraler gewesen. Der Grund dafür liege an der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen politischen Lagern in der Vergangenheit.

Der abschließende Teil des Vortrages widmete sich dem Wandel des Osmanenbildes in den Zeitungen. Bei der Berichterstattung über die Eroberung Belgrads durch die Truppen der Habsburger (1688) konnte Părvev noch ein negatives Osmanenbild festhalten: Der Feind sei „grausam“ und man habe „Angst vor seiner Wiederkehr“. In der Berichterstattung zum Verlust Belgrads von 1739 sei die Darstellung neutraler geworden. Nach Părvevs Begründung wurde die Satanisierung des Feindes überflüssig, weil man davon ausging, dass die Stadt bald wieder den Habsburgern gehören würde. Die Diskussion nach dem Vortrag entwickelte sich um die Frage, ob militärische oder religiöse Zuschreibungen bei der Identitätskonstruktion des Feindes überwogen. Hier argumentierte der bulgarische Geschichtswissenschaftler für den Vorrang der militärischen Charakterisierung des Feindes. Seiner Ansicht nach verwendete man die Zuschreibung „Ungläubige“ im 18. Jahrhundert kaum mehr, wichtiger war die zivilisatorische Überlegenheit über die „unzivilisierten Barbaren“.

Zwei Vorträge widmeten sich der politischen Vergegenständlichung der Herrscheridentität im russischen Zarenreich im 17. und 19. Jahrhundert. Die theoretische Einrahmung des Vortrages von ENDRE SASHALMI (Pécs) umfasste die Vorstellung der Begriffsunterscheidung russkij – rossijskij nach Riasanovsky und Hosking.2 Während russkij für die Charakteristik der ethnischen Identität zu dienen habe, bezeichne rossijskij eine politische Identität. Die Begriffserklärung ergänzte der Vortragende mit einer These, dass der Terminus russkij im 17. Jahrhundert synonym zu orthodox verwendet worden sei. Im Hauptteil des Vortrages zeigte der ungarische Wissenschaftler, wie die Änderung des offiziellen Titels des russischen Herrschers von Car' (1547) zu Imperator vserossijskij (1721) den Wandel der Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten des russischen Herrschers symbolisieren sollte. Während sich die Bezeichnung Russkij Car' mit der religiösen Identität verband, sollte der Titel Imperator vserossijskij der Charakteristik einer politisch-imperialen Identität dienen. Die Heraushebung des Politischen hatte laut Sashalmi zwei Ursachen: erstens die von Peter dem Großen betriebene Politik der Westernisierung und Säkularisierung und zweitens den starken ukrainischen Einfluss seit dem 17. Jahrhundert. Wie der politisch bestimmte Identitätswandel in Bildern, Ikonen und Gravuren festgehalten wurde, führte der Geschichtswissenschaftler an Quellenbeispielen aus dem 17. und 18. Jahrhundert vor. Abschließend stellte Sashalmi einen Vergleich zwischen der bildlichen Darstellung der Zaren und der sowjetischen Oberhäupter Lenin und Stalin an und kam zum Schluss, dass die jüngeren Bilder von denjenigen aus den früheren Jahrhunderten stark beeinflusst waren.

Der anschließende Beitrag von ULRICH HOFMEISTER (Gießen) stellte ein Beispiel der Konstruktion einer kolonialen Identität im russischen Zarenreich im 19. Jahrhundert vor. „Begrabt mich in Taschkent, denn dies ist echte russische Erde, in der zu liegen sich kein Russe schämen muss“, war der Begräbniswunsch Konstantin fon Kaufmans, des am längsten amtierenden Generalgouverneurs Turkestans (1867-1882) und des damit einflussreichsten Gestalters der kolonialen Verhältnisse im zaristischen Zentralasien. Bei der Analyse von Texten Kaufmans konnte der Referent feststellen, dass typische Eigenschaften von Kolonialgesellschaften, wie beispielsweise widersprüchliche Bestrebungen nach Abgrenzung und zugleich nach Vereinnahmung der Einheimischen durch die Kolonialherren auch für das eroberte Zentralasien charakteristisch waren. Dies zeigte sich unter anderem daran, dass die Trennung Taschkents in eine asiatische Altstadt und eine europäische Neustadt nicht konsequent durchgehalten werden konnte. Widersprüchlich waren nach Hofmeister auch die Selbstbeschreibung der Kolonialherren und ihre Wahrnehmung durch Einheimische: Sahen sich Eroberer selbst als Vermittler einer höheren Zivilisation, wurden sie jedoch von der traditionellen einheimischen Elite als Verursacher des Verfalls empfunden. Auf Kaufmans Befehl sollte keine Missionierung stattfinden und auch die sprachliche Anpassung der Einheimischen wurde nur beschränkt gefördert. Diesen Zwischenstand der Assimilierung benannte der Referent nach Homi K. Bhabha als Mimikry.3 Hofmeisters Schlussfolgerung war, dass die Russifizierung am Beispiel Turkestans und nach Kaufmans Vorstellungen „nur Zivilisierung“ bedeutete und keine weiteren praktischen Russifizierungsmaßnahmen mit sich brachte. In der Diskussion fügte er eine Erklärung zu seinem Fazit hinzu, die russischen Kolonialherren hätten mit der Vorsicht bei der Zivilisierung „Fehler der britischen Eroberer in Indien nicht wiederholen wollen“.

Wie die Christianisierung in Ungarn, angefangen im 11. Jahrhundert, von ungarischen Königen eingeführt, geschützt und als Herrschaftsinstrument verwendet wurde, zeigte NORA BEREND (Cambridge) mit Bezug auf mittelalterliche ungarische Texte. Ihr Vortrag hob den konstruktiven Charakter der christlichen Identität deutlich hervor. An zahlreichen Beispielen zeigte die Referentin, wie das ursprüngliche Gebilde der christlichen Identität in Ungarn im 11. Jahrhundert aussah und wie es innerhalb der nächsten Jahrhunderte unter dem Einfluss der nächsten Herrscher modelliert wurde.

„Die Entstehung, Durchsetzung, Diffusion und europaweite Verbreitung des Antemurale-Konzepts“ behandelte der anschließende Beitrag von PAUL SRODECKI (Gießen), was zugleich das Thema seines Dissertationsprojektes ist. Nach einer Klärung der Begriffsgeschichte zeichnete Srodecki an Quellenbeispielen die Selbstdarstellung der Osteuropäer als Bollwerk des Christentums im Kampf gegen Ungläubige nach und skizzierte die Entwicklung und Ausdehnung des frühen Antemurale-Diskurses in Ungarn und Polen.

Zwei weitere Vorträge beschäftigten sich mit der Sprachidentität im postsowjetischen Kasachstan. BHAVNA DAVE (London) verglich zu Beginn ihres Vortrages die Sprachsituation in Kasachstan um 1990 mit der aktuellen und ging dabei auf zwei Aspekte ein, nämlich die multiethnische Balance in Kasachstan und die Prestigeerhöhung der kasachischen Sprache.4 Daves Erörterungen zufolge habe sich in den letzten zwanzig Jahren die Präsenz der kasachischen Sprache im öffentlichen Bereich verbessert. Kasachisch sei in der visuellen Information präsent: Stempel, Schilder, Straßenschilder sind in kasachischer Sprache. Auch die multiethnische Einigkeit werde politisch unterstützt. Allein in der Hauptstadt Astana seien dafür zahlreiche Symbole errichtet worden: nationale Kulturzentren, Moscheen, orthodoxe Kirchen sowie neuerdings der „Palast des Friedens und der Einigkeit“. Dass jedoch das Prestige der kasachischen Sprache unter Funktionären gering bleibt, führte die Referentin am Beispiel der Zahl der Kasachisch sprechenden Minister vor: Nur drei von achtzehn insgesamt beherrschen die Staatssprache. Im Weiteren ging Dave auf das neuentwickelte staatliche Sprachenprogramm 2011-2020 ein und kritisierte hier fehlende differenzierende statistische Informationen zu den Kasachischkenntnissen der Bevölkerung sowie die Verdoppelung staatlicher Dokumentation, bestehend aus der primär gefertigten russischen Version und deren – anschließend kaum gebrauchter – Übersetzung ins Kasachische. Daves Resümee war, dass die kasachstanische Nation nicht durch die gemeinsame Sprachidentität Kasachisch verbunden sei, sondern durch das sowjetisch geprägte Bewusstsein mit dem Motto „Kasachstan ist unser gemeinsames Zuhause“. Der nächste Beitrag von RUTH BARTHOLOMÄ/ AKSANA BRAUN (Gießen) erweiterte das kasachische Thema mit dem Vergleich der Sprachsituation in Tatarstan. Die vergleichende Analyse sprachpolitischer Dokumente sollte beispielsweise die Frage beantworten, welcher Status und welche Rollen dem Russischen und den Titularsprachen Kasachisch und Tatarisch in den Republiken zugedacht wurden und wie dies realisiert werden sollte. Die kontrastive empirische Untersuchung bezüglich des Aufbaus einer staatlichen Identität und der Rolle der Sprache dabei wies sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede auf. Eine aktive Sprachenpolitik wird in beiden Republiken betrieben, deren Ziel eine symmetrische Zwei- und Mehrsprachigkeit (Tatarstan bzw. Kasachstan) ist. Ein interessantes Ergebnis ist, dass die russische Sprache, ohne dass diese explizit gefördert wird, weiterhin gleiche Funktionen wie früher beibehält. Der Unterschied besteht laut Bartholomä/Braun in verschiedenen Rollen der kasachischen und tatarischen Sprache bei der Konstruktion der staatlichen und regionalen Identitäten: Während das Tatarische die ethnische Zugehörigkeit zu charakterisieren habe, solle die kasachische Sprache – zumindest nach Meinung führender kasachischer Politiker – ein Merkmal einer supraethnischen, kasachstanischen Identität sein.

Dem Thema der Sprachidentität widmeten sich auch Vorträge von MARIJANA KRESIĆ (Zadar) und MARK KIRCHNER (Gießen). Kresić ging auf den multiplen und konstruktiven Charakter einer Sprachidentität aus gesprächsanalytischer Perspektive ein. Ausgehend davon, dass ein Gespräch ein „zentraler Ort personaler, sozialer und kultureller Identitätskonstruktion“ ist, zeigte sie an der Analyse der empirischen Daten aus der kroatischen Online-Community Konstruierungsmöglichkeiten der multiplen (in erster Linie mehrsprachigen) Gesprächsidentitäten5. Kirchner stellte die geographisch weit verbreitete Sprachfamilie der Turksprachen vor und referierte, wie externe Faktoren, beispielsweise eine Politik der imperialen Hegemonie und der Teilung, eine einheitliche Sprachidentität der Turkvölker von Südsibirien über Mittelasien bis in die Türkei verhindern.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich bei den in der Arbeitstagung vorgestellten exemplarischen Beispielen von Identitätskonstruktionen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa um die Bildung sprachlicher, religiöser und politischer Identitäten handelte. Der konstruktivistische und multiple Charakter von Identität hat alle Tagungsbeiträge durchzogen. Die Vorträge wiesen zudem auf die hierarchische Anordnung der politischen Identität über die sprachliche und religiöse hin, bei der die beiden letzteren als Mechanismen zur Verwirklichung der ersten verwendet werden können. Medien und Öffentlichkeit stellten sich während der Tagung nicht nur als Vermittler, sondern auch als Orte der Identitätsbildung heraus. Der Workshop leistete einen Beitrag zu interdisziplinären Auseinandersetzungen mit Identitätskonzepten und verdeutlichte ein großes Potential für theoretische Ansätze und empirische Daten zur Identitätsforschung im östlichen Europa.

Konferenzübersicht:

Thematische Einführungen

Monika WINGENDER (Gießen): Begrüßung, Vorstellung des Gießener Zentrum Östliches Europa und Einführung in die Thematik des Workshops

Hans-Jürgen BÖMELBURG (Gießen): Identitätskonstruktionen: Einführende Fragen aus der Sicht der Vor- und Frühmodernen Geschichte

Markus KOLLER (Gießen): Identitätskonstruktionen: Einführende Überlegungen aus der Sicht der Osmanistik

Sektion I: Identitätskonstruktionen im Spiegel der Medien

Ivan PĂRVEV (Sofia): Das Osmanenbild und die „Prismen der politischen Periodika“ des Alten Reiches. Case study: Eroberung und Verlust Belgrads, 1688-1739

Marijana KRESIĆ (Zadar): Mehrsprachige Identitäten in Gesprächen und in medialer Kommunikation

Sektion II: Identitätskonstruktion als Gegenstand der Politik: Vom Zarenreich zum postsowjetischen Raum

Endre SASHALMI (Pécs): „From Tsar to Emperor”: The Change of the Public Image of the Ruler in Russia from the mid-17th-Century to Peter the Great and its Consequences

Ulrich HOFMEISTER (Gießen): Russische Erde in Taschkent? – Koloniale Identitäten in Zentralasien, 1867-1881

Bhavna DAVE (London): Kazakhstan’s Language Programme 2011-2020: Transforming Symbols into Substance?

Ruth BARTHOLOMÄ/Aksana BRAUN (Gießen): „Kasachstanisch“ und „Tatarstanisch“? Identitätsfragen und die Rolle der Sprache(n) in aktuellen Diskussionen in der Republik Kasachstan und der Republik Tatarstan (Russische Föderation)

Sektion III: Christliche Identitätskonstruktionen in Ostmitteleuropa vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit

Nora BEREND (Cambridge): The construction of Christian identity in medieval Hungary

Paul SRODECKI (Gießen): Das Antemurale-Konzept in Europa: Zwischen militanter Exklusion nach außen und Integration nach Innen

Abschluss

Mark KIRCHNER (Gießen): ‚Von Sibirien bis zum Balkan‘ – Sprache und Identität bei den Turkvölkern

Anmerkungen:
1 Lutz Niethammer, Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Hamburg 2000.
2 Nicolas V. Riasanovsky, Russian Identities: A Historical Survey, Oxford 2005.
Geoffrey Hosking, Russia: People and Empire, 1552-1917, London 1997.
3 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.
4 Dem Thema ist Kapitel 5 im Buch der Autorin gewidmet: Bhavna Dave, Kazakhstan. Ethnicity, Language and Power, London 2007, S. 96-117.
Rezension dazu: Robert Kindler, Rezension zu: Dave, Bhavna: Kazakhstan. Ethnicity, Language and Power. London 2007, in: H-Soz-u-Kult, 14.10.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-4-040>.
5 <http://www.crommunity.com> (25.11.2010).