Orientalismen in Ostmitteleuropa. Wahrnehmung und Deutung der außereuropäischen Welt im langen 19. Jahrhundert

Orientalismen in Ostmitteleuropa. Wahrnehmung und Deutung der außereuropäischen Welt im langen 19. Jahrhundert

Organisatoren
Projektgruppen „Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa. Vergleichende Studien zu Perzeptionen und Interaktionen in den Grenzzonen“ und „Ostmitteleuropa transnational. Positionierungsstrategien in Globalisierungsprozessen vom späten 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig (GWZO)
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2010 - 18.09.2010
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Von
Heiner Grunert, Internationales Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“, Ludwig-Maximilians-Universität München

Als Orientalismus gilt seit Saids gleichnamigem Werk von 1978 die wertende dichotomische Konzeption von ‚Kulturräumen’, mit deren Hilfe über öffentliche Diskurse kollektive Identitäten gestiftet und erhalten werden. Die Konstituierung des Eigenen findet dabei über die Konstruktion und Abgrenzung vom Anderen statt, wobei dieses Andere in seinem Wesen und seiner Verortung essentialisiert wird. Typische Formen solcher Dichotomien sind dabei Zivilisierter/Barbar, Herrschender/Unterworfener, Held/Opfer, Ratio/Emotion. Auf der Grundlage des Konzepts von Said und im Sinne seiner Weiterentwicklung oder Kritik fragte ein zweitägiger Workshop am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) in Leipzig nach der Anwendbarkeit Said’scher Terminologie und den Spezifika der Wahrnehmungen und Deutungen des ‚Orients’ in einem weit verstandenen Ostmitteleuropa. In welcher Weise, in welchen Formen und von welchen Akteuren getragen fanden im östlichen Mitteleuropa im langen 19. Jahrhundert Selbstverortungen und Kollektivstiftungen am Außereuropäischen statt und welche Rückschlüsse ergeben sich hieraus mit Blick auf den aktuellen Stand der Debatte zu Orientalismen im westlichen Europa und Russland? Im Hinblick auf die Repräsentationen eines wo auch immer verorteten Orients stellte sich hierbei auch die häufige Frage nach den kohäsiven Komponenten von Ostmitteleuropa als historischer Großregion.

Die Einbeziehung des Russischen und des Deutschen Reiches sowie Österreich-Ungarns in die Orientalismus-Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten ergab für diese weitgehende Modifizierungen und neue Schwerpunktsetzungen besonders in Bezug auf Binnenkolonialismen oder die Rolle territorialer Staatlichkeit. Das gesamte Ostmitteleuropa anhand von Fragen nach den Arten, Funktionen und Formen der Orientbezüge vergleichend in Betracht zu ziehen fehlte bis dato weitgehend und war den Organisatoren besondere Herausforderung und Aufgabe für den besprochenen Workshop, der an einigen Kernthemen der Vorträge und der Diskussion vorgestellt werden soll.

Saids Orientalismus-Begriff war als politischer Begriff in Bezug auf imperiale Politik konzipiert. Eine zentrale Frage des Workshops war demnach auf die Spezifik der Orientbilder europäischer imperialer Peripherien gerichtet, auf die Orientalismen von (Teil-) Orientalisierten, von Ländern, die sich selbst oft als „mélange zwischen Ost und West“ (NATALIA KRÓLIKOWSKA, Warschau) bezeichneten oder – wie im Falle Russlands – sowohl Osten wie Westen gleichermaßen essentialisierten (KERSTIN JOBST, Potsdam) und zur Konstituierung des eigenen Kollektivs benutzten. Teilweise – wie im Falle Böhmens von HANA NAVRÁTILOVÁ (Oxford / Prag) für die Reiseliteratur über den ‚Orient’ – konnte dabei eine Vergewisserung der eigenen Westlichkeit ausgemacht werden. NAVRÁTILOVÁ betonte andererseits beispielhaft die Pluralität der Topoi, Intentionen und Befunde wie auch der Schöpfer von verschiedensten Werken mit Orientbezügen und forderte eine stärkere Differenzierung in der Betrachtung des ‚Westens’ als Subjekt, des ‚Orients’ als Objekt und deren vielfältiger Beziehungen. Die kollektive Selbstverortung im weiten Feld des ‚Dazwischen’ tauchte in den Fallbeispielen der Tagung besonders für Polen (NATALIA KRÓLIKOWSKA, Warschau; HEINRICH KIRSCHBAUM, Passau) und Ungarn (IBOLYA GERELYES, Budapest), aber ganz augenscheinlich auch für das Russländische Reich (KERSTIN JOBST) auf. Für das weitere Ostmitteleuropa möglicherweise verallgemeinerbar, betonte JOBST die unklaren und wechselnden Raumbezüge russischer Orientalismen. Russlands Orient habe lange im Süden und Südosten, aber auch im Norden gelegen. Sie kritisierte in dem Zusammenhang Saids Befund, England und Frankreich hätten deutlich länger in orientalistischen Dimensionen gedacht als Russland, da auch der Moskauer Staat bereits im 16. Jahrhundert ‚fremde’ Gruppen und Herrschaften inkorporierte.

Besonders im Falle von Orientalismen in Ostmitteleuropa begründeten mehrere Beiträge deren Spezifik auch aus dem direkten Näheverhältnis zum Orient. JOHANNES FEICHTINGER (Wien) sprach für den österreichischen Fall sowohl von einer dank des alltäglichen Austausches besonderen Kompetenz im Umgang mit dem orientalischen Anderen als auch von der Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung bis hin zu sozialer und kultureller Abschottung. („Je kleiner die Unterschiede, desto größer der Bedarf nach Unterscheidung, aber auch umso schwieriger.“) Als die Entscheidung zwischen Austausch und Abschottung beeinflussenden Faktor machte er die Wahrnehmung kollektiven Bedrohtseins aus wie auch – im Falle Österreich-Ungarns in Form einer imperialen Komponente – „die Hoffnung auf eine Zivilisierungsmission als Sublimierung für das imperialistische-kolonialistische Defizit und in Verbindung damit auf kommerziellen Erfolg durch den Orienthandel.“ FEICHTINGER erwähnte als sprechendes Beispiel hierfür das k.k. Orientalische Museum in Wien, gegründet 1875, das später in k.k. Österreichisches Handelsmuseum umbenannt wurde.

Am Beispiel slowakischer und ungarischer sowie teils auch serbischer Malerei machte HEINKE FABRITIUS (Leipzig) in ihrem Vortrag die Verortung und Personifizierung des Orients zugespitzt am „Türken auf, bei, vor und in der europäischen Burg“ fest. Sie konnte zeigen, wie die bildende Kunst weit vor der Geschichtswissenschaft oder den area-studies den Orient(alen) entwarf und dabei über dichotomische Darstellungen wie Kultur und Barbarei hinausging. Besonders die Beschäftigung mit in Öl gefassten Orientbildern verdeutlichte auch den Einfluss der Nachfrage auf die Produktion. Zahlreiche Künstler in Ostmitteleuropa, wie im böhmischen Fall die Maler František Bílek oder Karel Mašek, verkauften Bilder mit einer solchen Thematik wenig im eigenen Land, zahlreich aber nach Großbritannien und Frankreich (NAVRÁTILOVÁ).

Dem Bereich der Professionalisierung der Orientalistik war eine gesonderte Sektion der Tagung gewidmet. Die Professionalisierungen der Orientbeschäftigung wirkten mit an seiner Essentialisierung. Der Orient wurde philologisiert und historisiert. Die bei dem Aufbau von Wissenschaftsinstitutionen innerhalb Österreich-Ungarns oder Russlands verfolgten Zielsetzungen offenbarten deutliche Analogien zu den Intentionen westlicher Mächte. Mit Blick auf Russland zeigte KERSTIN JOBST die imperialen Initiativen durch die russische Orientalistik, etwa durch das 1815 gegründete Lazarev-Institut für orientalische Sprachen, das zeitgleich mit der russischen territorialen Expansion im Kaukasus, die Sprachen und Kulturen dieser Region untersuchte. Die „gestaffelten Orientalismen“ Österreich-Ungarns legte JOHANNES FEICHTINGER am Beispiel Bosniens an der Gründung des Landesmuseums in Sarajevo 1899 als musealer Forschungsinstitution und der Reform und Institutionalisierung der kunsthandwerklichen Ausbildung in Bosnien als Zivilisierungs- und Kolonisierungsorientalismen dar. Nach den Gebietsverlusten in Italien und den wachsenden nationalen Spannungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekam auch die Kunstgeschichte im Habsburger Reich neue Impulse (Wiener Schule), da ihr die Fähigkeit der Inklusion und Kanonbildung besonders in den östlichen und südöstlichen Rändern des Reiches zugemessen wurde (ROBERT BORN, Leipzig / Berlin).

Im Falle der Etablierung der Orientalistik und ihr verwandter Disziplinen zeigte sich der enge Bezug der Wissenschaftler vor allem ungarischer, polnischer oder böhmisch/mährischer Hochschulen zu Wien und Berlin. In dieser Hinsicht bestanden für Polen aber auch ‚eigene’ enge historische Bezüge zum Orient (KRÓLIKOWSKA). Die ersten Orientalisten in Polen hatten häufig selbst karaimische oder tatarische Vorfahren. Królikowska betonte dabei anhand der Elitenkooption der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik in östlichen Gebieten des Reiches eine weitere Besonderheit des ostmitteleuropäisch-orientalischen encounters. Aufgrund der Fähigkeit und dem Willen Russlands zu Inklusion und Assimilation des ‚Orients’ (bspw. wurden russische Männer von offizieller Seite explizit aufgefordert, indigene Frauen zu heiraten), belegte JOBST gar bis in die sowjetische Forschung die Selbstdarstellung Russlands als besserer, da inklusiver Kolonialmacht.

Exzeptionistische Muster der Stiftung von Kollektivität unter Einschluss einer ‚Orientalität’ zeigten sich in den Ausführungen zu Polen, Ungarn und Russland. Zum einen betraf dies Ursprungsmythen und deren wissenschaftliche Bearbeitung, zum anderen, wie im Falle Polens und Russlands, die Betonung multikulturellen kollektiven Erbes, das besonders dem Osten zuzurechnen sei. Für Polen lässt sich dies bis heute an der Publizistik und Belletristik zur verlorenen Multikulturalität der Ostgebiete (kresy) beobachten. IBOLYA GERELYES wies für die Entwicklung der Hungaristik in Ungarn auf den Forschungsstreit um die finno-ugrische versus die turksprachliche Herkunft des Ungarischen zum Ende des 19. Jahrhunderts hin. Die Suche nach nationaler Selbstverortung der Ungarn sei, in Abgrenzung zu Österreich und unter der Erfahrung vor allem slawischer Nachbarschaft, weit nach Osten gerichtet gewesen. Auch in Polen wies man sich wichtige Züge der im Osten begründeten eigenen Sonderrolle zu – bis ins 18. Jahrhundert in Form der als Sarmatismus bezeichneten Herkunftsideologie und Mode, die ein antikes Reitervolk der Steppe als Vorfahren beanspruchte, sowie in der für den modernen polnischen Nationalismus übernommenen Potenz und mission civilisatrice im Osten. Nebenbei gesprochen waren beide Charakteristika – nomadische Lebensweise und Missionsauftrag – auch für Russlands Diskurs gegenüber dem ‚Osten’ prägend.

Häufig und produktiv, möglicherweise eine Form des Exzeptionalismus und Reaktion auf bereits erwähnte erfahrene Orientalisierung, waren Selbstorientalisierungen im ostmitteleuropäischen Raum. Exemplarisch stehen hierfür die in mancher Hinsicht ähnlichen Fallbeispiele Polens und Ungarns sowie Russlands. MIRT KOMEL (Ljubljana) konstatierte solche Züge jedoch auch für Slowenien am Beispiel Vladimir Bartols historischem Roman „Alamut“ aus den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sowie der Rezeption des Buches bis heute. Die Rolle der Brücke, des Dazwischens ist im Grunde ubiquitär anwendbar und daher relativ häufiges Mittel der Konstituierung des ‚Eigenen’ in Verbindung mit dem ‚Fremden’. Mit einer Selbstorientalisierung geht dabei meist auch die eigene diskursive partielle Verwestlichung einher.

KERSTIN JOBST ging auch auf Geschlechterspezifika der Darstellung des Orients ein. Nicht nur im zaristischen Russland war die Selbstdarstellung zumeist männlich, das fremde Gegenüber hingegen eine Frau, dargestellt im Dunstkreis von Exotik und Erotik. Das Haremthema, insbesondere aber der Schleier seien somit mehrfach besetzte cultural marker gewesen. Häufig waren ihrer Auskunft nach auch „mehr oder weniger subtile“ Effeminationen des Fremden.

Die Frage nach den Trägergruppen beantwortete FEICHTINGER schlicht und umfassend mit „Kirche, Politik und Wirtschaft sowie die mit ihnen verbündeten Intellektuellen, Wissenschaftler und Kunstschaffenden“. An Medien und Formen orientalistischer Beschäftigung wurden während des Workshops besonders die Wissenschaften (Kunstgeschichte, Philologie, Geschichte), die Kunst (Malerei) und die Publizistik (Reiseliteratur) behandelt. Dabei waren alle Bereiche in unterschiedlichem Maße von vorgefertigtem Wissen und einer bestehenden Vorstellung und deren anschließender Prüfung bzw. Vergewisserung am Objekt betroffen. Die häufige Rezeption der Werke prägte teils über Generationen die Sichtweisen vom ‚Orient’. SABINE JAGODZINSKI (Leipzig) konnte dies überzeugend an der 1821 verlegten Reisebeschreibung „Dziennik podróży do Turcyi“ [Tagebuch einer Reise in die Türkei] des polnischen Adligen Edward Raczyńskis und deren veränderter späterer Fassung auf Deutsch darlegen.

ANDREA POLASCHEGG (Berlin) forderte insgesamt, in der Analyse von Orientalismen stärker nach den Funktionen zu fragen als nach den Formen. Dabei sei die Suche nach den Katalysatoren der Entwicklung der Orientbilder – wie des Philhellenismus für den deutschen Fall – von enormer Bedeutung. Am polnischen Fall konnten die Gründe für Akzeptanz und Ablehnung orientalischer Einflüsse sowie die Stellvertreterfunktionen der Beschäftigung mit dem Orient gut nachverfolgt werden. Interessant sei es nach Polaschegg außerdem, die Kontinuitäten der Wahrnehmungen und Deutungen im Blick zu haben, wobei sie gleichzeitig vor der Konstruktion kausaler „Perlenketten“ warnte. In den Diskussionen wurde wiederholt die Frage nach der Ausnahmestellung des britischen und französischen Orientdiskurses in Europa gestellt und daran anschließend auch stark die wissenschaftliche Haltbarkeit Said'scher Terminologien hinterfragt. Viel stärker sei, ähnlich den Forderungen Polascheggs, zu fragen nach den Akteuren, Strategien, Perspektiven und Bezugspunkten von Zuschreibungen gegenüber einem wie auch immer gestifteten Orient, so eine der abschließenden Anregungen. Wichtig scheint dem Berichterstatter die langanhaltende Suggestivkraft absichtlicher partieller Unschärfe in den Darstellungen des konstruiert Fremden, Orientalen hervorzuheben, mit deren Mittel der Übertreibung das ‚Fremde’ personifiziert, generalisiert und der ‚Fremde’ teils auch ‚entmenschlicht’ wurde. Die Organisatoren des von einer äußerst lebhaften, konstruktiv kritischen Atmosphäre geprägten Workshops planen in Kürze die Publikation der erweiterten Beiträge der Referenten.

Konferenzübersicht:

Sarah Lemmen (Leipzig) / Robert Born (Leipzig / Berlin): Begrüßung und Einführung

Ostmitteleuropäische Orientalismen? Annäherungen und Abgrenzungen / Approaches to East Central European Orientalisms

Johannes Feichtinger (Wien): Komplexer k. u. k. Orientalismus: Akteure, Institutionen, Diskurse. Mögliche Zugänge für Österreich

Hana Navrátilová (Oxford / Prag): Orientalism in fin de siècle Czech society

Kerstin Jobst (Potsdam): Wo liegt das russische Morgenland? Anmerkungen zum russischen Orient-Diskurs

Kommentar mit anschließender Diskussion
Andrea Polaschegg (Berlin): Vergleich mit deutschen bzw. westeuropäischen Orientalismen

Entwicklung der Orientalistik als Disziplin in Ostmitteleuropa / The Development of Oriental Studies in East Central Europe

Natalia Królikowska (Warschau): Unexpected Closeness. Poles and the Orient

Ibolya Gerelyes (Budapest): The Development of Oriental Studies in Hungary, with special Attention to Turcology

Robert Born (Leipzig / Berlin) : »Hochwacht an der Pforte des Orients«. Orient und Orientalismus in der Kunsthistoriographie in Österreich-Ungarn an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert

Abschlussdiskussion
Leitung: Frank Hadler / Matthias Middell (beide Leipzig)

Orientbilder und Orientalisierungen in Kunst und Literatur / Images of the Orient and Oriental Discourses in Art and Literature

Heinrich Kirschbaum (Passau): Eunuchen, Paschas, Janitscharen. Polnisch-russische reziproke (Selbst-) Orientalisierungen (1820er Jahre)

Sabine Jagodzinski (Leipzig): Ein polnischer Blick? Eduard Raczyńskis Perzeption des osmanischen Orients im Spiegel seines Reisetagebuchs (veröffentlicht 1821)

Heinke Fabritius (Leipzig): Der Türke auf der Burg: Bilder des Orients in der Malerei Böhmens, Ungarns und der Slowakei im späten 19. Jahrhundert

Mirt Komel (Ljubljana): Vladimir Bartol’s novel »Alamut«: between contemporary reality and historical fiction

Abschlussdiskussion
Leitung: Robert Born (Leipzig / Berlin)


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