Capturing the Political – Analyzing Power beyond the State / Das Politische Jenseits des Staates

Capturing the Political – Analyzing Power beyond the State / Das Politische Jenseits des Staates

Organisatoren
Daria Isachenko (Universität Magdeburg); Ina Kerner (Humboldt-Universität zu Berlin); Klaus Schlichte (Universität Bremen)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.10.2010 - 23.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Kai Koddenbrock, Berlin

Eine innovative Analyse des Politischen in der heutigen Welt zu befördern, war das ambitionierte Ziel dieser interdisziplinären Konferenz. Um sich dieser Ambition zu stellen, hatten Daria Isachenko (Universität Magdeburg), Ina Kerner (Humboldt-Universität zu Berlin) und Klaus Schlichte (Universität Bremen) vom 21. bis 23 Oktober 2010 WissenschaftlerInnen aus Kanada, Zypern, Kasachstan, Großbritannien und Deutschland an die HU Berlin geladen. Die Verbindung von Politischer Theorie, den Internationalen Beziehungen und der Sozialanthropologie versprach überraschende Einsichten. Obwohl die Konferenz vor allem auf eine Bereicherung der Theorie der Internationalen Beziehungen und der Soziologie des Staates zielte, oszillierte die Debatte während der drei Tage auch um zwei noch grundlegendere Komplexe: Erstens, die Selbstvergewisserung der politikwissenschaftlichen Disziplin, deren Herzstück – das Politische – nebulös bleibt, und zweitens, den Stellenwert und Ort der Normativität in der politikwissenschaftlichen Analyse.

Unterschiedlich deutlich positionierten sich die vielfältigen Beiträge dazu, die im Unterschied zu vergleichbaren Konferenzen elegante Brücken zwischen Empirie und Theorie, zwischen Feldforschung und Bibliophilie schlugen. Es gelang jedoch nur bedingt, die Beiträge, die sich primär mit dem Politischen beschäftigten, mit denen, die sich um den Staat oder die Performanz der Staatlichkeit drehten, zu verbinden. So war mal der Staat politisch oder es endete das Politische, sobald der Staat ins Spiel kam. Diese konfligierenden Analysen erneut zu vertiefen, könnte ein vielversprechendes Folgeprojekt sein.

REGINA KREIDE (Gießen) eröffnete den ersten Tag der Konferenz zum Thema „Konzepte des Politischen“ mit einem theoriegeschichtlichen Überblick über die Vorstellungen von Politik und dem Politischen seit Aristoteles. Strukturiert um die Begriffspaare Politik als Handlung vs. Insitution und Politik als Prozess der Einigung vs. der Stabilisierung des Dissenses vermittelte sie Einblicke in die Theorien Arsitoteles‘, Ciceros, Arendts, Parsons, Luhmanns, Rawls und Mouffes. In Abgrenzung zu diesen mündete ihr Vortrag in ein Plädoyer für eine kritische Theorie der Politik. Diese solle die realen Partizipationshürden in den Blick nehmen und Ungerechtigkeiten und Ausbeutung ernst nehmen. Der Glaube an Recht und Institutionen solle durch die Erkenntnis ersetzt werden, dass Politik und Demokratie ein Chaos seien, in der weder Einigung noch Dissens stabil seien. Diversität und Konflikt seien die Konstanten, an denen es sich durch das Erschüttern von Institutionen zu beteiligen gelte. In der Diskussion des Vortrages drängte sich die Frage nach der Artikulation von Protest im globalen Maßstab auf: Wie solle man Protest in der Weltgesellschaft artikulieren, wenn es keinen Weltreichstag gebe, vor den man ziehen könne? Gebe es global ein offenes oder besetztes politisches Zentrum? Doch auch diese Überlegungen würden in Frage gestellt, denn die Suche nach einem globalen Machtzentrum sei erneut in klassischen Verständnissen von Macht gefangen.

STEFANIE ORTMANN (Sussex) näherte sich dem Politischen über eine diskurstheoretische Analyse der performativen Macht des russischen Staates. Mithilfe ihres Begriffes der hyper-westphälischen Macht versuchte sie zu zeigen, wie es den Präsidenten Russlands von Jelzin über Putin bis Medwedew gelang Russlands globale Wahrnehmung als Großmacht zu erhalten. Sie waren sogar so eroglreich, dass sie heute im Konzert mit China in der Lage seien, in Konkurrenz über das Wesen einer Großmacht zu treten, indem sie das Konzept der „verantwortlichen Großmacht“ in Zweifel zögen.

Wegen Streiks in Paris konnte Jean François Bayart (Paris) seinen Vortrag über das Politische bei Gramsci und Foucault in Afrika nicht halten. Einer der Organisatoren, KLAUS SCHLICHTE (Bremen), sprang ein und präsentierte seine eigenen Thesen angereichtert mit den Kernaussagen Bayarts. Indem er Weber und Foucault zusammenführte, argumentierte Schlichte, dass Herrschaft gleich Macht plus Legitimität plus Disziplinierung sei. Das Politische passiere im Übergang von Macht zu Herrschaft. Herrschaft sei zudem von einer Stabilität gekennzeichnet, die daraus resultiere, dass die Form der politischen Ordnung und die existierenden Subjektivitäten korrespondierten. Das Erforschen von Subjektivitäten sei neben Foucaults Subjektivierungsanalysen über das Webersche Konzept der Lebensführung zu leisten. Schließlich wendete sich Schlichte gegen die Omnipräsenz von Widerstand in Foucaults Machtverständnis, denn es gebe keinesfalls immer Widerstand. Wenn wir glaubten, wir seien am freisten, seien wir möglicherweise im Gegenteil besonders beherrscht.

Der zweite Tag zum Thema „Investigating the Political“ begann mit einem Impulsreferat BENJAMIN HERBORTHs (Frankfurt am Main). Er widmete sich zunächst dem Titel der Konferenz genauer und stellte fest, dass es ein Paradoxon sei, das prozesshaft sich bewegende Politische erfassen zu wollen. Gerade diese Paradoxie mache jedoch diesen Versuch so anregend. Dennoch sei die Absicht, ein stabiles Fundament zu errichten, zum Scheitern verurteilt, denn die Befestigung von Bedeutung sei nie endgültig. Man könne jedoch studieren, wie sich diese Befestigung vollziehe. Zur Renaissance Carl Schmitts übergehend, verglich er die Weimarer Republik mit heute, denn der Liberalismus sei damals wie heute in der Krise gewesen. In der angeregten Diskussion unter der TeilnehmerInnen kristallisierten sich zwei wissenschaftstheoretische Reaktionen darauf heraus: Erstens, die begriffliche Kontingenz erhalten, um Raum für Politik im Neoliberalismus zu bewahren. Zweitens, eher klare normative Grundlagen schaffen in unserer Zeit großer Kontingenz, um zielgerichtetes politisches Handeln zu ermöglichen.

CHAD THOMPSON (Thompson, Canada) lieferte in seinen „Kaptialistischen Kosmologien“ einen Beispiel dafür, wie eine kritische Theorie des Politischen für die Erforschung empirischer Phänomene fruchtbar gemacht werden kann. Sein Versuch „to theorize from a place, in my time” mündete in eine polit-ökonomische Analyse seiner Universitätsstadt Thomspon, im Staate Manitoba im Norden Kanadas. Diese bestehe aus drei Thompsons: Einer Stadt für Luxus-Reisende, einer Stadt als Servicezentrum des kanadischen Nordens und einer Migrantenstadt undokumentierter Aboriginals. Im Kontext der akuten Wohnungsnot in der Stadt prallten im Konflikt um den Bau eines neuen Campus mit Familienwohnungen zwei Kosmologien aufeinander, die der Aboriginals und die der später eingewanderten Kanadier. In diesem Konflikt um die Macht, Thompson zu repräsentieren, öffne sich ein Arendtscher Moment des Politischen im Erscheinungsraum, dessen staatliche Schließung jedoch vorherbestimmt sei. Der kanadische Staat folge adminstrativen Prozeduren, die die Kosmologie der kanadischen „nations“, also der anerkannten Aboriginals, benachteilige.

Nach dieser fokussierten Annäherung an das Politische folgten zwei Vorträge, die sich eher der Empirie der Staatlichkeit widmeten. DARIA ISACHENKO (Magdeburg) stellte sich die Frage, wie informelle Staaten trotz fehlender internationaler Anerkennung praktisch funktionieren. Anhand der Beispiele Nordzypern und Transnistrien zeigte sie auf, dass auch ohne offizielle Staatlichkeit Staatshandwerk (statescraft) verrichtet werde. Angelehnt an Michel de Certeaus Konzeption von Strategien und Taktiken analysierte sie die ambivalente Beziehung der beiden informellen Staaten zu ihren „Mutterländern“, die sowohl ermöglichend als auch beschränkend sei. Deswegen seien sie nicht nur isolierte, geopolitsche Spielbälle, sondern aktive Teilnehmer an der internationalen Politik.

Warum der sogenannte virtuelle Staat ein solches Beharrunsvermögen habe, fragte sich JOHN HEATHERSHAW (Exeter). In seiner Diagnose erscheint der Staat in Zentralasien als schwach und stark zugleich. Wie könne es sein, dass er formell resilient und informell von nicht-staatlichen Akteuren gekapert sei, fragt er sich. Für Heathershaw war das ein theoretisches Rätsel: Wie wird die Staatsform erhalten, während der Staatsgehalt fehlt? Aufrgund des Einflusses der Poststrukturalisten auf das aktuelle politische Denken identifizerte er eine konzeptionelle Hegemonie der Form, die es ermögliche, dass ein performativ-diskursiver Staat erhalten bleibe. Um die Praktiken des Staates zu sehen, müsse man ihn im Sinne Abrahams entmystifizieren.

Angelehnt an James Scotts Konzept der Infrapolitics, beschloss COSTAS CONSTANTINOU (Nikosia) den zweiten Konferenztag. Scotts wissenschaftliche Arbeit widme sich Themen, die nicht politisch aufgegriffen werden und insbesondere der Frage, warum dies nicht geschehe. Mithilfe eines von ihm mitkonzeptionierten Dokumentarfilmes über die Gemeinde Kormakitis illustrierte Constantinou seinen Ansatz. In diesem Zentrum der christlich-maronitischen Gemeinde Zyperns, in der noch Arabisch gesprochen wird und die eine besondere Beziehung zum Libanon hat, analysiert er die täglichen Kämpfe und Ausweichstrategien, die im geteilten Zypern für manche Minderheiten nötig seien. Dies sei kein offener Widerstand, sondern de Certeausche Kämpfe und Taktiken, die im Begriff der Infrapolitics von Minderheiten gebündelt werden könnten. Diese Kämpfe seien politisch unsichtbar, da sie nicht in politischen, sondern in kulturellen Begriffen gerahmt und damit exotisiert würden. Auf die Frage hin ob die maronitischen Kämpfe politisch relevant seien, denn „Does it matter if a peasant farts in the presence of the President“ (Charles Tilly) unterstrich Constantinou seine Haupterkenntnis: Die Legitimität von Herrschaft, die vorgeblich existiere, sei manchmal schlicht nicht gegeben.

Am dritten und letzten Tag der Konferenz zur „Globality of Concepts“ sollte das Augenmerk explizit auf den transnationalen Raum des Politischen gelegt werden. DIETER KERWER (München) untersuchte zu diesem Zwecke das Regelnfolgen und die Welt der Standards. Diese EU-, UN- oder Basel III-Standards seien hochinteressant, da sie transnational und jenseits des Staates operierten, denn Adressaten seien nicht nur Staaten, sondern auch Firmen und Individuen. Die versteckte Macht der Standards liege in der Autorität der Expertise, dem Schwarmeffekt nach der Anerkennung der Standards durch wichtige Akteure und der globalen Legitimität, die ihnen zugemessen werde. Dennoch seien Standards nicht immer ein Instrument der Macht, denn Standardsetzer könnten auch versagen. Die Effekte der Standardsetzung seien folgende: Sie kreierten einen transnationalen Raum, wirkten depolitisierend, da sie einigermaßen versteckt operieren, und schafften struktrelle Hindernisse zur Repolitisierung standardisierter Themen. Wenn diese Depolitisierung ineffektiv sei, passiere Politisierung anderswo. So werde nun beispielsweise im Rhamen der G20 statt den UN über globale Fragen diskutiert. Standardsetzung könne jedoch auch Methode sein, um politischem Konflikt zu entgehen. So seien beispielsweise die EU-Standards des Gemeinsamen Marktes ein äußerst effektives politisches Instrument gewesn, obwohl sie sich in technisch-ökonomische Begriffe gekleidet hätten. In der Diskussion wurde deutlich, dass zur Repolitisierung eines Themas die öffentliche Debatte essentiell ist. Der Vergleich der Aufmerksamkeit, die dem Klimawandel und der Finanzkrise geschenkt werde, illustriere dies.

Zum Abschluss der Konferenz stellte INA KERNER (Berlin) ihre Überlegungen zur globalen Gouvernementalität vor. Am Beispiel der Frauenbewegung in Guatemala identifizierte sie eine Transformation der Zivilgesellschaft durch ihre NGO-isierung. Diese NGO-isierung mache aus einer Bewegung ein Instrument der technischen Beratung. Dies habe den Effekt, dass diese AktivistInnen nicht mehr als BürgerInnen sondern als ExpertInnen von Staat und IGOs adressiert und zudem subkontrahiert würden. Dieses Phänomen sei mit Foucaults Begriff der Gouvernementalität besser als mit der governance-Terminologe zu ananlysieren. Der NGO-Boom bedeute in Foucaults Begriffen immer empowerment und Unterwerfung und Subjektivierung zugleich. Man müsse also weiteren Raum für Partizipation schaffen. Nancy Fraser habe die Barrieren dafür jedoch klar gezeigt. Zudem gebe es Macht-Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden, denn der Norden gebe das Geld. Die Hoffnung bestehe darin, dass Macht immer von der Möglichkeit zum Widerstand begleitet werde. In dieser Ambivalenz sah Kerner die Potentiale für NGOs in Guatemala.

In der Abschlussdiskussion resümmierten die TeilnehmerInnen aus der Vielzahl der Diskussionen, dass zwar eine Internationalisierung des Politischen zu verzeichnen sei, es ein Jenseits des Staates aber nicht gebe. Der Staat bleibe zumindest als Bezugspunkt oder Gegner des Politischen immer erhalten. Die grundsätzliche Frage, ob man nun einen hinreichend präzisen aber ausreichend flexiblen Begriff des Politischen überhaupt brauche, blieb in der Masse der möglichen Vorstellungen des Politischen eher unbeantwortet. Ob das Politische das Kontingente, das Umstrittene, ein Moment der Öffnung oder Schließung, die soziale Seinsweise, ob es die Herstellung verbindlicher Entscheidungen oder das Erschüttern bestehender Institutionen ist, wird weiterhin zu fragen sein.

Konferenzübersicht:

The concept of the political
Chair: Daria Isachenko
Opening remarks:
Ina Kerner, HU Berlin; Klaus Schlichte, University of Bremen
Politicization: changing semantics of the “political” in political theory.
Regina Kreide, Justus Liebig University, Giessen
The state beyond the state? The Russian state as essentially contested concept.
Stefanie Ortmann, University of Sussex
Power and domination – a convergence of perspectives in political sociology?
Klaus Schlichte, University of Bremen

Concepts of the political in contest
Chair: Ina Kerner

Opening statements:
Benjamin Herborth, University of Frankfurt am Main

Investigating the political
Chair: Ina Kerner

Capitalist Cosmologies: minor urbanism in and against Canada
Chad Thompson, University College of the North, Manitoba/Canada
The making of informal states: how Northern Cyprus and Transdniestria poach the territory of sovereign states
Daria Isachenko, University of Magdeburg
Fantasies of politics: rethinking signs of the state in Central Asia
John Heathershaw, University of Exeter
Infrapolitics in the Cyprus Conflict
Costas Constantinou, University of Nicosia

Summary and discussion, Input: Klaus Schlichte

The globality of concepts
Chair: Klaus Schlichte

Following rules: global standards as hidden power
Dieter Kerwer, TU Munich
Transnational cooperation and the effects of global governmentality
Ina Kerner, HU Berlin

Summary and discussion with opening statements by:
Benjamin Herborth, Goethe-University, Frankfurt am Main
Klaus Schlichte, University of Bremen


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