Eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Politik und Ideologie: Die albanischen Geisteswissenschaften und die moderne deutsche Forschung zu Albanien - Eine Bestandsaufnahme

Eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Politik und Ideologie: Die albanischen Geisteswissenschaften und die moderne deutsche Forschung zu Albanien - Eine Bestandsaufnahme

Organisatoren
Albanisches Zentrum für Politische Bildung, Tirana; Hanns-Seidel-Stiftung, Tirana
Ort
Tirana
Land
Albania
Vom - Bis
22.11.2010 - 22.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Eva Anne Frantz, Balkan-Kommission, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Seit dem 19. Jahrhundert erforschen Gelehrte und Wissenschaftler aus dem deutschen Sprachraum die albanische Geschichte, Sprache und Kultur, Wirtschaft und Politik. Gleichzeitig konnte sich eine institutionalisierte Form der Wissenschaft im albanischen Siedlungsraum erst nach 1945 entwickeln. Die Forschungen in Albanien standen so von Beginn an unter dem starken Einfluss der national-stalinistischen Ideologie unter Enver Hoxha, während es in Kosovo, wie auch in Mazedonien, zunächst überhaupt nicht möglich war, eine institutionalisierte Form der Wissenschaft aufzubauen. Dies änderte sich erst nach der Ausweitung der Autonomierechte Kosovos und der Gründung der Universität Prishtina 1968, wobei nun die Interpretations- und Denkschemata aus Albanien übernommen wurden.

Ziel der Tagung „Eine Gratwanderung zwischen Wissenschaft, Politik und Ideologie: Die albanischen Geisteswissenschaften und die moderne deutsche Forschung zu Albanien - Eine Bestandsaufnahme“, die am 22.11.2010 in Tirana stattfand, vom Albanischen Zentrum für Politische Bildung (CEAPAL) organisiert und von der Hanns-Seidel-Stiftung in Tirana gefördert wurde, war es, junge albanische und deutschsprachige Wissenschaftler zu einem Gedankenaustausch zusammenzubringen. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass in Albanien teilweise auch heute noch, 20 Jahre nach dem Ende des Kommunismus, kommunistische Deutungen und nationalistische Mythen vorherrschen und die Geschichte durch Wissenschaft und Politik nicht selten instrumentalisiert wird. Gleichzeitig wird im deutschsprachigen Raum aktiv zu albanischen Themen geforscht, deren Ergebnisse im albanischen Siedlungsgebiet aber kaum berücksichtigt werden. Neben einem Überblick über die jüngsten Forschungen deutschsprachiger Wissenschaftler zur albanischen Geschichte, Kultur und Politik stand die interdisziplinäre Vernetzung zwischen jungen albanischen und deutschsprachigen Forschern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Zentrum der Tagung.

In den Vorträgen wurden zentrale Fragen der jüngeren albanischen Geschichte und Gegenwart, der historischen Sprachwissenschaft und deren Bedeutung für die albanische Frühgeschichte, nationale Herkunftsmythen und aktuelle soziokulturelle Entwicklungen thematisiert, wobei politologische, sozial- und kulturwissenschaftliche, anthropologische wie sprach- und geschichtswissenschaftliche Ansätze präsentiert wurden. Eingeleitet wurde die Tagung durch einen sprachwissenschaftlichen Vortrag. STEFAN GEORG (Bonn) hob die Bedeutung der albanischen Sprache, ein eigenständiger Zweig innerhalb der indogermanischen Sprachen, für die vergleichende indogermanische Sprachwissenschaft hervor. Er wies zudem darauf hin, dass es keine klare und eindeutige Antwort darauf gebe, ob das Albanische die Nachfolgersprache des Illyrischen sei, da das illyrische Sprachmaterial zu dürftig sei. PANDELI PANI (Bonn) knüpfte in seinem Vortrag an die Illyrerthese an, die sowohl in der Wissenschaft als auch in der Publizistik meist unhinterfragt vertreten wird. Auch er betonte, dass eine Abstammung von den Illyrern aufgrund der ungenügenden Quellenlage sehr unsicher sei und die Autochthoniefrage bzw. die Frage nach der Lokalisierung der frühen Siedlungsgebiete der Albaner, nicht beantwortet werden könne. Er wies auf die Bedeutung der Sprachwissenschaft für die Erforschung der albanischen Frühgeschichte hin und hielt fest, dass die albanische Sprache seiner Meinung nach trotz der ungeklärten Abstammungsfrage der Albaner und der Möglichkeit, dass das Illyrische nicht die Vorgängersprache des Albanischen ist, nicht als „Waisenkind“ zurückbleiben müsse.

Die Politologin AROLDA ELBASANI (Berlin) stellte eines ihrer jüngsten Projekte am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung vor, an dem sie gemeinsam mit ARTUR LIPINSKI (Kazimierz-Wielki-Universität, Bydgoszcz) arbeitet. Vergleichend analysieren die beiden Wissenschaftler Formen und Probleme der transitionellen Justiz in Albanien und Polen. Elbasani ging in ihrem Vortrag auf die großen Unterschiede zwischen den beiden Ländern ein. Im Gegensatz zu Polen zeige Albanien keinerlei Interesse an einer Aufklärung kommunistischer Verbrechen, was sie auf das Fehlen zivilgesellschaftlicher Traditionen und einer weitgehenden Kontinuität alter Eliten auch nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zurückführt.

Es folgten dann Vorträge, die einen Überblick über jüngste Forschungen zu albanischen Themen gaben. Die Historikerin EVA FRANTZ (Wien) referierte über die Rolle deutschsprachiger Gelehrter seit dem 19. Jahrhundert und stellte gegenwärtige wissenschaftliche Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte der Albaner im deutschen Sprachraum vor. Die Kulturanthropologin ARMANDA HYSA (Tirana) berichtete über neue Studien im Bereich der Anthropologie und kritisierte die fehlenden Methoden in der albanischen Anthropologie. Gerade die im angelsächsischen Raum entstandenen anthropologischen Studien und die dort verwendeten Methoden würden in Albanien vielfach ignoriert. In diesem Zusammenhang plädierte sie für eine engere Zusammenarbeit zwischen albanischen und westlichen Forschern.

Ethnizität und religiöse Zugehörigkeit waren das Thema der folgenden beiden Vorträge. Der Bevölkerungsgeograph DHIMITËR DOKA (Tirana) gab anhand statistischer Daten und Bevölkerungskarten einen Überblick über die religiöse und ethnische Bevölkerungsstruktur Albaniens und deren Veränderungen nach 1945. Er argumentierte, die religiöse und ethnische Bevölkerungsstruktur sei weitaus vielfältiger als oft wahrgenommen und dargestellt. Gegenteilige Meinungen würden meist abgelehnt. So ging er auf den von mehreren Wissenschaftlern, unter anderem auch von ihm selbst, 2003 veröffentlichten bevölkerungsgeographischen Atlas ein, welcher eine heftige Debatte in Wissenschaft und Politik ausgelöst hatte. Grund war die Tatsache, dass der Atlas den Anteil der ethnischen Minderheiten auf 10 Prozent der Gesamtbevölkerung bezifferte, ganz im Gegensatz zu den amtlichen Bevölkerungszahlen, die von 2-3 Prozent ausgehen. Der Ethnizitätsforscher und Balkanologe CHRISTOPH GIESEL (Berlin) stellte seine anthropologischen Forschungen über die slawische Minderheit in Albanien vor, die bisher noch kaum erforscht wurde. Er argumentierte, dass sich diese zum großen Teil assimiliert habe, gleichzeitig aber auch Reethnisierungsprozesse feststellbar seien.

Im Folgenden wurden Führerkulte aus einer komparatistischen Perspektive thematisiert. Der Historiker DANIEL URSPRUNG (Zürich) arbeitete anhand einer Analyse von Photographien Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Personenkulten bei Stalin, Enver Hoxha und Ceausescu heraus. Er formulierte offene Fragestellungen und Forschungsdesiderata in der Erforschung des Hoxha-Kultes. So fehle etwa bis heute eine seriös-wissenschaftliche Biographie von Enver Hoxha. Der Historiker ARTAN PUTO (Tirana) verglich in seinem Vortrag die Führerkulte bei Enver Hoxha und Ahmet Zogu. Beide würden eine nationalistische Rhetorik verwenden und sich als Nachfolger des Türkenkämpfers Skanderbeg inszenieren. Zogu werde aber meist als militärischer Führer dargestellt, während Hoxha als Intellektueller, lesend und schreibend, porträtiert werde. Bei letzterem würden darüber hinaus die stalinistische Ideologie und der Stalin-Kult eine wichtige Komponente spielen.

Die Konferenz wurde durch den Vortrag des Soziologen und Politologen ENIS SULSTAROVA (Tirana) abgerundet. In Anlehnung an Edward Saids Orientalismus-Konzept ging er von einem albanischen Orientalismus aus, in dessen Rahmen die Albaner als ein „europäisches“ Volk den „asiatischen Türken“ gegenübergestellt würden, und analysierte die Bedeutung der albanischen Wiedergeburtszeit, der Rilindja (1878-1912), in den Intellektuellendiskursen im postkommunistischen Albanien. Sulstarova argumentierte, dass in den heutigen Diskursen die Rilindja als eine Fortsetzung der westlichen Tradition der albanischen Geschichte (Ismail Kadare) dargestellt und als radikaler Bruch mit der Vergangenheit sowie als Beginn einer neuen Zeit (Mustafa Nano) betrachtet werde.

Die Inhalte der Vorträge wurden lebhaft diskutiert. Insbesondere die Infragestellung der Illyrerthese löste heftige Gegenreaktionen bei einigen Zuhörern aus, was verdeutlicht, wie heikel dieses Thema im albanischen Sprachraum ist. Zwar zeigte sich, dass auch heute noch bestimmte Fragen innerhalb der albanischen Wissenschaft und Öffentlichkeit nicht offen und kritisch diskutiert werden können, gleichzeitig wurde durch die Vorträge deutlich, dass es innerhalb der jüngeren albanischen Wissenschaftlergeneration eine Reihe kritischer Köpfe gibt, die an einer vertieften wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit internationalen Forschern interessiert sind. Als Ziel wurde festgehalten, die bereits bestehenden Kontakte auszubauen und im Rahmen von weiteren Tagungen im albanischen wie deutschen Sprachraum zu intensivieren. Zu wünschen wäre, dass nicht nur Wissenschaftler aus Albanien, sondern auch aus Kosovo und Mazedonien in die Diskussion mit einbezogen werden.

Konferenzübersicht:

Stefan Georg (Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn): Das Albanische und die Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft

Pandeli Pani (Deutsche Welle, Bonn/Friedrich-Schiller-Universität Jena): Bleibt das Albanische ohne das Illyrische als Waisenkind zurück?

Arolda Elbasani (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung): Transitionelle Justiz – Ein Vergleich zwischen Albanien und Polen

Eva Frantz (Österreichische Akademie der Wissenschaften / Balkan-Kommission, Wien): Gegenwärtige wissenschaftliche Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte der Albaner im deutschen Sprachraum

Armanda Hysa (Zentrum für Albanologische Studien / Institut für Kulturanthropologie, Tirana): Ethnographie, Ethnologie und Kulturanthropologie in Albanien – die heutige Lage und ihre Perspektiven

Dhimitër Doka (Universität Tirana): Geographische Aspekte der ethnischen und religiösen Bevölkerungsstruktur in Albanien

Christoph Giesel (Humboldt-Universität zu Berlin): Die slawische Minderheit in Albanien zwischen Assimilierung und Reethnisierung

Daniel Ursprung (Universität Zürich): Herrschaftslegitimierung anhand von Photographien: Ein Vergleich des Führerkultes bei Stalin, Enver Hoxha und Ceausescu

Artan Puto (Marin-Barleti-Universität Tirana): Ein Vergleich des Führerkultes bei Enver Hoxha und Ahmet Zogu

Enis Sulstarova (Universität Tirana): Die Stellung der albanischen „Wiedergeburt“ (Rilindja) innerhalb des Orientalismus der Intellektuellen im postkommunistischen Albanien

Anmerkung:
[1] Vgl. die im Dezember 2006 vom Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und dem Albanien-Institut München mit Unterstützung der Balkan-Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften organisierten Tagung zur albanischen Geschichte, dessen Ergebnisse publiziert wurden: Oliver Jens Schmitt / Eva Anne Frantz (Hrsg.), Albanische Geschichte. Stand und Perspektiven der Forschung, München 2009.