Villa in Suburbia. Wohn- und Lebensformen des Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin im Metropolenvergleich. Konferenz zu Ehren von Julius Posener

Villa in Suburbia. Wohn- und Lebensformen des Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Berlin im Metropolenvergleich. Konferenz zu Ehren von Julius Posener

Organisatoren
Arbeitsstelle für europäische Stadtgeschichte (TU Berlin)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.10.2003 - 05.10.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Jochen Guckes, Humboldt-Universität zu Berlin

[Dieser Tagungsbericht erscheint auch im nächsten Heft der "Informationen zur modernen Stadtgeschichte" (2/2003)]

Nicht nur die größte Mietskasernenstadt der Welt, sondern auch die größte Villenstadt der Welt - diese Charakterisierung Berlins um die Jahrhundertwende durch den großen Architekturhistoriker Julius Posener war der Ausgangspunkt einer Konferenz, die Heinz Reif an der TU Berlin vom 3. bis zum 5. Oktober 2003 organisierte. Er griff damit ein in Deutschland mit Blick auf geschichtliche Fragestellungen noch immer eher schwach erforschtes Thema auf, die Suburbanisierung. 1 Die Debatte über deren Ursachen, Formen und Folgen wird meist von gegenwarts- und zukunftsorientierten Sozialwissenschaftlern dominiert, die historische Perspektive bleibt in der Regel außer betracht. 2 Daneben gilt das Augenmerk häufig der angelsächsischen Entwicklung, deutsche oder kontinentaleuropäische Beispiele stehen eher im Hintergrund. Diesem Mangel an historischer Unterfütterung sollte die Berliner Tagung ein Stück weit abhelfen. Suburbanisierung wurde hier zudem nicht als ein von den Mittelschichten vorangetriebener Prozeß vor allem des Zwanzigsten Jahrhunderts gesehen, sondern mit ihren historischen Wurzeln und entscheidenden Prägungen durch das Großbürgertum im 19. Jahrhundert in Perspektive gesetzt. Im Mittelpunkt der Überlegungen stand die erste wichtige Phase der deutschen Entwicklung, die Bildung von Villenkolonien durch das städtische Bürgertum, das die Zentren zugunsten der Peripherie verließ. Diese Einordnung des Themas verdeutlicht die Bedeutung der Definition des Begriffs Suburbanisierung und seiner präzisen Abgrenzung. 3 Erweiterungen der Innenstädte, die Eingemeindung von umliegenden Dörfern, die dann zu Kernen von Vororten wurden, oder nach 1918 neue Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus etwa gehören explizit nicht zu einer solchermaßen verstandenen Suburbanisierung. Ebenfalls außer Betracht bleiben Fragen der Eigentumsform oder der Bedeutung von Siedlungskernen und Zentralitätsfunktionen. Das Ziel der Tagung war vielmehr, wie Heinz Reif (TU Berlin) in seinem Eingangsstatement hervorhob, kulturgeschichtliche Fragestellungen in den Vordergrund zu rücken. 4 Suburbanisierungsgeschichte sei als interdisziplinär inspirierte Bürgertumsgeschichte zu schreiben, die den Gründen für den Zug des Berliner Bürgertums nach Westen, der sog. Westdrift, ebenso nachgehen solle wie den in den neuen Villenkolonien entstandenen bürgerlichen Lebensformen.

In der ersten Sektion zu "Rahmenbedingungen und Akteuren des großbürgerlichen 'Zugs nach Westen'" ging zunächst Christof Biggeleben (HU Berlin) auf die materiellen Voraussetzungen dieses Trends ein, den "neuen Reichtum" im Berlin der Kaiserzeit. Er betonte den liberalen und selbstbewußten Charakter des Berliner Großbürgertums, der auch an seinem Mäzenatentum und den Geselligkeitsformen ablesbar war und sich in den neuen Villensiedlungen manifestierte. Dieter Radicke (TU Berlin) unterstrich die Bedeutung der Verkehrsentwicklung für diese Frühphase der Suburbanisierung: erfolgreiche Villenkolonien lagen weit vor den Toren der Stadt und verdankten diesen Erfolg einem eigenen Bahnanschluß. Während die Bahngesellschaften von den Entwicklungsgesellschaften Einnahmegarantien verlangten, forderte der Berliner Magistrat den Verkehrsanschluß auch für mindere Klassen. Christoph Bernhardt (IRS Erkner) wies auf die zentrale Rolle der Berliner Terraingesellschaften für die Gründung neuer Villenkolonien hin und zeichnete ihre Entwicklung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach. Er machte drei große Schübe des Kolonienbaus aus: ab 1860, in den 1890ern und ab 1903. Die charakteristischen Phänomene waren für Bernhardt dabei einerseits eine Spannung zwischen suburbanen Villen und neuen mehrstöckigen großbürgerlichen Mietswohnhäusern (der "hochherrschaftlichen Etage") und andererseits ein Trend zur Popularisierung und Vulgarisierung der Lebensform Villa beziehungsweise Einfamilienhaus. Beispiele hierfür waren etwa die Überformung älterer Villenviertel mit mehrstöckigen Mietshäusern sowie Gesellschaften wie die Heimstätten AG, die nicht mehr in erster Linie für das gehobene Bürgertum baute. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete sich das ursprünglich großbürgerliche Ideal vom Wohnen im Grünen mit großer Geschwindigkeit. Celina Kress (TU Berlin) stellte die Architekten und Bauformen des "Zugs nach Westen" vor. Sie unterschied mehrere Phasen der Villenarchitektur. Die Stadtvilla im italienischen Stil wurde seit den 1860er Jahren von der klassischen palladianischen Villenform abgelöst, in der das Erdgeschoß mit großer Diele im Hochparterre ganz als Bühne der bürgerlichen Repräsentation diente. Die Wirtschaftsräume lagen im Souterrain und die Wohnräume in der ersten und zweiten Etage. Im wilhelminischen Kaiserreich gewann dagegen ein einfacherer Landhausstil an Einfluß, bei dem der Dialog mit Natur und Garten im Vordergrund stand: der Sockel wurde aufgegeben. In diese Linie gehörten auch die Bauten der Lebensreformbewegung, die Einfachheit und Naturbezogenheit zum Programm erhoben. Nach der Jahrhundertwende schließlich entdeckte die Architektur-Avantgarde auf der Suche nach der Moderne den Klassizismus der Zeit um 1800 wieder, bevor in der Weimarer Zeit neue radikale Raumvorstellungen zum Durchbruch gelangen konnten. In der Diskussion zu dieser Sektion wurde die Landhausbewegung als Rückzug von der Repräsentation ins Private gedeutet. Ferner wurde die sorgfältige Differenzierung nach groß- und mittelbürgerlichen Trägergruppen und ihren Wohn- beziehungsweise Lebensidealen angemahnt, ebenso wie die Beachtung von Zutrittsbarrieren in Form von Grundstücksgrößen und -preisen.

Die zweite Sektion widmete sich verschiedenen Fallbeispielen aus dem Berliner Norden und vor allem Westen. Zunächst beschrieb Heinz Reif (TU Berlin) mit einem der wenigen genuin kulturgeschichtlich ausgerichteten Beiträge das Tiergartenviertel, das erste Berliner Villenviertel, wenn auch keine Villenkolonie. Dort standen städtische und vorstädtische Mietshäuser sowie Landhäuser und Villen. Ab den 1880er Jahren fand eine verdichtende und tertiarisierende Überformung statt, in deren Zuge auch neuartige dreigeschossige palaisartige Villen für das Großbürgertum entstanden, das allerdings bereits nach 1900 weiter gen Westen zog. Reif betonte vor allem den Charakter des Tiergartenviertels als Bühne für die Inszenierung der bürgerlichen Frage nach dem "Wer bin ich?". Der Statusanspruch der Großbürger wurde sowohl in der Architektur als auch in gesellschaftlichen Praktiken manifestiert. Ein Nachteil für die Entwicklung des Viertels war die Tatsache, daß es nicht als eigene politische Gemeinde verfaßt war, in der bürgerliche Selbstverwaltung hätte geübt werden können. Tilmann Johannes Heinisch (Berlin) legte in seiner Behandlung der Villenkolonie Alsen am Wannsee den Schwerpunkt auf landschaftsgärtnerische Fragen. Insbesondere die Gesamtanlage des Viertels und die Einbeziehung des Sees in die Sichtachsen waren ihm wichtig. Karl-Heinz Metzger (Berlin) zeichnete die Entwicklung des Grunewaldviertels nach, einer der schillerndsten Kolonien Berlins. Ab 1889 wurden eigens künstliche Seen geschaffen, um gestalterische Exklusivität zu erreichen. Die politische Selbstverwaltung der eigenständigen Landgemeinde, eine eigene Schule und die Zeitung "Grunewald-Echo" charakterisierten das Viertel, seine Exklusivität wurde durch sehr große Grundstücke, zahlreiche Bedienstete und ein ausgeprägtes gesellschaftliches Leben gewährleistet. Thomas Wolfes (TU Berlin) stellte als deutlichen Kontrastfall dazu die mittelbürgerliche Siedlung Lichterfelde vor, die von der Gesellschaft des Terrainunternehmers Carstenn entworfen wurde. Hier fanden sich nur wenige Mitglieder der Oberschicht wieder und gesellschaftlich dominierten, anders als im liberaleren Grunewald, konservative Kräfte. Dorothea Zöbl (TU Berlin) schilderte anhand des Westends die Vision eines bürgerlichen Arkadiens, das mit der Anbindung an die S-Bahn auch weit vor der Stadt ausgeprägtes gesellschaftliches Leben ermöglichte. Sie zeichnete die Umzüge der Familie Lepsius nach, die dem immer weiteren Ausgreifen der Stadt nach Westen folgte und stets eine Wohnung am jeweiligen Stadtrand bezog. Felix Escher (Berlin) zeigte die Entwicklung des Landhausvororts Nikolassee zwischen Siedlung und Gemeindebildung. Den künftigen Bewohnern wurden seitens der Terraingesellschaft wesentliche infrastrukturelle Institutionen wie eigene Schule, Kirche und Friedhof vertraglich zugesichert - bei einem gleichzeitigen Verbot von Gewerbe, Lokalen und Sanatorien. Wolfgang Hofmann (TU Berlin) schließlich widmete sich den Wohnformen der Siemens-Manager um 1930. Ausgehend von der Annahme, daß auch leitende Angestellte zu einem über Selbständigkeit der Berufsausübung, gehobene Lebenslage sowie einen bürgerlichen Wertekanon definierten Bürgertum zu rechnen seien, differenzierte er zwischen "Oberbeamten" und mittlerem Management und stellte fest, daß nur wenige Oberbeamte ausschließlich in städtischen Mietsetagen wohnten, einige diese jedoch mit einer Sommervilla kombinierten. In der Diskussion wurde die Konkurrenz zwischen den einzelnen Villenkolonien betont und nach dem Verhältnis von Binnenkommunikation und Außenwirkung gefragt. Schließlich wurde der Zug nach Westen als ein Verlust von Begegnungsqualität gedeutet.

In der dritten Sektion ging es um das Leben in den suburbanen Villen, um "Raumkunst, Lebenskunst und 'moralische Botschaften'". Dietrich Worbs (Landesdenkmalamt Berlin) analysierte anhand verschiedener Villen aus dem Westend Phasen der Stilentwicklung und betonte vor allem die verschiedenen Auffassungen vom Verhältnis der Räume zueinander, zur Straße und zum Garten sowie vom Verhältnis von Privat- zu Wirtschaftsräumen und der Erschließung des Hauses durch Treppe und Diele. In der Diskussion wurde nach der Plazierung der Küche und dem Zeitpunkt des Verschwindens der anfangs obligatorischen "Damenzimmer" gefragt. Reinald Eckert (Berlin) stellte die Entwicklung vom Landschafts- zum Architekturgarten im Laufe des Kaiserreichs dar. Während bewegte Topographien, möglichst unter Einbeziehung des Sees für weite Blickbezüge, in großen Parks von bis zu 20.000 qm das Ideal bildeten, wurde auch auf viel kleineren Grundstücken dieser Stil umgesetzt. Erst um die Jahrhundertwende begannen Architekten im Zuge der Reformbewegungen frei von den Zwängen der Gartenbau-Profession eigene Vorstellungen zu entwickeln, die Haus und Garten als Einheit auffaßten und sich stärker an Barock- und Renaissance-Gärten orientierten. Der Lichtwark-Garten der Liebermann-Villa am Wannsee war laut Eckert ein Paradebeispiel hierfür. Die Diskussion drehte sich vor allem um die Rolle der gesetzlich vorgeschriebenen Vorgärten und alternative Idealvorstellungen wie verwilderte Gärten.

Sonja Günther (FH Bielefeld) behandelte am Beispiel einiger Häuser von Muthesius die Villa als großbürgerliches Gesamtkunstwerk. Die Familie stand im Mittelpunkt, Sachlichkeit und Takt waren die aus England importierten Leitbilder, die Sphären von Arbeit und Privatem blieben streng getrennt. Gleichwohl blieb das Haus offen für Besucher. Wolfgang Schäche (FH Berlin) widmete sich der riesigen Villa Arnold von Siemens am Kleinen Wannsee und ihrer baulichen Entwicklung, die er mit der Familiengeschichte in Beziehung setzte. Ernst Siebel (Berlin) stellte die Geschichte der Bankiersfamilie Mendelssohn in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu bürgerlichem Lebensstil zwischen Privatisierung und "moralischer Mission". Ausgehend von Stadthaus, Stadtrand-Villa und Landhaus der Mendelssohns unterschied er zwischen dem Salon als urbaner Geselligkeitsform und dem Diner als seinem Pendant in den Villen. Das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Ferne charakterisierte das Verhältnis der Familie zu ihren verschiedenen Häusern. In der Diskussion der Vorträge wurde nach den psycho-historischen Folgen einer Abkapselung vom sozialen Wandel in der Stadt gefragt. Zugleich wurden stärker kulturgeschichtliche Zugänge zur Thematik eingefordert, die die Inszenierungen in den Selbstdarstellungen der Großbürger kritisch hinterfragen und die zeitgenössische Kritik an den "Neureichen" ernster nehmen müsse. Gerd Kuhn (Universität Stuttgart) beschäftigte sich mit der Technisierung des Haushalts als Distinktionsmerkmal. Ausgehend von einer Fraktionierung des Bürgertums und einer entsprechenden Pluralisierung von Lebensstilen forderte er eine Berücksichtigung nicht nur der objektiven Lage, sondern auch des Bewußtseins ein: Das tägliche Bad etwa galt ursprünglich nicht als Inbegriff von bürgerlichem Komfort sondern als Privileg der Huren aus der Halbwelt. Auch nach der flächendeckenden Verbreitung von Gas und Elektrizität trat nicht etwa eine Egalisierung ein, sondern eine Distinktion über die Art der vorhandenen Geräte. Insbesondere das Recht zur Aufzugnutzung wurde in der Diskussion als Beispiel hierfür angeführt.

Die vierte Sektion behandelte Ausdifferenzierungen bürgerlichen Wohnens in Form von Grand Hotels und Badeorten. Habbo Knoch (Universität Göttingen) betonte die Notwendigkeit eines kritischen Blicks auf die Villen als "Anstalten" im Sinne Foucaults. Insbesondere die Exklusivität des Zugangs sei ein wichtiges Merkmal hierfür. Diese Exklusivität verband sie mit den Berliner Grand Hotels, die er als Miniaturen künftiger Modelle einer idealen Stadt las. Er unterschied moderne Passanten- und luxuriöse Familienhotels und verortete sie als Scharnier zwischen Geschäfts- und Privatwelt. Gunter Heinickel und Hans Christian Bresgott (TU Berlin) stellten den Ferienort Heringsdorf auf Usedom als großbürgerliches Ideal einer Meeresfrische dar. Heinickel lieferte mit dem umweltpsychologischen Begriff der komplementären Kontrastorte als Ziel einer Fluchtbewegung aus der Großstadt den theoretischen Unterbau für Bresgotts Beschreibung des mondänen linksliberal geprägten Badeorts.

In der letzten Sektion unter dem Titel "Berlin im Metropolenvergleich" wurden drei alternative Entwicklungsfälle vorgestellt, ein dezidierter Vergleich jedoch nicht vorgenommen. Dirk Schubert (TU Hamburg) zeichnete die Geschichte der Stadterweiterung Harvestehude auf dem Hamburger Klosterland nach und betonte, daß das Viertel niemals eine eigene Gebietsidentität ausbilden konnte, wohl wegen des Fehlens eines eigenen Zentrums oder einer Schule. In der Diskussion blieb umstritten, ob bei einer Stadterweiterung überhaupt von Suburbia gesprochen werden könne. Ralf Roth (Universität Frankfurt/M.) schilderte die Entwicklung des Frankfurter Westends entlang der Bockenheimer Landstraße. Während es zunächst der Wohnort erfolgreicher Minderheiten wie Juden, Katholiken und Hugenotten war, zog es zunehmend auch die Eliten der protestantischen Mehrheitsgesellschaft an. Schließlich entstand der Großteil wichtiger neuer Kultureinrichtungen in der Nähe des Westends. Der Erfolg des Viertels bildete laut Roth allerdings auch den Keim seines Abstiegs: die Verdichtung aufgrund gestiegener Preise führte zu einem deutlichen Verlust an Distinktionskraft. Hannes Stekl (Universität Wien) schließlich stellte das Beispiel des Wiener Villenvororts Währing vor. Dieser stand immer in Konkurrenz zu großbürgerlichen Mietsetagen am neugestalteten Wiener Ring und konnte sich als Wohnort der Oberschicht nie durchsetzen. Die Ringstraßengesellschaft nutzte stattdessen zwei Alternativen: entweder den Umzug mit Hausrat und Bediensteten in eine gemietete Sommerfrische oder gleich den Kauf einer ländlichen Sommerresidenz. In der Schlußdiskussion wurde noch einmal der Begriff Suburbia hinterfragt und das Spezifikum des Zugs an den Stadtrand herausgestellt. Ferner wurde darauf hingewiesen, daß sowohl in Deutschland als auch in Österreich die großbürgerliche Eigentumswohnung nicht weit verbreitet war, die "hochherrschaftliche Etage" stattdessen in der Regel von Baugesellschaften vermietet wurde.

In seinem Schlußkommentar faßte Heinz Reif (TU Berlin) noch einmal die Ziele der Konferenz zusammen und betonte, daß die Ergebnisse den Nutzen von sozialhistorischen Kategorien wie der Unterscheidung zwischen mittel- und großbürgerlichen Schichten gezeigt hätten. Er interpretierte den Zug des Bürgertums nach Westen als eine Verarmung an Kommunikation; der Nationalsozialismus etwa sei in Grunewald erst sehr spät bemerkt worden. Schließlich sei weiter nach den Ursachen der Begeisterung des Bürgertums für das Konzept der Suburbanisierung und nach den Selbstbehauptungsstrategien einzelner Villenkolonien sowie nach der Bedeutung der bürgerlichen Selbstinszenierungen insgesamt zu fragen. Den Abschluß der Tagung bildete ein Vortrag von Dietrich Worbs (Landesdenkmalamt Berlin) zur heutigen Situation des architektonischen Erbes der Villa in suburbia, in dem er Abriß, Umnutzung und Musealisierung als dominante Strategien des Umgangs mit den "Denkmälern des Bürgertums" (Robert Fishman) herausstellte.

Insgesamt hat die Tagung die Fruchtbarkeit des zeitlich und inhaltlich fokussierten Zugriffs sowohl für die Suburbanisierungs- als auch für die Bürgertumsforschung gezeigt und einen deutlichen Gewinn an ausdifferenzierten Erkenntnissen ergeben. Zugleich wurden Vor- und Nachteile interdisziplinärer Zusammenarbeit bei einer präzisen historischen Fragestellung deutlich. Die Kombination unterschiedlicher fachspezifischer Blickwinkel brachte verschiedene Sichtweisen zusammen, die jedoch bei einem stärkeren Bezug auf die eigentliche Fragestellung noch weitaus fruchtbarer hätten ausfallen können. Desgleichen wurden wichtige Desiderata für die Suburbanisierungsforschung deutlich: spätere Phasen der Suburbanisierung in Deutschland müßten mit der gleichen Intensität vergleichend erforscht werden wie der großbürgerliche Villenbau um die Jahrhundertwende. Zugleich wäre ein genauerer Bezug auf verschiedene Definitionen von Suburbia notwendig, insbesondere im Vergleich mit angelsächsischen Entwicklungspfaden. 5 Vor allem aber steht ein wirklicher Vergleich kontinentaleuropäischer Suburbanisierungsmuster im 19. und 20. Jahrhundert noch aus, der gerade für eine vergleichende Bürgertumsforschung reichhaltige Aufschlüsse über unterschiedliche Wertvorstellungen und Ideale verspricht.

Anmerkungen
1 Einen Überblick über den Forschungsstand in der Geschichtswissenschaft liefert das Themenschwerpunktheft "Suburbanisierung" der "Informationen zur modernen Stadtgeschichte" 2/2002.
2 Vgl. Klaus Brake, Jens. S. Dangschat, Günter Herfert (Hg.): Suburbanisierung in Deutschland. Aktuelle Tendenzen, Opladen 2001. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse der historischen Forschung zum Thema liefert Tilman Harlander (Hg.): Villa und Eigenheim. Suburbaner Städtebau in Deutschland, München 2001 und die fünfbändige "Geschichte des Wohnens", Stuttgart 1996 ff.
3 Vgl. Richard Harris, Peter J. Larkham: "Suburban Foundation, Form and Function", in: dies. (Hg.): Changing Suburbs. Foundation, Form and Function, London 1999, S. 1-31.
4 Vgl. auch Heinz Reif: "Villa suburbana - Berlin im europäischen Metropolenvergleich, 1870-1914", in: Lydia Bauer, Gereon Sievernich (Hg.): Reden über die Stadt. Schriftenreihe des Forum Guardini Band 10, o.O. und o.J. [Berlin 2002], S. 85-100.
5 Vgl. Harris/Larkham: Changing Suburbs.