Zwischen Europäisierung und Globalisierung. Zum Standort der Geschichtswissenschaften heute

Zwischen Europäisierung und Globalisierung. Zum Standort der Geschichtswissenschaften heute

Organisatoren
Ranke-Gesellschaft. Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben e.V.; Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2010 - 20.11.2010
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Von
Jens Ruppenthal, Neueste Geschichte, Universität zu Köln

Seit etwa einem Vierteljahrhundert ist der Methodendiskurs in den Geschichtswissenschaften von einer bemerkenswerten Dynamik gekennzeichnet. Hatten zuvor jahrzehntelang nationale Konventionen die fachwissenschaftliche Methodik bestimmt und damit die Ausprägung bestimmter dominierender Zugriffs- und Darstellungsweisen begünstigt, ist seit den 1980er-Jahren europa- und weltweit ein ständig wachsender Methodenpluralismus zu konstatieren. Die heutigen Geschichtswissenschaften verfügen über ein weit umfassenderes Repertoire an Methoden und Verfahrensweisen sowie eine deutlich breitere Rezeption der Erkenntnisse anderer Kulturwissenschaften als ihre Vorgänger im 19. und in den ersten drei Quartalen des 20. Jahrhunderts. Dies gilt auch für die räumliche Dimension, wo es konsequent um die Überwindung des Nationalen durch die Berücksichtigung transnationaler, transkultureller, postkolonialer und globaler Ansätze geht. Der gemeinsam von der Ranke-Gesellschaft, Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben, und dem Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien organisierte Workshop widmete sich dieser Entwicklung in sechs grundlegenden und ausführlichen Vorträgen sowie intensiven Diskussionen.

In ihrer Einführung zu Konzept und Zielen der Veranstaltung hoben THOMAS BRECHENMACHER (Potsdam) und JÜRGEN ELVERT (Köln) den Umstand hervor, dass im Zuge der Veränderung der Disziplin die Begriffe „Europäisierung“ und „Globalisierung“ zu geradezu zentralen methodischen Kategorien in den Geschichtswissenschaften aufgewertet worden seien. Dabei handele es sich um ebenso populäre wie vergleichsweise junge Begriffe, die erst seit den 1990er-Jahren im geschichtswissenschaftlichen Methodendiskurs nachweisbar seien. Ihre Popularität stehe in einem geradezu dramatischen Missverhältnis zu ihrer begrifflichen Ambivalenz. Keine der beiden Kategorien könne heute bereits als klar definiert angesehen werden, womit innerhalb der Geschichtswissenschaften eine erhebliche Unsicherheit im Hinblick auf ihre angemessene Anwendung bestehe, mit entsprechenden Rückwirkungen auf die fachwissenschaftlichen Erträge. Brechenmacher und Elvert beschrieben es daher als einen zentralen Anspruch des Workshops, einen Beitrag zur inhaltlichen Klärung beider Begriffe zu leisten.

Unter dem Titel „Turns und Tendenzen in den Geschichtswissenschaften“ legte ANNE KWASCHIK (Berlin) einen Kommentar zur aktuellen theoretischen Auseinandersetzung und dem Standort der Geschichtswissenschaft vor. In einleitenden Bemerkungen zu Modephänomenen in der Wissenschaft entwickelte sie eine Vorstellung vom Theoriewandel in der Wissenschaft. Sie grenzte den „turn“ vom „Paradigma“ ab und entwickelte unter Rückgriff auf wissenschaftssoziologische Überlegungen die These vom langsamen Theoriewandel im „wissenschaftlichen Feld“. Im zweiten Teil des Vortrags charakterisierte und historisierte sie das aktuelle „Zeitalter des Gedenkens“ und fragte nach dem aktuellen theoretischen Bindepotential und den Verräumlichungstendenzen des Erinnerungsparadigmas. Als aktuelle Tendenz stellte sie außerdem den „affective“ oder „emotive turn“ dar und fragte auch hier nach der Verortung der „emotional communities“. Sie zog die Entwicklungslinien bis zur Mentalitätengeschichte und fragte nach den Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft, einen eigenen Beitrag zu diesen Diskussionen zu leisten. Abschließend wies sie auf die Wichtigkeit der Verbindung zwischen Theorie und Praxis im Nachdenken über den aktuellen Standort der Geschichtswissenschaften hin und forderte, die Bedingungen der Wissensproduktion mit ihren Ergebnissen und den verschiedenen Konjunkturen zusammenzubringen.

Der Beitrag von JAN-HENRIK MEYER (Århus) widmete sich dem Ansatz der „Transnationalen Geschichte“, der auch international in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Meyer charakterisierte transnationale Geschichte – im Gegensatz zur europäischen und Global-Geschichte – nicht als die Geschichte eines vorgegebenen Raumes, sondern als Perspektive auf Verbindungen durch – oft national gegliederte – Räume hindurch. Welchen Raum transnationale Geschichte endlich umfasst, bleibe zunächst offen und sei letztlich empirisch festzustellen. Nach einer Darstellung der Ursprünge des Begriffs, der vor allem seit den frühen 1970er-Jahren in den Internationalen Beziehungen geprägt wurde, und der Kritikpunkte, den die Vertreter der transnationalen Geschichte gegenüber traditionellerer Geschichtsschreibung vorbrachten, wurde der Versuch einer Begriffsdefinition unternommen. Transnationale Geschichte sei also zu verstehen als die Geschichte von Interaktionen zwischen verschiedensten staatlichen und nicht-staatlichen Akteure über Grenzen hinweg. Die Strukturmuster, die in dieser Interaktion entstünden, verstanden als „Ströme“ und „Netzwerke“, seien Gegenstand transnationaler Geschichte. Meyer verdeutlichte dies am Beispiel der Forschung über transnationale Kommunikations-Ströme in der Europäischen Öffentlichkeit und transnationale Netzwerke in der Entstehung der EG-Umweltpolitik, ehe er abschließend die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen dieses Ansatzes auswertete.

JÜRGEN NIELSEN-SIKORA (Köln) betonte in seinen Ausführungen zur „Europäischen Geschichte“, Europa als Sujet philosophisch-historischer Reflexion besitze eine lange und von großen Namen getragene Tradition, die sich gegenwärtig in ungezählten Sammelbänden, Dokumentationen, Lexika, Überblicksdarstellungen, Biografien, Schul- und Lehrbüchern sowie im Internet fortschreibe. Die ersten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zum europäischen Integrationsprozess seien jedoch erst in den späten 1970er-Jahren entstanden. Walter Lipgens und die Groupe de liaison forcierten dieses Forschungsfeld. Seither habe die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fragenkomplex, der aus der vorangeschrittenen Einigung Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewonnen wurde, implizit zu einer Europäisierung der Geschichtswissenschaft geführt. Denn an die Stelle der Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, die trotz eines nachweisbaren Europadiskurses vornehmlich den Nationalstaaten huldigte, sei im 20. Jahrhundert eine europäische Geschichtsschreibung getreten, die auf das veränderte Bewusstsein, das der politische Prozess der Nachkriegszeit mit sich brachte, mit einem Paradigmenwechsel reagiert habe. Die Herausforderung in diesem Zusammenhang sah Nielsen-Sikora darin, multilaterale und multiarchivalische Aufgaben zu einer gemeinsamen europäischen Erzählung, zu einer politischen Kulturgeschichte zusammenzuführen und hierbei auch transnationale Netzwerke sowie die institutionelle Komplexität der EU und die kulturelle Vielfalt der beteiligten Akteure im Auge zu behalten. Auf die Frage, ob es derzeit so etwas wie einen European turn der Kulturwissenschaft gebe, das heißt die Erforschung der Geschichte der Ideen und Institutionen in europäischer Perspektive, gab er zu bedenken, dass die Geschichtswissenschaft von einer multiarchivalischen, multiperspektivischen Europäischen Geschichte noch relativ weit entfernt sei.

STEPHAN GÜNZEL (Potsdam / Trier) ging in seinem Abendvortrag über „Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit“ auf die Möglichkeiten ein, wie Raum in der Kultur- und Geschichtswissenschaft heute thematisiert wird, werden kann oder werden sollte. Günzel stellte die These auf, dass es in der Vergangenheit zwei fundamentale Weisen der Raumbeschreibung gegeben habe: eine possibilistische und eine deterministische, wobei erste den Einfluss von Kultur auf Natur und zweite den Einfluss von Natur auf Kultur behandelt. Letzteres dominiere noch im ‚völkischen Raumdenken‘ der Zwischenkriegs- und Kriegsjahre, weshalb es zu einer Ablehnung der Raumkategorie und einer Umstellung auf ‚das Soziale‘ nach 1945 gekommen sei. Die heutige Entdeckung des Raumes werde daher oft als eine Wiederentdeckung verstanden und mit dem deterministischen Raumbegriff gleichgesetzt. In seiner leichten Form finde sich dieser auch im Containerdenken historischer Wissenschaften, wenn dort unter Raum ein bestimmter Gebietsabschnitt – oder die unterschiedliche Maßstäblichkeit von Gebieten (‚Westen‘, ‚Europa‘, ‚Deutschland‘, ‚Bayern‘) – verstanden wird. Zwar werde hier nicht die Prägung der Kultur durch Natur behauptet, aber die Abgrenzungen und subdisziplinären Zuweisungen würden unhinterfragt (als natürliche Gegebenheiten) perpetuiert oder dabei allererst auch substantialisiert. Mit Henri Lefebvres Trialektik der Raumproduktion thematisierte Günzel hingegen eine possibilistische Sicht auf Raum, respektive das Ineinandergreifen von Natur- und Kulturproduktion, die von Lefebvre selbst auf Architektur und Stadtplanung angewandt wurde, aber auch auf die ‚Räume der Historiker‘ erweiterbar seien. Daneben stellte Günzel im Ausgang von strukturalistisch-relationalen Kulturanalysen eine topologische Methode zur Raumbeschreibung vor, welche Raum nicht mit Materie oder Natur gleichsetzt.

„Eurozentrismus und Globalgeschichte“ als „Stationen eines Paradigmas vom 18. Jahrhundert bis heute“ zu skizzieren, unternahm GÜNTHER LOTTES (Potsdam) in seinem Vortrag – und griff indes weit über diesen Zeitrahmen hinaus, indem er bis zu Herodot zurückblickte, um der Selbstverortung in Zeit und Raum als Grundbedürfnis des Menschen, durchaus vergleichbar der Gottesfrage, nachzugehen. Das Bewusstsein einer „Welt hinter der Welt“ habe sich im Sinne einer anthropologischen Konstante für das Denken und die Lebenswelt sowohl im Römischen Reich als auch im Christentum als anschlussfähig erwiesen. Dabei sei diese Tatsache nicht genuin europäisch, lasse sich doch beispielsweise in China über Epochen hinweg eine sinozentrische Perspektive nachweisen. Erst die „neue Raumerfahrung“ im Zuge der europäischen Expansion ab dem 16. Jahrhundert habe diese Vorstellung aufgebrochen und zu einer Entgrenzung des Weltbildes geführt. Seitdem konnte Universalgeschichte nicht mehr ohne Weiteres mit der Geschichte des Christentums gleichgesetzt werden, war der „Schauplatz des christlichen Heilsdramas“ nicht mehr „identisch mit der weltweiten Menschheit“. Ein eurozentrisches Geschichtsdenken habe sich als Verfahren zur Reduktion der neuen Komplexität in diversen europäischen Geschichtsphilosophien ausgeprägt und sei in Teilen bis in den Historischen Materialismus oder die Dependencia-Theorie fortgeschrieben worden. Lottes vertiefte seine Ausführungen am Beispiel der Werke Leopold von Rankes, Kurt Breysigs und Arnold Toynbees. An den welthistorischen Schriften Breysigs etwa zeige sich, dass der Autor zwar eine gleichberechtigte Berücksichtigung der „Urvölker“ postulierte und sich gleichsam als Anthropologe darstellte, jedoch durch explizite Verweise auf das Evolutionsparadigma und die Betonung einer qualitativen Differenz zwischen „Urvölkern“ und den Griechen und Römern der Antike wieder in das traditionelle Narrativ des Historikers verfallen sei. Als einen Grund für die Debatte um die Problematik des Eurozentrismus in den Geschichtswissenschaften umriss Lottes abschließend thesenartig das Bemühen außereuropäischer Historiker, wie Edward Said, um Aufarbeitung ihrer eigenen wissenschaftlichen Sozialisation, die hieraus etwa den Orientalismus als Vorwurf ableiteten.

THORSTEN BORRING OLESEN (Århus) referierte über „The Transnational Challenge to the Study of European Integration“. In seinem Beitrag, der in Zusammenarbeit mit Sara Hansen (Århus) entstanden war, unterzog er „Promises and Limitations“ dieses in den letzten Jahren einflussreicher werdenden transnationalen Ansatzes einer kritischen Analyse. Eine der profiliertesten Ausprägungen dieses Ansatzes finde sich in der wissenschaftlichen Tätigkeit der sogenannten Kaiser-school, bei der es sich um eine Gruppe jüngerer Historikerinnen und Historiker um den in Portsmouth tätigen Wolfram Kaiser handelt. Indem er die Forschungs-Programme, Projekte und Tätigkeiten dieser Gruppe vorstellte, diskutierte Borring Olesen zugleich in einem allgemeineren Rahmen die Möglichkeiten und Grenzen des transnationalen Ansatzes in der Forschung zur Geschichte der europäischen Integration. Zweifel in seiner äußerst differenzierten Auseinandersetzung mit der Kaiser-school äußerte Borring Olesen insbesondere mit Blick auf den von Kaiser vertretenen Netzwerkansatz, indem er dessen Ausschließlichkeit deutlich in Frage stellte.

Thomas Brechenmacher leitete schließlich die angeregte Abschlussdiskussion ein, indem er als Ergebnisse des Workshops pointiert festhielt, dass erstens die Postmoderne-Diskussion wohl als einziger echter Paradigmenwechsel bezeichnet werden könne, dass zweitens der Methodenpluralismus – anders als zu Zeiten der Historischen Sozialwissenschaft – heute als weitgehend akzeptiert angesehen werden dürfe und dass drittens dennoch weiterhin Konsens über Methodenkompetenz als Grundbedingung für eine tragfähige wissenschaftliche Arbeit herrsche. Jürgen Elvert fügte dem hinzu, dass eine Konzentration auf ihre tatsächlichen Fähigkeiten die Historikerinnen und Historiker vor der Gefahr einer Überforderung durch immer neue Ansprüche von außen bewahren könnte. Hierzu gehöre die klare Positionierung gegenüber Begrifflichkeiten, wie sie im Rahmen dieses Workshops diskutiert worden seien. Dieser habe, so Thorsten Borring Olesen, ferner deutlich gemacht, dass Arbeitsteilung in geschichtswissenschaftlichen Projekten in höherem Maße als bisher reflektiert werden sollte. Stefanie Coché ergänzte, es habe sich außerdem die Notwendigkeit einer Zusammenführung von Ost- und Westeuropa bei der Diskussion von historiographischen turns gezeigt. Da diese insbesondere in osteuropäischen Ländern oft anders und bisweilen gar nicht wahrgenommen würden, stelle sich die Frage nach der tatsächlichen Reichweite eines turns mitunter völlig neu. Arnd Bauerkämper zählte zu den zentralen Ergebnissen der Tagung die Erkenntnis, dass Perspektivität und Relationalität mehr Beachtung finden müssten. Das Ende der Diskussion bildete Anne Kwaschiks Fazit, dass trotz der oft überschätzten Wirkung von turns eine erhöhte Reflexivität von ihnen ausgehe. Unter den im Laufe des Workshops betrachteten Entwicklungen in den Geschichtswissenschaften schien ihr die Auseinandersetzung mit dem Raum als Analysekategorie besonders lohnend.

Konferenzübersicht:

Anne Kwaschik, Turns und Tendenzen in den Geschichtswissenschaften

Jan-Henrik Meyer, Transnationale Geschichte

Jürgen Nielsen-Sikora, Europäische Geschichte

Stephan Günzel, Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit

Günther Lottes, Eurozentrismus und Globalgeschichte. Stationen eines Paradigmas vom 18. Jahrhundert bis heute

Thorsten Borring Olesen, The Transnational Challenge to the Study of European Integration


Redaktion
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