HT 2010: Homo Portans – eine Kulturgeschichte des Tragens

HT 2010: Homo Portans – eine Kulturgeschichte des Tragens

Organisatoren
Annette Kehnel / Sabine von Heusinger, Universität Mannheim; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Vanessa Wormer, Universität Mannheim

„Sektion ‚Homo portans’ beim Historikertag: 14 Vorträgen [sic!] in 4 Stunden - entweder innovativ oder wah[n]sinnig“ – so twitterte es am 8. September 2010 ein Johannes W. in die Weiten des Internets. Sieht man von den für Kurznachrichten typischen Rechtschreibfehlern ab, hatte der Twitterer bereits drei Wochen vor Beginn des Historikertags einige wichtige Aspekte der Sektion Homo Portans – wohl eher unbeabsichtigt – auf den Punkt gebracht: Erstens hatte sich die Sektion unter Leitung von ANNETTE KEHNEL (Mannheim) einiges vorgenommen. Geplant waren eine Einführung und 13 Vorträge, und obwohl zwei Referenten nicht kommen konnten, waren das immer noch doppelt so viele Vorträge wie in jeder anderen Sektion des Historikertags. Zweitens fiel die Sektion aus dem Rahmen, sie übertrat wissenschaftliche Grenzen und war an vielen Stellen sicherlich innovativ. Die Verbindung von Wissenschaft und Kunst ist hier zu nennen, genauso wie die multimediale Aufstellung. Drittens drängte durch diese und andere Mittel das Projekt aktiv an die Öffentlichkeit. Dazu passt, dass ausgerechnet ein Twitterer eine erste, vorläufige Einschätzung des Projekts lieferte.

Homo Portans – der Sektionstitel ließ viel Spielraum für Assoziationen, erweckte aber vielleicht auch den Eindruck der Beliebigkeit. Deshalb provozierte er Fragen: Was soll und will das Projekt Homo Portans eigentlich sein? Was kann die Erforschung der „Kulturgeschichte des Tragens“ leisten? Annette Kehnel formulierte ihre Ambitionen: Das wissenschaftliche Projekt soll Grundlagenforschung betreiben, ein neues Forschungsfeld etablieren und dem Motto des Historikertags („Über Grenzen“) gerecht werden, sprich Grenzen überschreiten – disziplinäre, epochale und wissenschaftliche. Demgemäß hat Annette Kehnel die 11 anwesenden Referentinnen und Referenten in Berlin dazu eingeladen, aus ihrem Forschungsfeld heraus Ideen für das Projekt zu geben. Die Vorträge waren also als Impulsreferate zu verstehen, nicht als Präsentationen von Forschungsergebnissen.

Im Anschluss an die Begrüßung aller Sektionsteilnehmerinnen und –teilnehmer durch Annette Kehnel ordnete KARL-SIEGBERT REHBERG (Dresden) das Projekt Homo Portans in die Philosophische Anthropologie ein. Er leitete die Kulturgeschichte des Tragens mit einer quasi paradoxen Intervention ein, indem er das Bedürfnis nach Entlastung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte: Die Fähigkeit zu Tragen gehe einher mit Belastbarkeit, mit Belastungen und Überlastungen, die ihrerseits Entlastungsbedarf provozieren. Belastung erzeugt also Entlastungsbedarf. Und dieser werde durch ein komplexes System der Ordnungsleistungen kompensiert, das seinerseits Kultur genannt werden könne. Nicht die Leistungsfähigkeit des Homo Portans stehe demnach am Anfang der Kulturgeschichte des Tragens, sondern das menschliche Bedürfnis nach Entlastung.

Den Beginn des tragenden Menschen zeichnete SIBYLLE WOLF (Tübingen) nach: Der Homo Portans wird zunächst als Schmuckträger fassbar, zum Beispiel anhand der 40.000 Jahre alten tragbaren Frauenfiguren, die Wolf vorstellte. Als Sensation wertete die Referentin die erst kürzlich entdeckte „Venus vom Hohle Fels“1 mit eindeutig identifizierbarer Anhänger-Öse. Sie ist mit einem Alter von 40.000 Jahren die älteste bekannte Figur. „Das Phänomen, Frauenfiguren zu tragen, blieb 30.000 Jahre eine Konstante in den verschiedenen Kulturen der jüngeren Altsteinzeit“, resümierte Wolf.

Auf den von Rehberg bereits aufgegriffenen Aspekt der Entlastung aufbauend, ging MARIA HÄUSL (Dresden) in ihrem Vortrag auf tragende Gottheiten ein. Sie veranschaulichte das menschliche Bedürfnis nach Entlastung an alttestamentlichen und vorderorientalischen Texten. Anhand von Versen Jesajas rekonstruierte Häusl das Bild, wie Jahwe sein Volk Israel trägt. Hier habe sich das menschliche Urvertrauen in die Gottheit ausgedrückt, der Mensch habe vom allmächtigen Gott getragen werden wollen, sagte Häusl. Damit könne man den Gott des Alten Testamentes in die Reihe tragender Frauen und Göttinnen aus der Neuassyrischen Prophetie einreihen.

Auf einem Beispiel für die gesellschaftsstrukturierende Funktion des Tragens baute AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI (Lausanne) seine Ausführungen auf: Unter dem Motto „gerere personam Christi“ stellte er den mittelalterlichen Papst als Träger göttlicher Autorität und Macht vor. Der Papst sei nicht allein Mensch, sondern verkörpere zugleich eine Institution. In diesem Sinne ließen sich auch die päpstlichen Gewänder und Objekte interpretieren: Beispielsweise würden die Gewandfarben Rot und Weiß für Jesus Christus und die römische Kirche stehen. Der Papst trage also die Kirche, und bei dieser Vorstellung handele es sich um das Selbstverständnis der mittelalterlichen Päpste.

Um ein profaneres Tragen ging es SABINE VON HEUSINGER (Mannheim): Sie beleuchtete die mittelalterliche Stadt als Mikrokosmos von Warenträgern, in dem der Homo Portans allgegenwärtig gewesen sei. Ohne ihn wäre der Warenstrom abgerissen. Sabine von Heusinger differenzierte zwischen zwei Gruppen: den Trägern mit und ohne Hilfsmittel. Am Beispiel von Straßburg konnte sie zeigen, dass die Fasszieher zwar zu den ärmeren Zünften gehörten und ihre Mitglieder eher sozial niedrig stehend waren, dennoch waren sie die längste Zeit im Mittelalter im Rat vertreten. Zudem lassen sich einzelne Fasszieher nachweisen, die nicht nur Ratsherren waren, sondern auch über ansehnliches Vermögen verfügten. Der Platz des Homo Portans in der mittelalterlichen Stadt müsse deshalb erst noch umfassender untersucht werden.

Ein „dunkles Kapitel in der Geschichte des Homo Portans“ (Kehnel) eröffnete JÖRG WETTLAUFER (Kiel) mit seinem Vortrag über das Tragen als Schandstrafe im Mittelalter. Frauen, die sich der üblen Nachrede oder des Zanks schuldig gemacht hatten, seien bestraft worden, indem sie einen 10 bis 50 Kilogramm schweren Schandstein durch die Stadt tragen mussten. Der Referent bezeichnete dies als „rechtshistorische Kuriosität, über deren Ursprung wir bislang nur Vermutungen anstellen können.“ Erste Belege fänden sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Hennegau und in Luxemburg bzw. Nordfrankreich; der Ursprung der Strafe könne im mittelalterlichen „Hundetragen“ gelegen haben. Besonders interessant war Wettlaufers Interpretationsansatz: Die Steine stünden als Zeichen des Schweigens und dienten gerade deshalb als passendes Bußwerkzeug für die weibliche „Zungensünde“.

PETER STEINBACH (Mannheim) führte den Aspekt des Tragens als Strafe für das 20. Jahrhundert weiter, nachdem er auf die enormen Entlastungsleistungen des Menschen hingewiesen hatte: Räder, Flaschenzüge, Tragekörbe, Kräne, Kiepen, Hebel, Fuhrwerke, Maschinen. Mit dem „Zivilisationsbruch von 1933“ habe das Tragen als Strafe und Schande eine neue Dimension erlangt. So seien in nationalsozialistischen Arbeits- und Konzentrationslagern Regelverstöße dadurch geahndet worden, dass die Häftlinge willkürlich schwere Lasten tragen mussten. „Diese Strafen zielten auf die Demütigung der Menschen“, fasste der Referent zusammen. Hinter ihnen habe der nationalsozialistische Gedanke der „Vernichtung durch Arbeit“ gestanden. Immerhin: Einzelnen sei es gelungen, durch das Ertragen der ihnen aufgebürdeten Lasten ihre Würde zu bewahren, was Steinbach einen Bogen zu Camus’ Sisyphos spannen ließ.

Auch im Vortrag von JOHANNES PAULMANN (Mannheim) haftete dem Homo Portans eine gewisse Bedeutungsschwere an: Der Referent zeichnete unsere Sicht auf das Tragen im Kolonialismus nach. Klar sei: Kolonisation war am Ende des 19. Jahrhunderts in Afrika nur durch einheimische Träger möglich, „koloniale Herrschaft beruhte in der Praxis auf der Arbeitskraft der Kolonialisierten“, so Paulmann. Gleichzeitig verwies der Referent auf den Mythos der „Bürde des weißen Mannes“, den Rudyard Kipling 1899 in seinem Gedicht „The White Man’s Burden“ geprägt hat. „Die Zivilisationsmission erscheint hier als schwere Last, die Europäer und Amerikaner auf ihren Schultern tragen“, sagte Paulmann. Damit habe man eine Legitimationsformel für die Kolonisation konstruiert. Der Referent spannte schließlich einen Bogen, wie dieser Legitimationsversuch von Anfang an kritisiert wurde und aktuell um den Faktor einer misslungenen Entwicklungshilfe erweitert wird.2

SIGRID SCHMITZ (Freiburg) beschäftigte sich in ihrem Vortrag ausgehend vom Gender-Aspekt mit der Frage, ob der Homo Portans eine Frau gewesen sei. Diese Annahme würden gängige Forschungsmeinungen zur kulturellen Evolution des Menschen nahelegen. Schmitz stellte diese Theorien zum Ursprung der geschlechtlichen Arbeitsteilung vor und arbeitete heraus, wie stark unsere Geschlechterbilder durch ebendiese Narrationen produziert wurden. „Men the Hunter“ und „Women the Gatherer“ sind nur zwei jener Vorstellungen der Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, die mehr über zeitgenössische Geschlechterbilder aussagen, als über die Realität in der Jungsteinzeit.

Mit einer spezifisch weiblichen Form des Tragens überraschte MIRJAM MENCEJ (Ljubljana) ihre Zuhörer: Sie spannte einen Bogen von Egbert von Lüttich, Fecunda Ratis im 11. Jahrhundert bis zu Märchen und Sagen aus Wälschtirol (1867), um die Präsenz des roten Käppchens von Rotkäppchen als gängigen Motivs in weltweiten Erzähltraditionen aufzuzeigen und dessen Bedeutung zu interpretieren: So stehe das rote Käppchen als Symbol der Unschuld und erhalte eine sexuelle Implikation (genauso wie andere Symbole, beispielsweise die Blumen, die Rotkäppchen der Großmutter bringt).

Als letzter Impulsgeber der Sektion widmete sich CHRISTIAN HOLTORF (Dresden) dem Anliegen des Projekts Homo Portans, sich der Öffentlichkeit zu öffnen. Die Wissenschaft suche in der Öffentlichkeit nach Bedeutung und Anerkennung, was im Falle von Homo Portans laut Holtorf einen Widerspruch darstelle – gehe es in diesem Projekt doch gerade um das Phänomen des Tragens. Der Referent bot zwei Lösungsansätze an: Zum einen könne das Projekt den Fokus statt auf das „portare“ auf das „narrare“ legen, zum anderen könne man auch vom „homo portans portatus“ sprechen. Somit wäre dem Bedürfnis, eine wissenschaftliche Erzählung zu liefern und neben dem Tragen auch die Entlastung zu thematisieren, Rechnung getragen. Insgesamt ordnete Holtorf das Projekt Homo Portans in eine „Geschichte des Vergnügens an Forschung“ ein und bezeichnete es als ein interessantes neues Forschungsfeld.

Doch das Projekt Homo Portans, dessen Vorträge rege Diskussionen auslösten, beschränkte sich nicht allein auf die Wissenschaft: Vielmehr besteht eine Besonderheit des Projekts darin, die wissenschaftliche Perspektive durch die Zusammenarbeit mit der Kunst zu erweitern und neue Wege der Interaktion zu erproben: Eine kunstvoll gestaltete Broschüre fasste das Sektionsvorhaben attraktiv zusammen, die neue Website3 stellte das Projekt ausführlich vor, via Facebook konnte man „Fan“ von Homo Portans werden. Kurz vor Beginn der Sektion schlüpfte das Team sogar selbst in die Haut des Homo Portans und prozessierte mit Kunstobjekten der Künstlerin ANJA SCHINDLER (Klotten) durch die Humboldt-Universität zu Berlin, um die Aufmerksamkeit auf die Mannheimer Veranstaltung zu lenken. Vor dem Hörsaal wogen die Mitarbeiter der Sektion die Taschen der Besucher und sensibilisierten damit für das persönliche Trageverhalten. Die Kunstobjekte von Anja Schindler zierten den Hörsaal, eine Posterpräsentation von Trageprotokollen der Architektursoziologin ULRIKE SCHERZER (Dresden) verbreitete museale Stimmung. Was in Berlin begann, soll im Mai 2011 in einer gemeinsam mit dem Deutschen Hygiene-Museum in Dresden geplanten Tagung fortgesetzt werden. Bis dahin hält Homo Portans via Homepage und Facebook den Kontakt zum Publikum.

Sektionsübersicht:

Annette Kehnel (Mannheim): Einführung

Karl-Siegbert Rehberg (Dresden): Keynote: „Der Homo Portans, seine Natur und seine Stellung in der Welt“ – Anmerkungen zum Thema aus Sicht Arnold Gehlens

Sibylle Wolf (Tübingen): „Tragbare“ Frauenfiguren aus ganz Europa – Anhänger aus der Altsteinzeit

Maria Häusl (Dresden): Tragende Gottheiten im alttestamentlichen und vorderorientalischen Kontext

Agostino Paravicini Bagliani (Lausanne): gerere personam Christi: Der Papst als Träger göttlicher Autorität

Sabine von Heusinger (Mannheim): Fasszieher und Karrer – Warenträger in der mittelalterlichen Stadt

Jörg Wettlaufer (Kiel): Das Steintragen als Schandstrafe für Frauen im Mittelalter

Peter Steinbach (Mannheim): Tragen als Strafe im 20. Jahrhundert

Johannes Paulmann (Mannheim): The White Man’s Burden. Der Homo Portans im Kolonialismus

Sigrid Schmitz (Freiburg): Tragen ist Frauensache und die Erde ist eine Scheibe

Mirjam Mencej (Ljubljana): Bonnets, hoods and hats in history and folklore: Little Red Riding Hood as an example

Christian Holtorf (Dresden): Der Homo Portans in Wissenschaft und Öffentlichkeit

Posterpräsentation
Anja Schindler (Klotten): Erfahrungen von den „Etruskern in Bonn“
Ulrike Scherzer (Dresden): Homo Portans im Museum – eine Potentialanalyse

Anmerkungen:
1 <http://homo-portans.de/2010/die-venus-vom-hohlen-fels-als-der-homo-portans-zu-tragen-begann/> (08.12.2010).
2 William Easterly, The White Man’s Burden: Why the West's Efforts to Aid the Rest Have Done So Much Ill and So Little Good, 2006.
3 <http://www.homo-portans.de> (08.12.2010).